Archiv für Juli 2014

Bachmannpreis 2014, Tag 1

Donnerstag, 3. Juli 2014

Der gestrige Tag 0 war der mit Ankunft (problemlos) und Eröffnungsveranstaltung im und vor dem ORF-Studio. In die Feierei im Garten vor dem ORF-Studie regnete es kräftig und ausdauernd, dafür freute ich mich außerordentlich über die neuen Bachmannpreis-Schlachtenbummlerinnen Isa und Pia, zumal ich letztere nach vielen, vielen Jahren gegenseitigen Lesens nun endlich in derselben Atemluft antraf.

Die zentrale Nachricht: Bachmannpreiskandidatin Karen Köhler war an Windpocken erkrankt, durfte wegen Ansteckendheit nicht anreisen und war somit als erste Klagenfurter Kandidatin überhaupt jemals wegen Krankheit aus dem Bewerb ausgeschieden. (Ja, alle technischen Möglichkeiten wurden ausgelotet, doch die Statuten und damit die Juristen bestanden auf physischer Anwesenheit.)

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Zu Tag 1 stand ich diesmal so zeitig vor den Studiotüren, dass ich bei Öffnung kurz nach halb 10 locker einen Sitzplatz bekam. (Der Rest der mir bekannten Bachmannpreis-Schlachtenbummler sah sich die Lesungen im Café am Lendhafen an.)
Bislang war mir die Dekoration des Studios zu dieser Show völlig gleichgültig gewesen, doch diesmal ist sie so hässlich, dass sie sogar mir auffiel.

Zusammenfassung der ersten Leserunde: Nur ein Text, den ich als typisch Klagenfurt einordnen würde (der von Tobias Sommer), ansonsten alles konventionell erzählt.

Zwei Jurymitglieder waren mir neu: Juri Steiner hätte ich mehrfach gerne ob seiner jungen Niedlichkeit in die Wange gekniffen, aber zur Diskussion hatte er noch nichts Erhellendes beizutragen. Arno Dusini war neu in der Jury. Ich verstand seine ersten Wortmeldungen nicht mal ansatzweise, er hätte gradsogut Arabisch sprechen können. Das wenige, was ich in späteren Wortmeldungen mitbekam, waren halbe Sätze und Gedankenfetzen.

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Der erste Text war „Die fröhlichen Pferde von Chauvet“ von Roman Marchel, für mich der beste des Tages. Wir erlebten eine alte Frau, die sich um ihren sterbenden Mann kümmert, und ihre Tochter, die die Erinnerungen an ihren bereits verstorbenen erhält. Erzählerisch ist anfangs vermischt, wann es um welche geht, der Text schafft mit Details viel Atmosphäre, erzählt dicht ganze Leben.

Hubert Winkels stellte fest, es sei „nicht leicht, von diesem Text nicht beeindruckt zu sein“, bemängelt aber, „dass der Text über seine Mittel nicht sicher verfügt“, vor allem beim Handhaben der Erzählperspektive. Er stieß sich auch an „Markern“, aufdringlichen Mitteln, die Emotion hervorrufen sollen, fand vieles zu gewollt.

Daniela Strigl mochte das „leise Vorangehen“ des Textes. Sie hatte mit den vielfältigen Erzählperspektiven kein Problem, da sie eine angenehme Distanz schafften, den Erzähler auf Abstand hielten.

Auch Hildegard Keller sprach positiv von einem „stillen, sehr diskreten Text“, fühlte sich an Werner Herzogs Film über die Höhlen von Chauvet erinnert, lobte, wie der Text die Figuren über Andeutungen zeichne.

Die anfängliche Unbestimmtheit der Personen gefiel Meike Feßmann: Ein ganzes Leben in einer „inneren verdrehten Zeitschleife“. Juri Steiner hatte sich aus der Geschichte geholt: „Die Männer sind peinlich, abwesend oder sterben.“ Er sah vor allem Derbheit und Brutalität in der Mutter-Tochter-Erzählung. Feßmann las diese Ebene als völlige Überforderung der Frauen. Sie verwies auch auf das Motiv des Umgangs mit Erinnerungen, auf das Distanzhalten, Verarbeiten, Verdrängen.

Burkhard Spinnen behauptete, Winkels nun schon so oft in dieser Runde erlebt zu haben, dass er vorhersagen könne, was ihm missfallen werde. Er reagierte auf dessen Vorwurf der Überinstrumentierung mit dem Appell, in der Literatur müssten Details eben nicht so weit wie möglich reduziert werden – anders als bei Sachtexten.

Und dann sprach Dusini ziemlich lange, ohne dass ich verstanden hätte, was er sagte. Die Struktur der Erzählung sei „was ist Tod, Sterben, Sterbehilfe“, der Text biete über die Katze Alternativen, schon weil sie zwei Namen habe, das Gras, das vorkomme, sei ein weiteres Bild. Der Aufruf eines alten Themas aus einem Psalm (er zitierte Teile aus dem Gedächtnis) „heißt uns den Einblick zu verweigern in eine metonymische Struktur“. Hm?

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Kerstin Preiwuß las ihren „Text für Klagenfurt“ vor. In verschiedenen Handlungsebenen ging es um eine Frau, die sich am Ort ihrer Kindheit an Kindheit und Vater erinnert (mit viel Natur), um eine Nerzfarm, um Erinnerungen eines Mannes an NS-Massaker in der Ukraine, dann wieder um die Frau. Vor allem die lange und gruslige Passage über Nerze grenzte in ihrem Aneinanderreihen fachlicher Details arg an Wikipedia-Literatur, wie auch sonst einige überraschende Ausbrüche in fachliche Tiefe. Gerade deshalb fielen mir Sachfehler auf (nicht aber der Jury, die sich doch sonst auf diese stürzt), unter anderem die Behauptung, Schnaps entstehe in Fässern durch das Vergären von Früchten.

Den „traumatisierten NS-Vater“ nannte Daniela Strigl eine Hypothek, die den Text belaste und bei ihr die Erwartung auslöse, dann aber bitte etwas Neues geboten zu bekommen. Das habe die Nerzfarm erfüllt. Sie mochte die vielen Informationen in diesem Abschnitt, doch dass das „natürlich ein Nerz-KZ“ sei, fand sie so plakativ, dass es den Text beschädige. Ihr missfiel auch die Unwahrscheinlichkeit, dass ein Mensch, der auf dem Land aufgewachsen ist, eine Libelle für gefährlich halte. (Ich musste gleich an einen engen Studienfreund denken, dessen Stubenhockertum während seiner Kindheit auf dem Lande jegliche Kenntnis über das Draußen verhindert hatte.)

Diese Einwände teilte Winkels, doch er nannte die „Mittel einer literarischen Reportage“ „hinreißend“. Er fand zwar die „symbolische Logik“ durch das „faschistische Regelwerk“ problematisch, sah den Text aber als „komplettes, lückenloses Feld der Gewaltdarstellung“, nichts sei aus dieser Logik herausgefallen.

Keller mochte die unterschiedlichen Rhythmen der einzelnen Textteile, fragte aber: „Was speist diese Lust, in die Vaterwelt, in die Nerzwelt einzutauchen?“ (Vor zwei Jahren wäre an dieser Stelle noch die „Erzählmotivation“ aufgetaucht, aber die hat man wohl nicht mehr.)

Steiner unterteilte wieder nach Männern und Frauen, wobei die Männer Sadisten seien, die Frauen aber interessant, weil sie gelernt hätten, durch Lügen zu überleben. Für Feßmann war das Überraschende an dem Text das Naturkundliche, die Traumaüberlieferung. Sie hatte einen „poetologischen Text“ erlebt, „der seine Mittel reflektiert“. Auf das Themenfeld „Kinder der Traumatisierten“ ging auch Spinnen ein. Doch er bemängelte, wie offensichtlich die Nerze eingesetzt würden. Er fand die Darstellung großartig, ihm fehlte aber das Neue.
Auch Strigl bemerkte, „dass sich hier die Faschismusmetaphern gegenseitig auf die Zehen steigen“.

Dusini fand den Aufbau gut, „dieser Text verschiebt seine Intensitäten vom Trauma hin zu den Nerzen“ (hm?). Er stolperte aber über die direkte Ansprache des Lesers durch „du“. Als ihn Feßmann darauf hinwies, dass hier eine Figur der Erzählung einen Mitbewohner anspricht, argumentierte er: „Wenn ein Text ‘du’ sagt, fühle ich mich angesprochen.“

Keller machte kurz ein Metafass auf: Sie sei befremdet von der Fabulierlust der vorgebrachten Exegesen, die sich sehr weit vom Text entfernt hätten und frage, ob sich die Autorin wirklich so sehr „mit unserem Echoraum“ auseinandersetzen müsse? (Ich lerne: „Echoraum“ ist die neue Anxiety of Influence.)

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Von Tobias Sommer war „Steuerstrafakte“. Ich langweilte mich ziemlich, denn schnell war klar, dass diese Geschichte eines Schriftstellers, der im Büro eines Finanzermittlers sitzt, weil es Fragen zu seiner Steuererklärung gibt, genauso schlicht und vordergründig bleiben würde, wie sie angefangen hatte. Das rissen auch die Fragmente einer Abenteuergeschichte auf einem Walfänger nicht heraus, die hin und wieder als Text aus der Feder dieses Schriftstellers eingestreut waren.

Die Jury bemühte sich, hatte allerdings nicht sehr viel zu sagen. Steiner, der den Text vorgeschlagen hatte, sprach brav von Doppelleben und „kafkaesker Situation“, von einem „Individuum, das sich in einer nicht definierten Machtbeziehung wiederfindet“. Für Winkels funktionierte die allegorische Lesart nicht. Er sah eher eine Vertauschung des Ichs, eines Wechsels „von der Ich- in die Nicht-Ich-Position”.

Feßmann ordnete den Text als „Amts-Pantomime“ und „Posse“ ein, jedoch „sehr einfältig gebaut“. Und auch Strigl wunderte sich, dass man bei Zuhören nicht lacht. Dinge würden „allzu sehr bei ihrem echten Namen genannt“ und es werde „nicht viel differenzierter Witz daraus gewonnen“. Bei Keller heißt das: „Das Komikpotenzial ist mir nicht genau erkennbar.“

Spinnen kleidete seine Kritik in die Selbstbezichtigung: „Ich habe hier vieles drin nicht richtig verstanden.“ Er habe die beschriebene Situation dreimal selbst erlebt, weil es in der Bürokratie nicht vorgesehen sei, dass jemand (meist Freiberufler) so wenig verdiene. Dass jemand mit dem zitierten Abenteuertext einen Literaturpreis gewonnen habe, glaubte er nicht.

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Den Titel des Texts von Gertraud Klemm, „Ujjayi“, musste ich Buchstabe für Buchstabe abschreiben. Laut Geschichte bezeichnet er eine Atemtechnik zur inneren Beruhigung. Und das brauchte der Text, der die reine Wut und den Hass einer Mutter über ihre fremdbestimmte Situation ausdrückt. Mit der Endpointe, dass sie ein weiteres Kind will. Erinnerte mich an Doris Dörries Kurzgeschichten über Mutterschaft. Die sind nicht so zornig, aber genauso paradox. Außerdem dachte ich an die zahllosen Blogposts, die sich in genau diesem Tonfall um genau dieses Gefühl drehen, nur nicht so durchkomponiert und ausführlich. Mir vermutete schon beim Zuhören, dass eine Jury, die wahrscheinlich keine Muttiblogs liest, durch den Tonfall verstört sein würde.

Dusini sah die „Schnittstellen Leben/Text“ in Schreien-Schreiben. Zudem „ein Text, der von Aggression spricht, ich denke, dass es eine Aggression des Textes gibt“. (Hm?) Für ihn war es aber ein Problem, dass die Erzählinstanz identisch sei mit der Stimme der Figur.

Feßmann interpretierte die Geschichte als „Frustrationslabyrinth der Kleinkinderziehung“ die „unzumutbar für uns moderne Menschen“ sei. Sie lobte, dass der Text den Ton durchhalte, dass er die Banalität so verletzend zeige, wie sie sei. Strigl nahm das auf und nannte den Inhalt „radikal banal“, mochte, wie kunstvoll der Text rhythmisiert sei. Sie widersprach Dusini: Um diese Verbissenheit zu transportieren, müsse die Erzählstimme mit der der Figur eins werden. Winkels hatte Bernhard- und Jelinek-Sequenzen gehört, eine „Operationalisierung österreichischer Erzählerrungenschaften“, eine „Suada“ (aha! neben Tirade ein weiteres deutsche Wort für rant!). Der Umstand, dass sie sich für ein weiteres Kind entscheide, decke auf, dass neben der vordergründigen Wut ein weiterer Prozess verlaufe.

Steiner fand den Text unerträglich, weil er sich gerade in dieser Situation befinde, vermisste aber ein politisches Statement, das über die persönliche Ebene hinausgehe.

Spinnen überraschte mit der Aussage, der Text habe ihn unangenehm berührt: Er führe vor, wie eine intelligente Frau die „absolute Selbstverständlichkeiten der Reproduktion als entsetzlich beschreibt“. Alles Beschriebene sei doch völlig normal. Er fühlte sich erinnert an Frauenzeitschriftskolumnen und sah in der Haltung eine gesellschaftliche Problematik, die Monster zeuge.

Doch damit stand er alleine. Auch Keller sprach von „Wutliteratur“, erkannte Spuren von Schelmenhaftigkeit, war beklommen vom zweiten Kreis der Gefangenschaft, der sich durch die angekündigte nächste Schwangerschaft auftue. Feßmann fragte sogar, ob sich Spinnen möglicherweise dümmer stelle, als er sei. Strigl nannte den Text „schwarze Literatur“ in der Tradition von Marlen Haushofer.

Dusini sah ein Problem in der „Ästhetisierungsposition“ die den gesellschaftskritischen Ton herausnehme. „In dieser Familie hat überhaupt keiner mehr eine Geschichte.“ (Hm?)

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Den Abschluss des offiziellen Teils bildete „Unter Platanen“ von Olga Flor. Ich hörte die recht konventionelle Geschichte einer Frau, die beruflich anerkannt ist und in einer ruhigen, guten Familienumgebung mit zwei Kindern lebt, und die auf einer Konferenz auf ihre große Liebe von vor 20 Jahren trifft. Alles Folgende war recht erwartbar, dass sie nicht mit ihm im Bett landete, sogar realistisch, und handwerklich sehr gut gemacht. Ich fand die Tiefe nicht, die die Jury im Folgenden diskutierte.

Winkel begann auch: „Das ist eine alte Geschichte.“ Sie werde aber behutsam und langsam gesteigert. Er sah eine gewisse Überfrachtung im Text. Strigl verwies auf die Platanen als Symbol der Erneuerung. Es gehe um „eine Existenz auf Messers Schneide“. Das Über-Ich einer Perfektionistin versuche Kontrolle über ihren Körper zu behalten. Im Grunde träfen zwei Kriegsparteien aufeinander, es sei eben keine harmlose Sommerliebe, die da erinnert werde. Die Geschichte sei voll und vielschichtig.

Laut Feßmann hat „die Heldin eine eingebaute Maschine zur Selbstzüchtigung“. Sie kritisierte an dem Text, dass er zu viele Informationen enthalte, dem Leser bleibe kein Raum. Keller stellte die Verbindung zum vorhergehenden Text her. Die Frauenfigur sei trotz Karriere, Ehe, Kinder nicht davor gefeit, durch eine Begegnung ihr ganzes Leben zu hinterfragen. Leidenschaft sei etwas nie zu überwindendes. Steiner bemerkte die Wandlung in der Darstellung des Liebhabers von damals: Aus brutal sei nett geworden.

Dusini sprach von „Wohlstandsprosa“: Den Leuten gehe es äußerlich sehr gut, doch sie hätten psychologisch „viel aufzuräumen“, seien aber gebunden in der Sprache. Er führte dann einige sprachliche Klischees an. Strigl hielt gegen, dass es sich nun mal um eine Sommergeschichte handle, um eine Konferenzgeschichte, da komme man an Klischees nicht vorbei.

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Den Text der verhinderten Karen Köhler gab es auch noch zu hören: Er wurde nachmittags im Freiluftcafé am Lendhafen vorgelesen. Nachtrag: Hier eine Videoaufnahme. Zweiter Nachtrag: Gelesen wurde er von Verleger Jo Lendle, vorschlagendem Juror Hubert Winkels und der Literaturredakteurin vom Schweizer Fernsehen Nikola Steiner.

„Il Comandante“ ist die Krebsgeschichte einer jungen Frau, die im Krankenhaus einen alten Mann im Rollstuhl kennenlernt und sich mit ihm anfreundet. Eine bewegende Geschichte, die ich aber fatalerweise mit zahllosen Krebsblogs und Krebsfilmen der jüngeren Zeit assoziierte und die sich nicht originell davon abhob. (Ich ertappe mich hiermit dabei, dass ich von der Themenwahl überrascht werden will.)

Genossin Kaltmamsell

Mittwoch, 2. Juli 2014

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Zum ersten Mal im Leben habe ich als Mitglied an einer Generalversammlung teilgenommen (also nicht als Berichterstatterin oder Organisatorin). Das hat nicht zufällig so lange gedauert: Dazugehören ist für mich nicht sehr attraktiv, und dass ich mich innerlich generell gegen Mitgliedschaft sträube und umgehend Vereinnahmung fürchte, mag zu meinen schlechteren Eigenschaften gehören.

Doch seit vergangenem Jahr bin ich Teil der Genossenschaft Kartoffelkombinat. Und nun trafen wir uns in einem Gewächshaus der Gärtnerei, aus der wir den größten Teil unseres Ernteanteils beziehen, zur regulären Generalversammlung über das Geschäftsjahr 2013. Ich kam mit S-Bahn und Fahrrad, hatte mir die 20 Minuten Radeln zum Gemüsehof allerdings deutlich sommeridyllischer vorgestellt als im Dauerregen des vergangenen Sonntags. Zumindest ist jetzt die Hürde des Erstbesuchs genommen, jetzt müsste ich viel einfacher den Hintern hochkriegen zum zweiwöchentlichen Mitgärtnern, auf das ich sehr neugierig bin.

Es ging um Geschäftszahlen (Bilanz, Gewinn- und Verlustrechnung), um Lagebericht und Zukunftspläne – vieles kannte ich aus meiner Geschäftsberichtsvergangenheit. Aufsichtsratsvorsitzender Horst Bokelmann führte locker und zu 100 Prozent dem Publikum angemessen durch die Versammlung. Er erklärte viel, zum Beispiel die Pflichtschritte dieser Generalversammlung, auch missverständliche Begriffe wie “Entlastung” von Vorstand und Aufsichtsrat.

Spätestens seit Lagebericht und Ausblick weiß ich, wie bedacht und sorgfältig die Geschäftsführer und Gründer Simon Scholl und Daniel Überall dieses Projekt steuern. Außerdem kenne ich jetzt den Status Quo unserer Genossenschaft.

Noch gehört uns kein Land, sind wir auch nicht selbst Pächter. Das Kartoffelkombinat arbeitet hauptsächlich mit einem Gemüsehof in Eschenried zusammen, von dort kommt das meiste unseres Ernteanteils (aber nicht die Kartoffeln, dafür eignet sich der Boden nicht). Seit 2014 sind wir der solidarischen Landwirtschaft einen Schritt näher: Der Anbau des Gemüsehofs wird von Genossenschaftsgeld vorfinanziert. Auch die Gehälter eines Teils des Gärtnereipersonals werden von uns gezahlt (und ja: auf angemessene Höhe wird geachtet, wir sind ja nicht Marktwirtschaft). Nach und nach werden alle Partnerbetriebe in die Prinzipien der solidarischen Landwirtschaft gebracht.
Unsere Ernteanteile stimmen die Geschäftsführer ab auf Boden, Jahreszeit, Wetter sowie auf die Pläne und Prioritäten der Partnerhöfe. Doch erst wenn wir selbst Vollpächter oder Besitzerinnen sind, können wir zum Beispiel ganz bestimmen, was genau angebaut wird. Dazu gibt es Verhandlungen, aber kein zeitliches Ziel (gut so, wir sind ja nicht Marktwirtschaft).
Auch dieses Jahr wird es so vernünftige Aktionen geben wie das Einkochen von Ernteüberschüssen in Sugo: Statt Fluten an Tomaten und Zucchini auf die Genossinnen aufzuteilen, die sich jede und jeder einzeln in die Küche stellen und einkochen, wird das zusammen in einer Großküche gemacht. Die Gläser mit Sugo waren zwischen dem Lagergemüse im Winter eine echte Bereicherung, und der Sugo war köstlich.
Außerdem sind Simon und Daniel sehr konkret an einer ganzen Anzahl möglicher Kooperationen und Zukunftsprojekten – alles klang großartig (und nach einem Rätsel, wie sie das bloß zeitlich schaffen).

Die Genossenschaft ist deutlich schneller gewachsen als bei der Gründung Mitte 2012 erwartet, derzeit sind wir um die 500 Haushalte. Welch ein logistischer Aufwand dahinter steckt, kann ich nur ahnen. Doch immer noch machen Simon und Daniel das Ganze gründlich überlegt, nicht nur mit Leidenschaft und Idealismus (außerdem von einem sehr kompetent wirkenden Aufsichtsrat beraten). Für Herbst ist eine neue Testphase für Interessenten geplant. Wer das nicht verpassen möchte, abonniert am besten den Feed des Kartoffelkombinatblogs oder Facebook.

Über die Stunden der Versammlung, durch das Kennenlernen von Vorstand, Aufsichtsrat und Mitgenossinnen spürte ich, wie das eine oder andere Band um mein Herz sprang. Mir wurde klar, welche Verheerungen das Erleben der New Economy und der nachfolgenden Jahre in der großen freien Wirtschaft an meinem Weltbild angerichtet hatten. Dem Lob der Leidenschaft misstraue ich: Einfach nur Leidenschaft für eine Idee oder Sache ist erst mal weder gut noch schlecht, sondern sehr wahrscheinlich persönliche Veranlagung. Die Start-up-Gründer in der New Economy waren zum größten Teil leidenschaftlich, begeistert, einsatzbereit. Aber ihnen fehlte zum allergrößten Teil jegliches Verantwortungsbewusstsein. Und ohne dieses bringt kein leidenschaftlicher Einsatz der Welt die Welt weiter. Auch in Unternehmen habe ich visionäre, begeisterte und begeisternde Menschen ohne übergreifende Werte und verwurzelten Anstand kennengelernt. Und mich immer schneller vor ihnen zurückgezogen. Mittlerweile bin ich für die Gedanken sachlicher Langweiler deutlich offener als für Menschen, die auf Begeisterung abzielen.

Die Menschen hinter dem Kartoffelkombinat erlebte ich als sachlich. Ich bin mir bewusst, dass mir das Ziel einer lokalen Versorgungsstruktur deshalb vernünftig erscheint, weil ich die Prämissen teile. Aber ich glaube ihnen, dass es wirklich darum geht. Ich beginne, eine Art von Vertrauen zu fassen, die ich für dauerhaft kaputt gehalten hatte.

Disclaimer: Ich bin keine Expertin in Genossenschaftsrecht noch in solidarischer Landwirtschaft und habe möglicherweise das eine oder andere missverstanden. Alle sachlichen Fehler gehen auf meine Kappe, über Korrekturen freue ich mich.


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