Journal Mittwoch, 28. September 2022 – San Sebastián 13: Wie ich einmal zu einem Gemälde fuhr

Donnerstag, 29. September 2022 um 8:41

Gestern versuchte ich, eines der wichtigsten Gemälde meiner Kindheit und Jugend in Echt zu sehen: „Mujeres de Sepúlveda“ von Ignacio Zuloaga. Ich wurde mit seinem Anblick groß, weil meine Mutter eine Postkarten-Reproduktion gerahmt an der Wand hatte, und den titelgebenden Ort kannte ich von Urlauben, weil meine spanische Oma von dort stammt. Mich hatte immer der Gegensatz der realistisch gemalten, starren alten Frauen im Vordergrund (der stechende Blick der rechten Frau auf die Betrachterin!) und der eigentümlichen Kleidung einerseits mit dem naiv-schematisch gemalten Ort im Hintergrund fasziniert – der dann doch ganz eindeutig und korrekt Sepúlveda zeigt. Auf der Terasse rechts steht bis heute das Lokal La Violeta, in den 1980ern eine Disco, in der ich legendäre Nächte verbrachte.

Irgendwann fand ich anhand eines Kunstbands heraus, dass das (mit 213 x 182 cm überraschend großformatige) Original nicht etwa in einem Museum hängt, sondern im Rathaus von Irún, der baskischen Grenzstadt. Entmutigend, da kommt man ja nie vorbei.

Außer man macht ein paar Jahrzehnte nach dieser Erkenntnis 17 Kilometer davon entfernt Urlaub, in San Sebastián.

Vorrecherche ergab: Ja, es hängt in der Pinacoteca des Ayuntamientos von Irún – wieder, denn 2021 wurde es für eine Zuloaga-Ausstellung an Estland verliehen. Was ich der Website des Irúner Rathauses allerdings nicht entnehmen konnte, war die Besichtigungsmöglichkeit. Aber ist ja wirklich nicht weit, gestern war zudem grausliches Wetter angekündigt: Wir fuhren einfach mal hin.

Der Regionalzug fuhr an einem Bahnhöfchen direkt hinter unserem Ferienwohnhaus ab; dass wir 25 Minuten darauf warten mussten, lag an der gründlichen Unzuverlässigkeit aller Online-Quellen für Abfahrtzeiten.

In Irún spazierten wir zum Ayuntamiento:

Nachfrage beim freundlichen Herrn an der Security-Schleuse (an seiner Uniform stand “Policía”) ergab: Eine Besichtigung der Ausstellungsräume (es gibt eine Sammlung baskischer Kunst) ist eigentlich nur an Samstagen im Sommer möglich – aber während er das sagte, stand er bereits auf, “um mal nachzusehen”. Ich erklärte ihm, um welches Gemälde es mir eigentlich ging, dass meine Familie aus Sepúlveda kommt, dass ich mit der Postkarte davon aufgewachsen bin.

Der Herr ging mit uns hoch zu den Räumen, öffnete mit seiner Smartcard vorsichtig die Tür zur Sala Capitular, in der der Zuloaga hängt – und schloss sie gleich wieder: Darin werde gerade gearbeitet, ob wir wohl in einer kleinen Weile („un ratito“) wiederkommen könnten? Aber klar! Wir vereinbarten einen ratito von einer Stunde. In dieser tranken wir café con leche am Rathausplatz und machten einen Spaziergang, ich war ziemlich wuschig vor Aufregung.

Als wir zurück ins Rathaus kamen, erwartete Herr Security uns schon. Der Raum, in dem vorher „gearbeitet“ wurde, stellte sich als der große Sitzungssaal des Rathauses heraus, mit holzgedrechselter Zuschauertribüne und allem. Wir bekamen sogar die Beleuchtung des Centerpieces des Saals angeschaltet und durften fotografieren (Beweisfoto für Mama!).

Da ich ja vor allem die Postkarte davon im Gedächtnis habe, kannte ich das untere Drittel des Gemäldes viel weniger. Im Gespräch mit Herrn Security erkannte ich, dass die abgebildeten Frauen einen Überrock als Umhang hochgeschlagen haben, der Unterrock der linken Figur besteht fast nur aus Flicken. Auch eine Überraschung: Das Bild ist deutlich dunkler als die Reproduktionen, die ich kenne. Ob es auch ursprünglich so ganz ohne das berühmte goldene Licht Kastiliens gemalt wurde (Zuloaga war ein großer Fan von El Greco) oder ob es schlicht restaurierungsbedürftig ist, kann ich natürlich nicht beurteilen.

An der gegenüberliegenden Wand hing das offizielle Bild des spanischen Königs Felipe VI., Rathaussaal halt. Herr Security, dem ich immer wieder herzlich dankte, bot sogar an, dass wir noch mehr Zeit mit dem Gemälde verbringen könnten, aber dafür hatte ich nicht die Ruhe. Zum Abschied betonte der Herr, dass wir jederzeit wiederkommen könnten, er oder einer seiner Kollegen am Eingang würden uns hereinlassen. Ich war sehr gerührt von seiner Freundlichkeit und Güte.

Das Gemälde “Mujeres de Sepúlveda” von 1909 ist in Spanien so berühmt, dass es an dem Punkt, von dem aus man diese Ansicht hat, einen Parkplatz „Mirador Zuloaga“ gibt. Ignacio Zuloaga (1870-1945) hat zu meiner Überraschung einen ungemein detailreichen Eintrag in der deutschsprachigen Wikipedia inklusive Forschungsstand bis 2019 und Zuloagas fragwürdige Rolle im frühen Franquismo.

Aber wie kommt das Gemälde nach Irún?

Zuloaga hat es der Stadt gewidmet/vermacht. (Wenn Künstler*innen bei solchen Gesten bitte bedächten, als Bedingung daran zu knüpfen, dass das Werk der Öffentlichkeit zugänglich gemacht wird?)

Spaziergang zurück zum Bahnhof mit ein paar Schleifen auf der Suche nach sowas wie Altstadtkern – gibt es nicht wirklich (was zu meinen inneren Bildern des Ortes passt, die vor allem mit Flüchtlingen vorm Nazi-Regime zu tun haben). Am Bahnhof trank ich zur Entspannung nach all der Aufregung ein Bier, Herr Kaltmamsell aß ein Stück Tortilla dazu.

Als wir nach San Sebastián zurückkamen, hatte auch ich richtig Hunger: Nach drei gab es in der Ferienwohnung zum Frühstück Apfel, Butterbrot und Feigen mit Joghurt.

Draußen regnete es lustig. In einer kurzen Pause schoss ich für ein paar Abendbrot-Einkäufe raus. Herr Kaltmamsell kochte nämlich den Rest Linsen vom Einkauf der Vorwoche mit Morcilla und Chorizo, dazu besorgte ich Zwiebel und Karotten. Schmeckte abends sehr gut (LINSEN!), Nachtisch Schokolade.

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Nicole Diekmann macht sich beunruhigte Gedanken über Regeln/Gesetze für Online-Plattformen, die per Definition nicht an die eines Staats gekoppelt sein können:
“Gibt es guten Hass?”

die Kaltmamsell

3 Kommentare zu „Journal Mittwoch, 28. September 2022 – San Sebastián 13: Wie ich einmal zu einem Gemälde fuhr“

  1. Schneizel meint:

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    Gerne gelesen

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  2. Hans-Georg meint:

    Es ist sicher ein unvergesslicher Tag, dass Sie das Originalgemälde anschauen durften.

  3. Saumselig meint:

    Was für eine schöne Geschichte! Und ein beeindruckendes Bild natürlich.

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