Journal Mittwoch, 14. Oktober 2020 – Geranienabtrieb und Gehen auf dem Mond

Donnerstag, 15. Oktober 2020 um 7:41

Hungrig aufgewacht. Ich fürchte, ich komme mit zwei zusätzlichen Konfektionsgrößen heim, da mein Hunger kein Pendant in Bewegung hat.

Morgenspaziergang nach dem Frühstück (kalt, ich sehnte mich nach einer Mütze): Ein Schwarm Bachstelzen schaute vorbei, war niedlich und leistete den Amseln, Rotschwänzen, Spatzen, Buchfinken, Kohlmeisen Gesellschaft.

Tagesprogramm (sieben Termine) startete mit Pilates, diesmal zu viert. Ich begriff nicht, wie das mit der Atmung/Spannung gemeint ist – es scheint etwas ganz anderes zu sein als beim Singen, beim Yoga, beim Joggen, beim Krafttraining, kein Versuch stellte die Trainerin zufrieden.

Die knappe Stunde Pause bis zum nächsten Termin verbrachte ich in der Lobby mit Blick nach draußen. Ich wurde dadurch Zeugin eines erhebenden jahreszeitlichen Naturschauspiels: Abräumen der Balkonblumen.

Das musste ich sofort mit instagram und Twitter teilen; wir waren uns einig, dass hier eine wertvolle Chance zur Festivalisierung verpasst wurde:

Herr Physio lockerte Muskeln und fragte dann, ob ich schon ohne Krücken gehen könne. Können tue ich ja schon, doch ich soll doch nicht? Er ließ mich auf dem Gang vorgehen und teilte mir seine Beobachtungen mit (OP-Bein rollt nicht richtig ab, Belastung darauf kürzer als auf heilem Bein). Ich fand heraus: Wenn ich im Kopf Musik spielen lasse und im Rhythmus gehe, also eigentlich tanze, fällt es mir viel leichter, beide Beine gleich stark zu belasten. (Mein Hirn griff dafür zu “Havana Moon” von Santana, das passte gut.) Das zog ich den Tag über durch (Hirn blieb leider bei diesem einen Song hängen) und hatte den Eindruck, dass ich mich schlagartig meinem früheren gesunden Gang annähere, den ein besuchender Schriftsteller mal “like a policewoman on a drug squad” beschrieben hatte. Und das, wenn ich kurz erinnern darf, nicht mal zwei Wochen nach OP.

Schlechte Nachrichten allerdings beim Thema Schwitz-Sport. Nachfrage bei Herrn Physio, ob da irgendetwas geht, ergab: Nein. Bis auf Weiteres nicht.

Anschließend eine Einheit Bewegungsschiene mit Musik auf den Ohren.

Der nächste Termin war Elektrotherapie: Auf Nierenhöhe wurden mir hinten zwei halb-kiwi-große Gumminäpfe mit Schwammfüllung angesaugt, durch die zehn Minuten lang Strom floß und rührendes Bitzeln auslösten. Ich konnte mir gut ausmalen, welche Witze mein Elektriker-Papa reißen würde. ABER! Durch die Kürze der Behandlung hatte ich Zeit für einen Cappuccino.

Zu Mittag war ich schon wieder richtig hungrig. Ich hatte zur Fleischvermeidung Dampfnudel mit Vanillesoße bestellt, aß davor ein wenig Couscous-Salat, danach Pfirsichkompott. Wie erwartet fiel ich anschließend in Kohlenhydrat-Schläfrigkeit.

Gleich nach Mittag war meine tägliche Sportrunde eingetragen. Ich kämpfte mit den Oberkörpermaschinen, die die Karte (Größe Kreditkarte) nicht erkannten, auf der meine Einstellungen gespeichert waren. Eine Trainerin half mir, musste letztendlich alles nochmal neu einstellen und speichern.

Dann durfte ich auf dem Mond gehen! Der Termin hieß “Gehtrain.Antigrav.” (Platzgründe, nehme ich an), man steckte mich in eine Antigravitationsmaschine, die aussah wie ein Laufband mit Zeltaufsatz für den Unterkörper. Die Trainerin ließ mich eine Neoprenhose anziehen, deren sehr weiter Bund in ein Loch im Zelt einreißverschlusst wurde. Dann blies die Trainerin die Kammer auf und ich war auf dem Mond, denn der Druck trug mich. Sie schaltete das Laufband ein, ich sollte gehen, und mein Gehen wurde gefilmt. Die Trainerin gab 20 Minuten lang Verbesserungshinweise zu meinem noch nicht wieder gleichmäßigen Gehen (OP-Bein mehr nach hinten strecken, Nicht-OP-Bein weniger schnell nach vorne führen etc.). Das war technisch spannend, aber ich hege Zweifel, dass die Übung Auswirkungen auf meinen irdischen Gang hat, wo die Schwerkraft zu 100 Prozent wirkt. (Die Trainerin verwendete statt dem deutlich attraktiveren Mond-Vergleich Wasser-Analogien, sie wird schon wissen.)

Letzter Termin war eine dritte Einheit Gehen: Gangschule in der Gruppe in der Turnhalle. Eine halbe Stunde quer duch die Halle mit Abrollen vorwärts, Gehen seitwärts, auch mit Kniehoch. Und nun signalisierte meine neue Hüfte, dass jetzt aber mal genug gegangen war für einen Tag, ich war wirklich erledigt. So sehr, dass ich sogar auf den Spaziergang nach dem Abendessen verzichtete.

Abendessen: Suppe, Hüttenkäse mit Kräutern, Butterbrot. Abenunterhaltung: Fernsehen, The Good Doctor.

die Kaltmamsell

10 Kommentare zu „Journal Mittwoch, 14. Oktober 2020 – Geranienabtrieb und Gehen auf dem Mond“

  1. Elfe meint:

    Spannend, das Gehen!

  2. Frau Irgendwas ist immer meint:

    Ja, ich erinnere mich. Nach dem 3fachen Knöchelbruch (und 2 Wochen Krankenhaus + 4 Wochen Gehgibs) war auch meine Hauptbeschäftigung bei der Reha, beide Füße/Beine wieder gleichseitig gleichmäßig zu belasten. Nicht zu fassen, was das für eine Anstrengung sein kann!
    Ihr Körper weiß schon zu was er das ganze `Futter´ benötigt, bleiben Sie sportlich!

  3. lihabiboun meint:

    Mein Gott, wie sich die Reha verändert hat! Ich erinnere mich, als meine Ma ihre beiden Hüften bekam – das ist allerdings 16 bzw 13 Jahre her – die haben so quasi nix mit ihr gemacht, außer bisschen angeleitetes Gehen …. Alles Gute, verehrte Kaltmamsell, bleiben Sie guten Mutes!

  4. Ilka meint:

    Zur Eventisierung der Pflanzeneinräumroutine muss ich enttäuschen, das gibt es schon, Palmenausfahrt und Palmeneinfahrt in der Orangerie Potsdam Sanssouci (allerdings ohne Schnaps).
    Ansonsten weiter gute Genesung inkl. Mondausflüge.
    Viele Grüße!

  5. Joël meint:

    Geranienabtrieb, hahahaha!

    Kohlenhydrat-Schläfrigkeit wird im Volksmund auch Fressnarkose genannt :-)

  6. obadoba meint:

    @lihabiboun:
    Das hängt ganz stark davon ab, *wo* man die Reha macht. Die Schwägerin war in einer Einrichtung, in sie ein bisserl angeleitet laufen sollte und aufs Rad gesetzt wurde und sonst nichts. Und das ist grad mal 3 Jahre her.

    Deswegen wollte ich da nicht hin und habe mir explizit irgendwas mit auch Sport-Reha rausgesucht (gelandet bin ichda wo auch die Kaltmamsell ist). Wie soll man gesund werden, wenn man nichts dafür tun darf?

    Mit dem Antigrav-Dingens kam ich überhaupt nicht zurecht. Soll heissen, da drin gehen ging schon, brachte mir aber ‘draussen’ überhaupt nichts. Bei mir war es nicht Musik, sondern innerlich zählen, mit dem ich mich zu gleichmäßigem Gang zu bringen versucht habe.

  7. trolleira meint:

    Zum Pilates, wenn es um die Bauchspannung geht, da half mir der Hinweis meiner Pilateslehrerin: den Bauchnabel Richtung Wirbelsäule ziehen. Ach Pilates, ich hoffe sehr, dass das bald wieder möglich sein wird hier. Wie läuft das eigentlich in der Klinik mit den Hygienevorschriften bei Kursen mit mehr Leuten? Weiterhin gute Besserung!

  8. Stedtenhopp meint:

    Bei der Song-Auswahl zum Gehen bin ich jetzt neugierig: Machst Du einen Schritt pro Zählzeit? Das erschiene mir als ein ausgesprochen rasches Gehen, eher sportliches Walken als “Alltagsgehen”. Oder kommt ein Schritt auf der 1, der nächste auf 3?

  9. die Kaltmamsell meint:

    Das Großartige an Musik in meinem Kopf, Stedtenhopp: Ich kann die Geschwindigkeit beliebig drosseln! (Beim Raussuchen auf YouTube war ich durchaus überrascht über die Flottizität.)

  10. Nina meint:

    Hier heißt es „Futterkoma“.

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