Journal Montag, 28. April 2025 – Recht auf Familiengeschichte?

Dienstag, 29. April 2025 um 6:16

Was mich dieser Tage beschäftigt:

Wenn Eltern selbst als Kinder/Jugendliche sehr Schlimmes erlebt haben, gar in der eigenen Familie: Wie gehen sie damit gegenüber ihren Kindern um? Erzählen sie es überhaupt? Wann, wie, wieviel erzählen sie, sollten sie erzählen? Auch wenn es wahrscheinlich sehr auf den Einzelfall und die konkreten Personen ankommt: Wo ist die Grenze zwischen Schonen und Verheimlichen?

Haben auch Mütter und Väter ein Recht darauf, das Wiedererleben durch Erzählen zu verweigern?

Ich erinnere mich nur an Lektüre der Kinder-Perspektive, sei es in der Fiktion oder als Sachtext: Da geht es um Menschen, die entweder “dunkle Familiengeheimnisse entdecken”, wie es gern formuliert wird,1 oder die mit der Last der elterlichen Erlebnisse fertig werden müssen. Aber was ist mit den eigentlichen Opfern in einer Eltern-Position?
Gibt es vielleicht dafür professionelle, spezialisierte Begleitung?

Denn sicher interessieren sich Kinder beim Heranwachsen irgendwann für die Biografien ihrer Eltern, sei es aus persönlicher Zugewandtheit, aus Neugier auf die Familiengeschichte oder weil sie ihre Eltern besser verstehen möchten. (Im schlechteren Fall weil irgendwas in der Beziehung zu ihnen schief läuft.) Gibt es ein moralisches Recht auf Familiengeschichte?

§

Letzte Schlafphase vor Weckerklingeln mit unangenehmen Träumen, in denen sich Menschen mir gegenüber illoyal verhielten, bei denen mich das besonders schmerzte.

Marsch zur Arbeit in angenehmer Frühlingsluft, geordnete Bürotätigkeit, während es draußen immer sonniger wurde.

Spaziergang zu Mittagscappuccino im Westend über Apotheken-Einkauf und bereits hemdsärmlig.

Auf dem Fensterbrett eines Cafés auf einem Metalltablettchen Cappuccino und ein Gläschen Wasser, eine Vase mit Blumen, davor sonnenbeschienene Straße

An einer hellen Altbaufassade in der Sonne klettert eine lila blühende Pflanze

Der Duft!

Ein schöner Juni-Vormittag mit Hitze-Ahnung. Nur dass es halt noch April ist.

Am Schreibtisch tauchte ich tief in die Umsetzungsvariante des Bundesreisekostengesetzes ein, die für mich relevant ist, summte beim Durchrauschen meiner gut bezahlten Arbeitsstunden das Mantra: “Es geht nicht darum Geld zu sparen, sondern die Regeln einzuhalten.” (Hat der Bundesrechnungshof eigentlich schonmal eine öffentliche Einrichtung gerügt, weil sie Steuergelder für zusätzliche Stellen zur Einhaltung der Bundesrechnungshof-Anforderungen vergeudet?)

Zu Mittag gab es selbstgebackenes Dänenbrot sowie Mango mit Sojajoghurt (immer noch nicht langweilig – und die gestrige Version besonders köstlich).

Bisschen Stubenfliegenhirn-iger Nachmittag, draußen weiter Sommer.

Heimweg über kurzen Obstkauf, zu Hause die Tages-Ration Pilates. Dann zog ich mich wieder vollständig an, denn Abendessen sollte es aushäusig geben: Auf dem Frühlingsfest auf der Theresienwiese.

Buntes Karussel in der Sonne, wenige Menschen davor

Autoscooter vor blauem Himmel mit einem großen Schriftzug "Distel"

Im Vordergrund auf einer weißen Papierserviette ein Langos mit viel geriebenem Käse, im Hintergrund ein Jahrmarktskarussel

Es gab Langos mit Sauerrahm und Käse, köstlich. Als Nachtisch bekam ich eine Schoko-Banane – in perfektem Reifezustand, ich genoss sie sehr. Stand der Volksfest-Kulinarik: Jetzt auch an mehreren Ständen die Leuchtschrift “vegan” (z.B. bei Churros).

Vor blauem Himmel ein Holzgestell mit einem Schild "Proseccostüberl", im Hintergrund ein Kirchturm

Auf einer Skala von 1 bis 10: Wie München kann es werden?

Buntes Karussel mit Schriftzug "Musik-Express" vor blauem Himmel in Abendsonne

Awww, das gab es schon in meiner Jugend!

Auch der Spaziergang in der Abendsonne und ohne Jacke war wundervoll. Daheim noch Osterschokolade.

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Kürzlich erzählte ich Herrn Kaltmamsell von einem Menschen, den ich eben persönlich kennengelernt hatte, und schloss die Beschreibung des Kennenlernens mit: “War mir sympathisch.” Worauf Herr Kaltmamsell mich fragte, ob das auch mal anders sei. Erst dadurch wurde mir klar: Neue Menschen persönlich sind mir eigentlich immer erstmal sympathisch. Selbst wenn ich befremdet bin, selbst wenn ein Teil von mir vor ihnen auf der Hut ist – erstmal Wohlwollen. Ich muss schon als Erstes an ihnen persönlich und live eine böse Tat sehen (z.B. Aggression oder Arschlochigkeit), damit sie mir auf den ersten Blick unsympathisch sind.

§

Auch mal loben. Das tut zum Beispiel Kathrin Hollmer in Übermedien die Apotheken Umschau:
“Frauen, die die Welt erklären”.

Bis vor ein paar Jahren habe bei der Auswahl von Expert:innen niemand auf deren Geschlecht geachtet, sagt Julia Rotherbl im Gespräch mit Übermedien. Als sie 2021 Chefredakteurin der „Apotheken Umschau“ wurde, fing sie an, in den Ausgaben durchzuzählen. „In manchen Heften wurden 80 Prozent Experten und 20 Prozent Expertinnen zitiert“, sagt sie. Ihr liebstes Beispiel: In einem Artikel über Mammographie antwortete auf die Frage, ob die Untersuchung schmerzhaft sei, ein Mann, der einer gynäkologischen Fachgesellschaft vorsitzt. „Das ging mir so gegen den Strich“, sagt Rotherbl. „Man muss keine Brüste haben, um ein Brustkrebsexperte zu sein, aber bei der Frage sollte doch wohl jemand mit Brüsten zu Wort kommen.“

  1. Floskeliert? Antrag auf Einführung dieses Begriffs für Formulieren als Floskel. []
die Kaltmamsell

12 Kommentare zu „Journal Montag, 28. April 2025 – Recht auf Familiengeschichte?“

  1. Trulla meint:

    “Gibt es ein moralisches Recht auf Familiengeschichte?”

    Das ist eine interessante Frage, die ich spontan mit “Jein” beantworte und dann erst beginne, ernsthaft darüber nachzudenken.

    Ich erkenne gute Gründe, wenn erwachsene Menschen ein Kapitel ihres Lebens in sich vergraben und darüber schweigen möchten. Und billige ihnen dieses Recht zu. Andererseits sind aber auch Kinder berechtigt, ihre Wurzeln deuten und verstehen zu können. Deshalb meine ich, dass FRAGENDE Kinder ehrliche Antworten erhalten müssten.

    Werden keine Fragen gestellt, erübrigt sich die Diskussion. Es bleibt eine individuelle Entscheidung und kein evtl. Recht wäre verletzt worden.

    Und so lande ich letztlich wieder bei meinem “Jein”.

  2. Sandra meint:

    Bei uns wurde das erzählt. Ich glaube, meine Mutter hatte nie ein richtiges Gegenüber dafür und ist Fremden gegenüber sehr verschlossen. Geht die schon nichts an, was es zum Frühstück gab. Mein Opa als Täter ist schon verstorben, als ich 7 war. Vorher gab es ganz normalen Familienkontakt. Sonst hätte ich ihn nicht mehr leiden können. Das Verhältnis zu meiner Oma hat sich aber verändert. Ich konnte nicht verstehen, warum sie nicht meine Mutter gepackt hat und gegangen ist. Sie hat sich zwar oft dazwischengeworfen und eingesteckt, was für meine Mutter bestimmt war, aber dauerhafter Schutz war das nicht. Heute ist mir klarer, dass das nicht so einfach gewesen wäre,wie heutzutage. Die Abhängigkeit war größer.
    Sind die Kinder erwachsen und die Täter nicht mehr im Alltag dabei fände ich Erzählen richtig,wenn das Opfer es möchte. Ich finde nicht, dass wer anderes Anspruch darauf hat. Im Rückblick war ich zu jung und die Oma als Zuschauerin zu präsent bei mir.
    Leider hat meine Mutter nie Hilfe in Anspruch genommen. Das hätte ihr gut getan. Sie ist noch immer sehr ergeben anderen gegenüber. Zum Glück hat sie keinen Täter geheiratet und auch liebe Kinder bekommen, sodass sie jetzt nichts mehr befürchten muss.

  3. Jule meint:

    Diese Frage beschäftige ich mich auch sehr.
    Ich weiß, dass meine Mutter schlimme Erlebnisse hatte, mehr als wage Andeutungen gab es aber nie. Grundsätzlich bin ich der Meinung, dass es die Freiheit jeden einzelnen ist die eigene Geschichte zu erzählen oder eben auch nicht.

    Jetzt wird meine Mutter jedoch älter, und oft ist da die Ahnung, dass lange tief vergrabenes plötzlich an die Oberfläche drängt und zwar in Formen die für Außenstehende (dazu zähle ich auch mich) nicht verständlich sind.

    Heute würde ich mir wünschen, dass sie einmal darüber geredet hätte damit ich angemessen reagieren könnte, Retraumatisierung vermeide etc.

  4. Melanie meint:

    Eine gute Frage! Abgesehen von einem Recht auf eine Familiengeschichte gibt es m. E. auch eine Schutzpflicht, die diskutiert werden kann. Meine Mutter hat zu viel erzählt, mein Vater hat so gut wie nichts erzählt. Beides auf unterschiedliche Weise ungut.
    Ich versuche einen „Mittelweg“ zu finden, der sich mit steigendem Alter meiner Kinder verändert. Es gibt Dinge, die ich ihnen nicht erzählen will, weil diese Dinge eher eine Belastung wären, als das sie größere Erkenntnisse bringen würden. Vielleicht ändere ich meine Meinung, wer weiß.

  5. Croco meint:

    Das hat mich auch lange beschäftigt. Die Geschichten aus dem Krieg, die ich erzählt bekam, waren kindgerecht geglättet. Und dabei haben meine Eltern viel Schlimmes erlebt und gesehen. Bei den Schwiegereltern war es ähnlich.
    Warum wir nichts erzählt bekamen von Flucht, Gefangenschaft, Hunger, Tote? Sie wollten uns nicht belasten, sagten sie.
    Und später merkte ich: …und sich auch nicht. Vielleicht konnten sie nur weiter leben, weil sie alles verdrängten?

  6. Neeva meint:

    Hmm. Schwierige Frage. Als moralische Pflicht würde ich nur sehen, dass Eltern ihre Kinder vor noch bestehenden Gefahren bzw. gefährlichen Personen warnen und fernhalten.
    Aber erzählen, was vorgefallen ist… Das ist nur nötig, wenn Anpassungen erforderlich sind, d.h. die Eltern z.B. besondere Rücksicht brauchen oder nicht funktionieren können.
    (Zum Beispiel verabschiede ich mich immer im Hellen von meinem Opa und gehe nach Hause. Weil meiner Oma mal “was passiert” ist.)

    Was man ja auch bedenken muss: Erzählungen, insbesondere über traumatische Erlebnisse, sind höchst unzuverlässig. Leute überschreiben ihre Erinnerungen ständig.

  7. Frau Klugscheisser meint:

    Im Zusammenhang mit Familiengeschichte erinnere ich mich an Deine Fragen nach Erlebnissen der polnischen Oma. Das hat mich bewegt und zum Nachdenken gebracht.

    Zwei Aspekte sind mir wichtig:

    1. Schlimme Erlebnisse lassen eine Person meist – nicht immer – traumatisiert zurück. Ein Trauma wirkt sich auf die emotionale Erlebnis- und Beziehungsfähigkeit reduzierend aus. Schutzbefohlene, vor allem kleine Kinder, spüren das unbewusst und leiden womöglich darunter, weshalb sich so viele von ihnen später auf die Suche nach Ursachen machen. Traumata werden generational weitergegeben – psychisch wie epigenetisch. Um die Weitergabe eines generationalen Traumas zu unterbrechen, muss sich eine Person über die Situation bewusst werden. Dazu genügt es, transaktionale Vorgänge zu beobachten. Es braucht keine geschichtliche Rekonstruktion.

    2. Das Opfer-Dilemma der Scham: Opfer werden von Tätern und Mitwissenden zum Schweigen gebracht und so eine Tat ermöglicht, ein Zustand aufrechterhalten oder eine Tat gar ungeschehen gemacht (totschweigen). Das Opfer hat aber als betroffene Person ein moralisches Recht zu sprechen. Wie das Umfeld darauf reagiert, ist deren Sache.

    Meine Schlussfolgerung lautet: Jede Person definiert ihre emotionale Grenze in Bezug auf Schutz der eigenen Psyche – wieviel sie erzählt, steht in direktem Zusammenhang zu ihrer emotionalen Kapazität der Verarbeitung. Kein Mensch hat ein Anrecht, diese Grenze zu überschreiten. Ein moralisches Anrecht auf Antworten besteht demnach nicht, womöglich aber eines auf Fragen. Im Idealfall wird aber intergenerational freiwillig und konstruktiv über die familiäre Vergangenheit gesprochen.

  8. Franziska meint:

    Oh das ist eine spannende Frage. Meine Mutter hat mir vor vielen Jahren die Briefe meines Vater überlassen, die er an seinem im Westen lebenden Vater geschrieben hat. „Mach damit, was du willst.“ Als ich mich jetzt näher damit beschäftigt habe, auch mit der Idee, etwas Fiktionales draus zu machen und Rückfragen an sie richtete, sagte sie: „Meinst du, es wäre ihm recht, dass du jetzt in seiner Vergangenheit herumwühlst.

    Immer schwierig.

  9. Ellen meint:

    In den Kommentaren wird nur über bewusstes Erzählen gesprochen. Es ist allerdings so, dass Kinder vieles unbewusst und teilweise sogar sehr heftig mitbekommen, ohne dass sie das einordnen können. Das kann extrem belasten. Und oft übernehmen Kinder unbewusste die Schuld der Erwachsenen. Bei unserer Geschichte ein sehr schwieriges Thema.

  10. Joel meint:

    Ich möchte in dem gleichen Zusammenhang an ein Phänomen der Kriegsenkel erinnern. Ich habe mich vor vielen Jahren damit auseinandergesetzt. Ich las in dem Zusammenhang das Buch von Matthias Lohre/ Das Erbe der Kriegsenkel. Lore beschreibt darin die Suche nach seiner eigenen Familiengeschichte , als sein Vater bereits verstorben war und dass er an traumatischen Erlebnissen litt, die er nie hatte. Traumata wären somit vererbbar. Ein spannendes Forschungsfeld. Ich erkannte mich damals stellenweise in dem Buch wieder. Mein Vater hat, wie der Vater von Lohre, nie oder nur sehr wenig über den Krieg gesprochen bzw. über das was mein Großvater erlebt hat.
    Meine Antwort nach dem moralischen Recht auf Familiengeschichte wäre somit ein klares Ja.

  11. S. meint:

    Aus der Sicht einer Mutter, deren eigene Mutter suchtkrank war, was sicher so einiges mit mir gemacht hat – nicht vergleichbar mit Kriegserlebnissen, aber in vielen Familien auch ein behütetes Geheimnis: ich erzähl(t)e meinen Kindern jeweils altersgerecht, warum ihre Großmutter früh gestorben ist. Und als sie älter wurden, erzählte ich auch, dass das für mich natürlich schlimm war, auch das Leben mit dem suchtkranken Elternteil. Ich kann es allerdings auch recht aufgeräumt erzählen, so viel Abstand habe ich inzwischen. Aber wie weiter oben schon geschrieben wurde: ich finde es meinen eigenen Kindern gegenüber nur fair, dass sie wissen, was mir schon an Widrigkeiten passiert ist, das hilft bei der eigenen Einordnung, warum sie mich wie erleben. Wäre ich allerdings noch tief traumatisiert, würde ich das – wenn überhaupt – erst sehr spät im Leben meiner Kinder ansprechen.

  12. Isa meint:

    Ich beschäftige mich gerade als Mutter mit dieser Frage. Der Suizid meines Vaters war ein für mich sehr traumatisches Erlebnis. Am besten geht es mir, wenn dies im Alltag keine Rolle spielt. Auch wenn ich viele Jahre Therapie gemacht habe, vieles verarbeitet ist, so ist doch jedes konkret darüber sprechen anstrengend und belastend. Gleichzeitig merke ich als Mutter, dass es im Alltag und Zusammenleben mit den Kindern zu Momenten kommt, wo dieses Trauma mein Handeln beeinflusst und auch meine Kinder zeigen an, dass sie Dinge davon mitnehmen. Unausgesprochene Ängste, unverarbeitete Gefühle, das alles belastet die kindliche Entwicklung. Daher bevorzuge ich es, den Kindern auf möglichst schonende und neutrale Art und Weise zu erklären, was gerade weswegen in mir passiert, um eine Weitergabe des Traumas möglichst zu vermeiden. Auch wen es für mich schwer ist. Ich glaube auch ein nicht -darüber – sprechen würden Folgen haben, die mich als Mutter belasten. Insofern ist es – wie jedes Trauma – so oder so eine unangenheme Aufgabe, der ich mich stellen muss.

Beifall spenden: (Unterlassen Sie bitte Gesundheitstipps. Ich werde sonst sehr böse.)

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