Journal Donnerstag, 21. Juli 2022 – Verblüffenderweise immer noch krank, Colson Whitehead, The Underground Railroad

Freitag, 22. Juli 2022 um 6:58

Ich wachte morgens sehr früh auf und erklärte mich für arbeitsfähig. Das Wetter war wolkig und kühl geworden, das kam mir recht.

Den Fußweg in die Arbeit ging ich dann lieber doch eher langsam. Es erleichterte mich sehr, dass ich einige Klöpse abarbeiten konnte, ein weiterer, der mir schwer im Magen gelegen hatte, erwies sich dann als doch nicht so dringend (Wutschnaub-Emoji).

Beim instagram-Druchscrollen gemerkt, dass andere Menschen an den vergangenen Hochsommertagen sich die Zeit deutlich interessanter vertrieben hatten als mit Bettliegen: Überall herrliche Sommerfarben, Blumen, buntes Gemüse und Obst auf Tellern und in Gläsern.

Über den Vormittag ganz neue Beschwerden: Heftige Rückenschmerzen im oberen linken Bereich, teilweise inklusive Brustkorb. Ich wechselte in kurzen Abständen zwischen Arbeit im Stehen und im Sitzen, nichts davon schmerzfrei. Mittags löffelte ich einen Rest Karottensuppe, aß eine Banane – die Schmerzen wurden nicht besser, Bauchweh gesellte sich dazu. Nach einer letzten Besprechung um zwei gab ich auf: Ich meldete mich “mir geht’s scheiße, sorry” ab (Hilfsbereitschaft und Zuspruch von allen Seiten), packte zusammen und nahm einen Bus nach Hause.

Daheim messen von Vitalparametern: Coronatest eines dritten Fabrikats ebenfalls negativ, kein Fieber, Blutdruck sowie Puls normal – und Googlen nach den Rückenschmerzen ergab als eine mögliche und gestern wirklich naheliegende Ursache Darmbeschwerden. Ich legte mich ins Bett, hörte Herrn Kaltmamsell mit Ernteanteil heimkommen, döste.

Bis ich um halb sechs deutlich Hunger spürte, zum ersten Mal seit drei Tagen, zudem riesigen Appetit auf Salat. Also machte ich aus Ernteanteil grünen Salat mit Gurke, zugekauften Tomätchen in einem Joghurt-Balsamico-Walnussöl-Dressing und aß mit Genuss bis zur letzten Gabel eine große Portion davon – durchaus gespannt, was mein Bauch dazu sagen würde.

Mir ging’s SO gut, dass ich kurz mit den Gedanken an Yoga spielte. Bis mir einfiel, dass ich ja einen vollen Bauch hatte und sich das bei mir überhaupt nicht mit Yoga verträgt.

Der Bauch war durch meine Beherztheit eingeschüchtert, ließ später sogar noch eine Handvoll Salzstangen und noch später ein Butterbrot zu.

Nachricht vom (schon länger absehbaren) Tod eines Mitabiturienten, mit dem ich zu Schulzeiten besonders viel zu tun hatte, unter anderem waren wir zusammen SMV-Sprecher*in. Oder erstellten zusammen die Dia-Show der Griechenland-Studienreise. Und organisierten nach dem Abitur die ersten Klassentreffen zusammen. Ich war Gast auf seiner Hochzeit. Beim Erinnern fallen mir immer mehr Stücke Lebensweg ein, die uns verbinden. Sehr traurig.

§

Schon vor ein paar Wochen habe ich Colson Whitehead, The Underground Railroad, ausgelesen und möchte den Roman empfehlen.

Einen Pulitzer Prize bekam er 2016, und diesen kann ich (im Gegensatz zu manch anderem) gut nachvollziehen. Whitehead nimmt den Mythos einer unterirdischen Tunnelanlage in den Vereinigten Staaten Mitte des 19. Jahrhunderts, die Sklaven per Bahn die Flucht ermöglichte (hier eine Zusammenfassung der Legenden und der Faktenlage dahinter, Kurzfassung: “the underground railroad” war eine Metapher für ein Befreiungsnetzwerk, das in erster Linie von befreiten Sklaven betrieben wurde, selbst Tunnel spielten dabei eine lediglich sehr kleine Rolle) und konstruiert daraus die teils märchenhafte, teils historische Geschichte von Cora, einer als Sklavin gefangen gehaltenen jungen Frau auf einer Plantage im Georgia des 19. Jahrhunderts. Cora wurde als Kind von ihrer Mutter verlassen und ist auch unter den Sklaven der Plantage als verrückt marginalisiert. An ihr werden die Grausamkeit und Menschenverachtung der Sklavenhaltung durchgespielt, an ihrer Flucht die zeitgenössischen Spielarten von Rassismus in Nordamerika – es stellt sich heraus, dass auch so manche Abolitionists ihre ganz eigene hatten.

Mir gefiel, dass es keine klaren Grenzen zwischen Gut und Böse gibt und dass die sich schon gar nicht decken mit weißer und nicht-weißer Hautfarbe. Hilfreiches oder schädliches Verhalten ist in The Underground Railroad allerdings fast immer motiviert durch die gesellschaftliche Stellung, die weiße und nicht-weiße Hautfarbe automatisch verschafft (einige Zwischenkapitel erzählen die Biografien von Nebenpersonen). Die Handlung vermittelt viele Details und Hintergründe (zum Beispiel ökonomische Zusammenhänge des Sklavenwirtschaft), die Schilderungen sind lebendig, auch Abolitionists zeigen manchmal lediglich eine andere Spielart von Rassismus (die New York Times nannte den Roman “dynamic”).

Ein wenig gefährlich fühlte sich für mich die romantisch-märchenhafte Seite an. Zwar erinnerte sie mich an das Schweben zwischen Surrealismus und Realismus im Weltliteratur-Meilenstein Beloved von Toni Morrison; doch verführt sie ein wenig dazu, auch die realistischen brutalen Seiten des Lebens in Sklaverei in diese Märchenhaftigkeit zu schieben. Gleichzeitig sorgen die phantastischen Noten des Romans für einen Großteil der Lebendigkeit.

Enttäuscht war ich vom Ende: Es las sich (wie so oft bei besonders lebendig erzählten Roman) wie ein hastiges Aufräumen.

Neben der in der Besprechung in der New York Times (“Review: ‘Underground Railroad’ Lays Bare Horrors of Slavery and Its Toxic Legacy”) empfehle ich auch die Besprechung des Buchs im Guardian:
“The Underground Railroad by Colson Whitehead review – luminous, furious and wildly inventive”.

die Kaltmamsell

2 Kommentare zu „Journal Donnerstag, 21. Juli 2022 – Verblüffenderweise immer noch krank, Colson Whitehead, The Underground Railroad

  1. Mareike meint:

    Das Buch klingt sehr interessant, ich habe gerade „Der Wassertänzer“ gelesen, auch darin geht es um den Underground und übernatürliches. Mit letzterem kann ich in Büchern nicht so viel anfangen, aber die Thematik ist so wichtig und interessant. Mal schauen, ob mir „The Underground Railroad“ in die Hände fällt.

    Wünsche weiterhin gute Besserung bzw. hoffe, dass mittlerweile alles überstanden ist!

  2. N. Aunyn meint:

    Wir hatten vor einigen Wochen Besuch eines Journalisten, der über Sklaverei in Mauretanien recherchiert und viel zu erzählen hatte. Offiziell zwar abgeschafft, aber die Strukturen sind so, dass die Sklaven keine Perspektive entwickeln können und nicht wissen, wohin sie sollen. So bleibt die Realität nach wie vor bestehen.

    https://www.amnesty.ch/de/ueber-amnesty/publikationen/magazin-amnesty/2015-1/mauretanien-sklaverei-im-21-jahrhundert

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