Journal Dienstag, 16.26. Januar 2021 – Bernardine Evaristo, Girl, Woman, Other

Mittwoch, 27. Januar 2021 um 6:32

Morgens erst mal Bücherpakete fertig gemacht, auf dass sie der hilfreiche Herr Kaltmamsell zur Post bringen konnte. Der Bücherberg ist sichtbar geschmolzen, hurra!

Ich war nicht vom Lärm des Winterdienstes aufgewacht: Es lag so viel Schnee, dass die Räumfahrzeuge sich noch nicht um unsere Straße ohne Durchgangsverkehr hatten kümmern können.

Tief verschneit, ca. 30 cm hoch, war auch mein Weg in die Arbeit (jetzt wieder in Schneestiefeln, leichte Büroschuhe hatte ich im Rucksack dabei), ich profitierte aber durchwegs von zumindest einer schmalen geräumten Schneise.

Im Büro viele Online-Besprechungen, nach und nach lerne auch ich Haustiere kennen.

Hin und wieder schneite es nochmal, doch heftiger Wind pustete die Bäume kahl.

Mittags nur eine halbe Cornish Pastie (ich lerne dazu), außerdem Granatapfel mit Hüttenkäse (oder doch nicht: ich war wieder überfressen; dafür brauchte ich bis zum Abend nichts mehr).

Heimweg in leichtem Schneefall und Wind, über die Theresienwiese scholl das Kinderjuchzen und -rufen von den Schlittenhügeln auf der Westseite.

Als ich auf den Beethovenplatz zuging, sah ich schon von Weitem ein sehr kleines Auto, das mit durchdrehenden Hinterreifen aus einem Scheeberg loszukommen versuchte. So viel weiß auch ich vom Autofahren, dass durchdrehende Reifen nie von selbst greifen werden. Ich trat also vorsichtig ans Fahrerfenster, das einen Spalt breit geöffnet war, und bot an: “Soll ich schieben?” Die Fahrerin willigte ein, ich empfahl die Richtung rückwärts, weil hinterm Wagen kein Schnee lag. Mit zweimal Schieben von vorne war das Autochen frei, wir freuten uns.

Daheim genehmigte ich mir erst mal eine Einheit Yoga, dann packte ich weitere Bücherpakete.

Zum Abendessen gab es den letzten Gang des Wochenend-Gockels: Hühnerbrühe mit gekauften Tortellini (Spinat-Ricotta-Füllung).

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Montagabend hatte ich Bernardine Evaristos Girl, Woman, Other ausgelesen, bis zuletzt mit Vergnügen.

Die zwölf Kapitel drehen sich alle um britische Frauen mit schwarzem Hintergrund, die eine mit mehr, die andere mit weniger. Alle sind personal aus der Sicht der Frauen erzählt (oder der other: eine der Figuren lernt im Lauf des Kapitels, dass sie – they – sich keinem Geschlecht zuordnet), alle ganz nah an den Figuren. Das ist bunt, nahbar und reichhaltig, in die Kapitel über alte Frauen passen viele Jahrzehnte Leben. Die Spanne der Figuren reicht von Theaterautorin über Putzfrau, Bäuerin, Studentin, Hausfrau, Bankerin bis Lehrerin – alle leben in derselben Welt, manche sind miteinander verbunden. Und alle haben Erfahrungen mit Rassismus und mit Gewalt gemacht.

Wunderbar indirekt macht sich die implizite Erzählerin durch diese Perspektive auch liebevoll lustig, lässt für die Leserin weniger schöne Charakterseiten durchscheinen (z.B. die junge Jazz mit ihrem stark gefilterten Blick, der in allem und jedem Rassismus sieht, oder die alte Winsome, die ihre erwachsenen Kinder für verwöhnte Faulpelze hält). Erzählt wird technisch geschickt durch viel showing, was ich mir mit Evaristos Theatererfahrung erkläre. Auch wenn die Kapitel keine durchgängige Handlung ergeben (ein Rahmen ist die Uraufführung des Theaterstücks der erfahrenen und lange alternativ lebenen schwarzen Autorin Amma, auf der viele der Figuren zusammenkommen), entsteht ein dichtes, lebhaftes Gesamtbild. Interessantes Detail: Evaristo bedient sich des Schriftsatzes als Stilmittel. Sie schreibt oft in sehr kurzen Absätzen von einem Satz, die ohne Punkt enden, manche Absätze verteilen die Wörter wie ein Gedicht über die Seite – ohne dass die Lesbarkeit in irgendeiner Weise leidet. Es entsteht vielmehr dadurch ein Rhythmus, den sonst nur Vortrag erzeugen könnte.

Mal wieder bekam ich durch Fiktion Einblick in Welten und Kulturen, die ich vorher höchstens aus dem Augenwinkel kannte.

Eine Recherche nach Rezensionen erinnerte mich daran, dass Evaristo den Booker Prize 2019 zusammen mit Margaret Atwood bekam, letztere für The Testament. Ich nehme an, dass das im Lauf der Zeit völlig in Vergessenheit geraten wird, denn Girl, Woman, Other überragt den Routine-Roman von Atwood weit.

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Dank Sendung mit der Maus habe auch ich verstanden, wie die verschiedenen Maskentypen wirken.

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https://youtu.be/F59fGJf7Xtw

die Kaltmamsell

9 Kommentare zu „Journal Dienstag, 16.26. Januar 2021 – Bernardine Evaristo, Girl, Woman, Other

  1. lihabiboun meint:

    Ja. Genau. Man ist NIE zu alt für Mausgeschichten! Danke.

  2. Katharina Gallenmüller meint:

    (M)ein Bücherpaket ist bereits bei mir angekommen. Ich freue mich sehr auf die Lektüre! Vielen herzlichen Dank und viele Grüße, Katharina

  3. Croco meint:

    Das Mausvideo ist toll! Danke sehr.

  4. Berit meint:

    Die Sendung mit der Maus ist auch immer meine erste Anlaufstelle wenn ich bei der Beantwortung von Fachfragen meines Kindes nicht weiter weiß. Lediglich beim Thema “Was ist ein Gott und was ist Religion ?” konnte ich noch nicht recht fündig werden.

  5. Gabriela meint:

    https://www.freitag.de/autoren/marlen-hobrack/alle-stimmen-sind-da
    Der Beitrag kam direkt vor der Buchbesprechung, somit ist der Wunschzettel um ein Exemplar reicher….
    Und Enkeldank auch für den Mausbeitrag, Liebgruß von Gabriela

  6. Vera Sch. meint:

    Hätten Sie sich Anfang Oktober vorstellen können, nur 3,5 Monate später ein solches Angebot zu machen:
    „Soll ich schieben?“

  7. Maria meint:

    Falls es Ihnen noch nicht aufgefallen ist: der Eintrag hat ein falsches Datum ;-)

  8. die Kaltmamsell meint:

    Hoppla! Danke für den Hinweis, Maria!

  9. Petra S. meint:

    Jeden Tag eine gute Tat! Jemanden rausschieben tut einem selbst so gut!

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