Brief an die 18-Jährige, die meinen Namen trug
Dienstag, 30. April 2013 um 8:58Mir fällt nicht viel ein, was ich Dir aus heutiger Perspektive mitgeben könnte – ich glaube nicht an Erkenntnis von außen, auch nicht daran, dass man jemanden vor Verletzungen bewahren kann oder auch nur sollte. Die wirklich wichtigen Dinge muss man erleben.
Ich kann Dir nicht nehmen, dass Du Dich allen Ernstes für dick hältst – auch nicht mit dem Hinweis, dass Du in 20 Jahren Fotos von Dir mit 18 siehst und Dich fragst, ob man Dir diese Selbstsicht unter Hypnose eingeredet hat. Ich kann Dir nicht nehmen, dass Du am allerliebsten nicht da wärst.
Soll ich Dir empfehlen, Dich sofort unabhängiger von den Ansichten Deiner Mutter zu machen? Doch das würde nicht ankommen: Genau das hat Dir bereits Dein Freund empfohlen, der innerhalb kürzester Zeit die ungute Nähe zwischen Deiner Mutter und Dir diagnostizierte. (Du erinnerst Dich an die Geschichte mit Deinem Bett? Es war tatsächlich erst sein lapidares “Dann stell’s halt da hin”, das Dich auf die Idee brachte, Dein Bett im elterlichen Haus von der dekorativsten Stelle im Zimmer zu entfernen, das Deine Mutter eingerichtet hatte, und dorthin zu stellen, von wo aus Du den Himmel sehen kannst – was Du Dir immer gewünscht hattest.)
Vielleicht noch: Leg Dir sofort einen Hund zu, scheiß drauf, was Deine Eltern dazu sagen (brüllen); in einem halben Jahr wirst Du eh von dort ausziehen. Jetzt bist Du noch enthusiastisch (und ahnungslos) genug, Dich auf solch eine rein emotionale Lebensentscheidung einzulassen. Schon in wenigen Jahren wirst Du dazu zu vernünftig sein und nie einen Hund haben.
Vielleicht auch: Bewirb Dich nicht nur beim Donaukurier. Es gibt in München eine Journalistenschule (steht im Telefonbuch), die wahrscheinlich viel spannender ist und Dir mehr Türen öffnet. Probier’s wenigstens. Du sollst nicht erst während Deines Volontariats (ja, Du würdest die Stelle kriegen) von der Existenz von Journalistenschulen erfahren.
Auch: Frag vor dem Abitur noch alle Lehrer, die Du schätzt, nach Lesetipps. Zwar schreibst Du alles mit, was Dein Griechisch-Leistungskurs-Leiter empfiehlt. Doch andere wissen sicher auch Gutes.
Wenn Du studieren willst, und studieren ist großartig und wird Dir sehr gefallen, erkundige Dich nach einem Stipendium, sobald die ersten guten Noten kommen. Nein, das hat nichts mit Bedürftigkeit zu tun, ich weiß wie stolz Du darauf sein wirst, auch jetzt finanziell fast unabhängig zu sein. Ein Studienstipendium ist der Eintritt in ein System, das Dir ungeahnte Möglichkeiten und Kontakte erschließt. Gib Dir einen Tritt, recherchier zum Beispiel mal “Studienstiftung des deutschen Volkes”. Wenn Du im englischsprachigen Ausland studieren willst: Auch die Studierparadiese Oxford und Cambridge stehen Dir offen, Du musst Dich nur dort bewerben.
Das wahrscheinlich schwerste: Freunde Dich mit Deinem Vater an. Von ihm ist Rettung erheblich wahrscheinlicher als von Deiner Mutter, vertrau mir. Und hab Geduld mit ihm.
Allein das Befolgen dieser Ratschläge wird Dein Leben bereits sehr wahrscheinlich völlig anders verlaufen lassen. Und heute, 27 Jahre später, erfordert es völlig andere Ratschläge an die 18-Jährige.
die Kaltmamsell20 Kommentare zu „Brief an die 18-Jährige, die meinen Namen trug“
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30. April 2013 um 9:23
Sehr berührend. Gibt es davon etwas, was Sie der 18-Jährigen heute doch noch von diesen Ratschlägen erfüllen wollen, können, erfüllt haben?
30. April 2013 um 9:28
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30. April 2013 um 9:32
Nein, Preißndirndl, sie ist mir sehr fremd. Aber ich arbeite an meiner Ablehnung.
30. April 2013 um 10:56
Ich weiß ja nicht …. ich habe sicherlich viel ‘falsch’ gemacht mit 18 Jahren, aber dazu ist dieses Lebensalter ja da!!
Sicher gibt es Dinge die ich im Rückblick mit einem Kopfschütteln und einem milden Lächeln betrachte, aber im Endeffekt …. hach, wir waren sooo jung. (Und schön war die Zeit. Und anstrengend. Und aufregend. Und schön.)
30. April 2013 um 12:36
Mich erschüttert, wie natürlich und nahe liegend manche Entscheidungen sich damals anfühlten- und wie weit sie von dem weg geführt haben, was vielleicht hätte sein können.
30. April 2013 um 12:48
Dein Brief macht mich traurig. Es ist so schade, zurück zu blicken und zu denken, man hätte so einiges anders/besser machen sollen. Man kann alles irgendwie immer anders (besser?) machen.
Ich finde, es ist nie zu spät, etwas vollkommen Neues zu beginnen oder an der Verwirklichung von Träumen zu arbeiten.
Ich wünsche Dir, dass Du Dich traust, zu leuchten, egal wie andere das finden.
30. April 2013 um 13:52
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Gerne gelesen
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30. April 2013 um 14:41
Also ich war am Ende froh, dass es doch noch was zu schreiben und gar raten zu gab, der Anfang klang mir zu sehr nach erwachsener Bequemlichkeit bis Härte. Hund holen, Vater lieben, professionell ausgebildet werden, das ist doch was.
Wenn man es richtig sagt, wird das auch von den merkwürdigsten 18jährigen durchaus gehört und geschätzt und sogar umgesetzt. Ich rate hier sehr zu Mut zum Irrtum, weil Irrtum ist im Zweifel eh alles, was man denen tut.
Und so angeblich erfahrene Leute, die einem sagen, das musst Du alles selbst wissen, und sich selbst, dass sie alles wieder so machen würden… na, auf die hab ich schon als 18jähriger nicht gehört.
Ich probier das jetzt auch mal.
30. April 2013 um 16:45
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Gerne gelesen
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30. April 2013 um 17:28
Ach wie viel toller wäre mein Leben heute, hätte ich all die Fehler nicht gemacht…
Natürlich wäre vieles einfacher verlaufen, wenn man alles richtig gemacht hätte – aber ich wäre (menschlich und reifemässig) nicht dort, wo ich heute bin, wenn gewisse Dinge nicht geschehen wären. Im Rückblick denke ich, es war gut, wie es war.
30. April 2013 um 17:39
omaihhhh…
Sie h a b e n es doch schön:
Privatfrau von Beruf,
an Kunst und Kultur nippen,
Mahlzeiten fotografieren und veröffentlichen,
Sport zum sich spüren,
ärztlichen Rat einholen,
die Bloggrunde machen
und
Frühling is auch.
30. April 2013 um 20:46
Manche Parallelen sind erschreckend.
30. April 2013 um 22:59
(ich bin alleinbeherrschende mutter einer tochter und jetzt habe ich noch mehr angst alles falsch zu machen. sie sagt mit 7 auch schon, sie wollte, sie wäre nicht da. sie wollte, sie würde nie erwachsen werden. wir reden dann sehr intensiv. aber ich habe im grunde nur die möglichkeit mit selbstzweifeln ich zu sein, mich transparent zu machen und – alles falsch zu machen was geht. sonst will ja keiner diesen job)
1. Mai 2013 um 9:49
Ich bekam einen riesigen Schreck, als ich bei SpOn las:
Nanu!
Einesteils Panik: warum das denn?!!
Dann wieder Bewunderung: der Blog vorspeisenplatte.de ist SpOn eine Meldung wert.
Aber: Essig. Gottseidank! Die normalste Bloggerin der Welt macht weiter. Phewww.
http://www.spiegel.de/wirtschaft/soziales/konflikt-im-einzelhandel-reform-des-tarifvertrags-sorgt-fuer-zuendstoff-a-897098.html
1. Mai 2013 um 12:06
Die ewige Mutterangst, alles falsch zu machen, bleibt jahrzehntelang erstaunlich lebendig.
Und die dusselige Tochtersorge, es den Vätern/Müttern recht machen zu müssen???
Die weist den falschen Weg – und doch kommen wir aus beiden Fallen auch wieder raus.
Es ist nie zu spät, selbst zu wollen, was wir wollen.
1. Mai 2013 um 16:57
@andre thiele
Ha, ich kannte noch eine Kaltmamsell, zumindest nannte sie sich so in der Küche des alten Grandhotels. Oder auch einfach Lotti. Sie hatte eine hochtoupierte Blondfrisur und schminkte sich täglich das einst sicher sehr hübsche Gesicht mit Verve, schlappte immer lässig zurückgelehnt in ihrem weißen Kittel mit ihren (mindestens) nackten Armen und Beinen in Holzkleppern durch die Katakomben des alten Hotels.
Die stete Kippe im Mundwinkel legte sie am Eingang zur Küche immer auf die Kante vom Warmhalteschrank, wenn sie kurz mit ihrer sandgestrahlten Stimme bellte, was es heute fürs Personal zum Essen gebe; denn das war ihr Job, den wir sahen: ab 12 aus dem Warmhalteschrank den Kellnern, Concierges, Piccolos, Fahrstuhlführern ihr Essen auf den Teller zu schöpfen.
Den Morgen verbrachte sie oben in der Kaffeeküche, von wo wir nur hörten, wie sie sich ständig mit dem Koch aus Colombo stritt, der am Buffet die Eier briet und diese ihn zutieftstverstörende Frau wie aus einem de-Sica-Film mit stoischer Sturheit zu ignorieren versuchte.
Was sie sonst den ganzen Tag machte – wir wussten es nicht. Aber sie tat es mit einer solchen Selbstverständlichkeit, dass wir lieber nicht weiter fragten. Aber Verdi ist ihr nun wohl draufgekommen.
1. Mai 2013 um 21:27
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2. Mai 2013 um 7:34
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5. Mai 2013 um 13:47
Mir fiel mit 18 auch nichts anderes ein, als Lehramt zu studieren, und ich habe auf Umwegen erfahren, wie viele Alternativen es gibt. Aus der Sicht der 65-jahrigen würde ich der 45-jährigen jetzt sagen, du hast auch jetzt noch Zeit, das Ruder rumzureißen. Das weißt du aber schon.
11. Februar 2019 um 18:38
Was ist denn ein Kommentaromat?
Schöne Idee sich auf so eine ungewöhnliche Art an sich selbst zu erinnern.
LG Andrea