Journal Mittwoch, 6. Oktober 2021 – C Pam Zhang, How Much of These Hills is Gold

Donnerstag, 7. Oktober 2021 um 6:22

Bessere Nacht, zehn Minuten späterer Wecker, weil ich vor der Arbeit erst mal morgens einen Termin bei der Hausärztin hatte.

Die Schallung meines Bauchs (mithilfe einer sehr großen Menge Gels) ergab Pracht und Schönheit. Ich lernte eine Medizinstudentin kennen, die gerade bei der Hausärztin einen Teil ihrer Famulatur absolviert und zuguckte, der mein Inneres besonders gründlich erklärt wurde.

Lob der Ärztin für meinen Lebenswandel, dem ich meine wunderschönen, fettfreien (Leber), steinfreien (Galle, Blase) und auch sonst Schulbuch-reifen (Nieren, Bauchspeicheldrüse, Milz) Organe angeblich verdanke – ich nehme ja alles an Komplimenten, halte die Annahme von kompletter Selbstveranwortung und Kontrollierbarkeit in Gesundheitsfragen aber für gefährlichen Zeitgeist. Schon eher: Danke Veranlagung, danke privilegierte Lebensumstände, danke Glück.
Eine Facharzt-Überweisung gewann ich dennoch, irgendwas ist ja immer in meinem Alter.

Eine Stunde später als sonst spazierte ich in die Arbeit, gestern unter grauem Himmel.

Zu Mittag gab es Pumpernickel mit dick Butter, außerdem Hüttenkäse. Später ein Stück schwarze Schokolade.

Nachmittags kam ein wenig die Sonne heraus, aus buntwolkigem Himmel und mit Wind – es herbstelte.

Auf dem Heimweg Einkäufe für eine Geburtstagstorte, die ich am Wochenende backen werde. Abstecher zu dem Restaurant, in dem ich für Freitagabend einen Tisch für Herrn Kaltmamsell und mich reservierte.

Zu Hause bestellte ich unser Abendessen bei Servus Habibi (darauf hatte ich mich den ganzen Tag gefreut – also echten Appetit gehabt!) und holte es kurz darauf ab. Ich tauche immer wieder gerne in die lebendige Atmosphäre des Ladens ein – und sei es nur kurz zum Abholen. Die Speisen schmeckten wieder ausgezeichnet.

Nachtisch Eierlikörkuchen, der ist wirklich gut.

Den nächsten Jahrgang Olivenöl aus Lesbos auf Basis Solidarischer Landwirtschaft bei Platanenblatt bestellt. Die drei Liter reichen uns zwar nicht fürs ganze Jahr, aber mehr wären halt gleich sechs Liter – das ist zu viel.

Im Bett den nächsten Roman angefangen, Gabriele Tergit, Effingers – mal sehen, ob ich das dicke Buch schaffe, bevor ich mir die Inszenierung als Theaterstück an den Kammerspielen ansehe.

§

C Pam Zhang, How Much of These Hills is Gold hatte ich Dienstagabend ausgelesen. Es erzählt eine bislang weitgehende unerzählte Geschichte, die Perspektive chinesischer Einwander*innen bei der Besiedlung des Westens Nordamerikas. Es ist eine spannende und bedrückende Geschichte.

Vor allem gefiel mir, wie sie erzählt wurde, nämlich gar nicht realistisch/journalistisch. Das ist es halt, was einen Roman mit historischem Hintergrund wirklich interessant, im besten Fall zu Kunst macht.

Die erste Hälfte erleben wir aus der personalen Sicht der zwölfjährigen Lucy, schnell ist klar, dass wir uns in der Zeit und Gegend des kalifornischen Goldrauschs befinden, in einer Familie von chinesischen Einwanderern. Der Roman beginnt damit, dass der Vater von Lucy und ihrem jüngeren Geschwister Sam gestorben ist und die beiden ihn beerdigen wollen. Doch ihre – bereits früher verstorbene – Mutter hat ihnen beigebracht, dass ein richtiges Begräbnis strengen Regeln folgt, unter anderem müssen zwei Silbermünzen die Augen des Toten verschließen. Die beiden sind bettelarm und machen sich erst mal auf die Suche nach solchen Silbermünzen.

Die Erzählstimme bleibt so nah an Lucy dran, dass die darauffolgenden Ereignisse auch viel Vergangenes erzählen: Nachgezeichnet wird, wie menschliches Denken halt funktioniert, also springen Lucys Gedanken assoziativ vor und zurück, zwischen Erinnerungen, Wünschen, Gefühlen, Träumen und Ängsten. Das ist meisterliche Informationsvermittlung, fast schon impressionistisch.

Der zweite Teil des Romans erzählt geradliniger: Die Ich-Stimme des Vaters berichtet seine Lebensgeschichte. Er ist bereits in USA geboren, wird aber wegen seines Aussehens nicht als Amerikaner akzeptiert. Wir lernen aus diesem Teil über den Eisenbahnbau, über Rekrutierung und Behandlung chinesischer Einwanderer – und wie er seine Frau kennengelernt hat, die Mutter von Lucy und Sam. Auch das ist fesselnd und neu.

Das letzte Drittel fand ich am schwächsten: Lucy als junge Frau in der kalifornischen Stadt Sweetwater, wo sie sich ein Leben aufgebaut hat und Freundschaften. Sam taucht wieder auf und führt ihr vor, dass es für Leute wie sie hier keine Wurzeln geben kann. Die beiden beschließen, ein Schiff nach China zu nehmen. Diese Handlungsdetails lasen sich in meinen Augen recht konstruiert und als hätte die Autorin nicht recht gewusst, wie sie den Roman zu Ende bringen soll. Tat dem Gesamterlebnis aber keinen Abbruch, Leseempfehlung.

§

Auch ich ertappe mich dabei, den geringen Anteil weiblicher Nobelpreisträgerinnen damit zu erklären, dass es halt viel weniger Frauen in den relevanten Feldern gibt. Bis ich dann wieder solche Geschichten erfahre:
Jocelyn Bell Burnell entdeckte die ersten beiden Pulsare als Teil ihrer Doktorarbeit – doch den Nobelpreis dafür erhielt 1974 ihr Doktorvater.

Hier eine 16-minütige Doku über Burnell (in der sie unter anderem darauf hinweist, dass sie mehr Gratulationen zur Verlobung erhielt als zu ihrer historischen Entdeckung):

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https://youtu.be/NDW9zKqvPJI

Jocelyn Bell Burnell hat viel später einen Special Breakthrough Prize in Fundamental Physics für ihre Entdeckung der Pulsare erhalten, dotiert mit drei Millionen Dollar. Die sie als Stipendien für Angehörige von Minderheiten einsetzt, die nach ihrem Universitätsabschluss in die Physik-Forschung gehen wollen.

die Kaltmamsell

5 Kommentare zu „Journal Mittwoch, 6. Oktober 2021 – C Pam Zhang, How Much of These Hills is Gold

  1. berit meint:

    Die sie als Stipendien für Angehörige von Minderheiten einsetzt, die nach ihrem Universitätsabschluss in die Physik-Forschung gehen wollen.
    >> The real MVP

  2. Roland B. meint:

    Daß Jocelyn Bell von ihrem Doktorvater beim Nobelpreis überrannt wurde, dürfte eher akademischer Usus sein als ein Problem der Gleichberechtigung.

  3. Andrea Stock meint:

    Mit „Käsebier erobert den Ku’damm“ bin ich nicht warm geworden. Die Familiengeschichte der „Effingers“ hat mich aber sehr in ihren Bann gezogen und mitfühlen lassen. „So war‘s eben“ wartet noch darauf, gelesen zu werden.

    Herzliche Grüße von einer ansonsten stillen Mitleserin

  4. Eva meint:

    Danke für den schönen Hinweis auf den Beitrag Glück, Privilegien und Veranlagung (auch ein Teil von Glück in der Lotterie, oder?) zur Gesundheit. Wir können verschlechtern oder ruinieren, was das Los uns zugeteilt hat, aber verbessern ist schwierig

  5. julisonne meint:

    Wow, herzlichen Dank für den link zu dem tollen Film über Jocelyn Bell.

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