Journal Donnerstag, 29. Mai 2025 – Berlin, Tag 6: Nochmal Yoko Ono, diesmal mit “Ach so!”-Effekt
Freitag, 30. Mai 2025 um 11:09Ausgeschlafen, Pläne für die Stunden bis Nachmittagsverabredungen nur ohne Uhrzeit-Etikett zugelassen.
Die Bloggerin in Hotelzimmer-Schlumpf.
Das Wetter deutlich freundlicher, nach spätem Abschluss des Blogposts wollte ich raus. Ich ging auf einen Mittagscappuccino in das bereits vertraute Eck-Café, nahm mir ein Sandwich für spätere Brotzeit mit, spazierte ein Stündchen durch Mitte und Prenzlauer Berg.
Während ich beim Verlassen des Hotels noch überrascht über die zapfige Frische gewesen war, wurde es in dieser Spaziergangsstunde steil wärmer, bis ich eigentlich nicht mal mehr eine Jacke brauchte, der Kreislauf sandte Fragezeichen.
Meine Gefühlspolizei ahndet ja Trauer über Veränderungen und belehrt mich, dass nichts gleich bleibt und Veränderung Leben ist, doch mir wurde halt doch weh beim Spaziergang durch all die neuen Protzbauten und geschniegelten Renovierungen (nicht abgebildet). Berlin wird in meinen Augen von einer Stadt der Geschichte und der Möglichkeiten zu einer Ansammlung von undiskutierbaren Fakten.
Das Park Inn, in dem ich untergebracht war, bot am Spiegel überm Waschbecken einen eigenen Knopf, mit dem man die Zimmerreinigung für den Folgetag abbestellen konnte (begrüßenswerte Idee). Den hatte ich für gestern gedrückt, weil ich vormittags Ruhe wollte und keine Reinigung nötig war. Doch als ich zurück in mein Zimmer kam, stellte ich fest, dass der abbestellte Zimmerservice doch da war – wo ich doch wegen Abbestellt nicht ordentlich aufgeräumt hatte: Unter anderem trockneten mein gesamtes Milchkaffee-Equipment in Einzelteilen und das Geschirrtuch über die spärlichen Möbel verteilt. Auch die Bad-Ablage räume ich sonst auf. Das tat mir leid.
Frühstück um halb zwei waren ein Apfel und ein Ruccola-Käse-Sandwich – nicht so gut wie das Sprossen-Karotten-Tofu-Sandwich aus derselben Quelle. Ich machte mich so rechtzeitig zu meiner Verabredung auf, dass ich zu Fuß gehen konnte: Im Gropiusbau wollte ich die eigentliche Yoko-Ono-Ausstellung sehen, “Music of the Mind”, nachdem mich der Teil in der Neuen Nationalgallerie enttäuscht hatte. Dafür hatte ich mich mit einer weiteren weit zurückreichenden Blog-Freundin verabredet.
Der Gropiusbau, den ich immer in zeitgenössischer Architektur im Kopf hatte (der Name weckte Assoziationen zu 60er-Beton – können Sie mir erklären, warum?), bis ich ihn Ende 2024 beim Besuch des benachbarten Dokumentationszentrums Topografie des Terrors zum ersten Mal sah.
Begrüßungsschwatz mit Freundin, ab in die Yoko-Ono-Ausstellung.
Um es kurz zu machen: Ich war begeistert. Onos Kunstansatz, der das Publikum vor allem in den ersten Jahrzehnten ihres Schaffens immer einschließt, mitdenkt, herausfordert, kommt meiner Grundhaltung als hardcore Rezeptionsäthetikerin entgegen: Kunst erhält durch die Betrachterin Bedeutung , wenn sie sich nicht sogar erst in der Rezeption manifestiert. Weshalb sich ein Kunstwerk auch über die Jahrhunderte verändert: Unterschiedlicher Zeithintergrund in der Rezeption erzeugt unterschiedliche Kunstwerke – da mag die Stofflichkeit durchaus dieselbe bleiben (was sie ja genau betrachtet auch nicht tut) und eine eigene Untersuchung wert sein.
Ist es noch Kunst, wenn niemand hinguckt? Und: Wenn jemand hinguckt, kann dann auch ein besonderer Stein, eine Sandformation Kunst werden?
Yoko Ono macht die Betrachterin sogar zur Kunsterzeugerin, in verschiedensten Variationen über die vielen Jahrzehnte ihres Schaffens.
Am reinsten überfiel mich diese Erkenntnis gleich im ersten Raum der Ausstellung: An den großen, leeren Wänden, auf dem Boden, an der Decke, sogar an den Fenstern stehen kurze, handschriftliche Sätze wie „This room gets as wide as the ocean on the other end.“
Die Umsetzung bleibt der Vorstellungskraft der Leserin überlassen.
Oder ihre Anleitungen für Kunst:
“Des kannt’ mei 4-jährige Tochter aa!”? Wahrscheinlich, aber sie wäre halt nie auf die Idee gekommen. Yoko Ono hält hier nur die Idee fest – zu einem KunstWERK kann sie jeder und jede machen, dennoch bleibt Yoko Ono die Schöpferin, Künstlerin. Brillant.
Schwarze Umhänge, in die Besucher*innen schlüpfen sollen und Skulpturen formen. (Viel Heiterkeit bei den Betrachterinnen.)
<3
Widmung des Yoko-Ono-Buchs Grapefruit von 1964.
An diesem Kunstwerk (Shadow Piece) beteiligte ich mich auch und malte wie angewiesen die Silhouette meines Schattens mit einer der bereitgestellten Wachsmalkreiden nach.
Meine Begleitung wiederum trug zu diesem Nagelstück bei.
Und was zum Mitnehmen: Von der Decke hingen Stahlhelme in verschiedener Höhe, alle gefüllt mit Puzzlestücken – die zusammen blauen Himmel ergeben sollen.
Ja, eine sehr textlastige Ausstellung, wie meine Begleitung zurecht mehrfach bemerkte, und eigentlich beharre ich ja bockig darauf, dass Kunst keine Erklärung benötigen müssen darf.1 Doch in diesem ganz speziellen Fall akzeptiere ich die Unerlässlichkeit.
Keramik-Sponsoring.
Wir ließen uns im Museumscafé nieder und stürzten uns in den eigentlichen Zweck unseres Treffens: Reden. Das setzten wir Stunden später in einer Pizzeria in Schöneberg fort (dorthin lange Autofahrt, weil meine Begleitung eigentlich ein anderes Lokal ganz woanders ansteuerte – das allerdings mittlerweile geschlossen ist): Nach langen Jahren komplett ohne bekam ich diesmal reichlich Berlin-Ansichten durch Autofenster (unter anderem auf einen fliegenden Kormoran).
Foto: @uteschirmack
Gute Pizza, mehr Reden, nach fast zwanzig gemeinsamen Jahren im Web auch Austausch von Informationen über den Verbleib gemeinsamer Online-Bekannter.
Rückweg zum Hotel nur bis Friedrichstraße mit der S-Bahn: Ich fühlte mich noch unterbewegt und wollte Abschied von Berlin nehmen können. (Nachdem allerdings exakt gestern Verwandtschaft nach Berlin zog, plane ich baldige Rückkehr.)
Es war dann meine Begleitung, die daheim merkte, dass wir es nie zu Influencerinnentum bringen werden: Wir hatten kein gemeinsames Selfie gemacht. Sie hat übrigens auch den Ausstellungsbesuch als instagram-Story gepostet.
- Für diese Konstruktion hat Wolf Schneider in der Hölle wahrscheinlich eine eigene Abteilung einrichten lassen. [↩]
6 Kommentare zu „Journal Donnerstag, 29. Mai 2025 – Berlin, Tag 6: Nochmal Yoko Ono, diesmal mit “Ach so!”-Effekt“
Beifall spenden: (Unterlassen Sie bitte Gesundheitstipps. Ich werde sonst sehr böse.)
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30. Mai 2025 um 11:41
Gropius und 60er-Beton: das liegt an der Hochhaussiedlung namens Gropiusstadt. Von der berichtet z.B. Christiane F. (“Wir Kinder vom Bahnhof Zoo”). Sie ist dort aufgewachsen.
Die Wikipedia hat einen Artikel dazu.
30. Mai 2025 um 11:52
Ah richtig, danke Friederike!
30. Mai 2025 um 12:30
Gropius steht für Bauhaus => Architektur der klassischen Moderne => Beton; die Assoziationskette erscheint mir naheliegend. Auch wenn konkrete Gropius-Bauten, die evtl. zu dieser Assoziation passen (s. bspw. Bauhaus-Schulgebäude und Meisterhäuser Dessau) schon aus den 20er Jahren stammen.
30. Mai 2025 um 12:49
Der Bauhaus-Gründer Walter Gropius ist ein Großneffe des Architekten Martin Gropius (1824-1880)
Im nördlichen Teil von Gropiusstadt leben wir mitten im Grünen wie in einem Park, die furchtbaren Hochhäuser kamen wegen des großen Wohnungsbedarfs später.
30. Mai 2025 um 18:09
Ich hätte auch gern das Berlin der Möglichkeiten zurück…
31. Mai 2025 um 9:48
Wunderbares Pizzabild. Sie sind echt schön.