Journal Dienstag, 28. Oktober 2025 – Von der inneren Kibbuznik und dem Altern des guten Benehmens
Mittwoch, 29. Oktober 2025 um 6:29Gute Nacht mit fast durchgehendem Schlaf. Es tagte ohne Regen, lediglich mit bedecktem Himmel, und schon freute ich mich über das frühere Hellwerden.
Beim Marsch in die Arbeit spürte ich die leichte Erwärmung der Luft im Vergleich zu den Tagen davor, schon wieder Freude.
Herbstpastell.
Im Büro freute ich mich nach einer Tasse Schwarztee an einer Kanne Lindenblütentee. Mittagscappuccino in der hauseigenen Cafetería, denn ich wollte noch raus zum Lidl (Bananen und Kondensmilch fürs Büro).
Mittags kam die Sonne raus, ich begrüßte sie herzlich und mit weiterer Freude (man soll mir nicht vorwerfen können, ich machte es mir nicht SCHÖN).
Als Mittagessen gab es eine Crowdfarming-Avocado (mal eine dünnschalige Sporte, etwas schwieriger zu löffeln, aber mit gutem Geschmack), außerdem Mango mit Sojajoghurt.
Nach Feierabend ging ich auf direktem Weg nach Hause, ich war mit Herrn Kaltmamsell zum aushäusigen Abendessen verabredet. Davor hatte ich noch Zeit für eine Einheit Yoga.
Wir spazierten für chinesisches Essen zum Shanghai in der Sonnenstraße, dort verließen wir uns auch ohne Reservierung auf einen freien Tisch. Den bekamen wir wie geplant, doch die Gasträume waren deutlich voller als erwartet.
Auch hier ist das Angebot mutiger geworden (es gibt aber immer noch das gute deutsche Schweinefleisch süß-sauer): Neben Rinderwade in Schwarzbohnen-Sauce und Wasserspinat mit Knoblauch bestellten wir auch ein Fischgericht. Der Service warnte uns, dass es sich um Fischstücke mit Gräten handle, damit kommen wir zurecht. Die Darreichungsform erinnerte mich an den Fisch nach Bauernart im legendären Berliner Ming Dynastie nahe der chinesischen Botschaft, der in Öl mit Chilis confiert wird und darin schwimmend und mit einem Sieb zum Rausfischen serviert. Hier war es nicht Öl, sondern eine scharfe Brühe. Alles schmeckte ganz ausgezeichnet, und am Fisch mussten wir halt ein wenig fieseln.
Daheim gab es als Nachtisch wieder Schokolade.
Schließlich meldete ich mich dann doch als Wahlhelferin zur Kommunalwahl im März 2026 an. Die Anfrage war schon im September eingetroffen, doch hatte ich ungute Erinnerungen an den Einsatz bei der vorhergehenden Kommunalwahl 2020: Sie fiel auf den Anfang der Corona-Pandemie, dadurch gab es sehr viel kurzfristige Rückzieher von Wahlhelfenden und Personalnot, was wiederum am Wahltag zu einiger Improvisation und spontaner Abstimmung sowie Unsicherheit führte, dazu kommt ein hochkomlexes Auszählverfahren über einen Abend und den Folgetag. Doch jetzt überwog endlich das Pflichtgefühl: Ich mache ja sonst gar nichts ehrenamtlich und für die Gesellschaft, und wer sagt bitte, dass solch ein Einsatz Spaß machen muss. Demokratie braucht freie, faire Wahlen, die funktionieren nur mit ausreichend Wahlhelfer*innen, irgendjemand muss es machen, ich kann den Einsatz völlig problemlos ermöglichen, also stelle ich mich bitte nicht so an. (Das ist der Tonfall meines inneren Kibbuznik.)
Diesmal lasse ich mich aber vom Arbeitgeber für das Auszählen am Montag freistellen, statt einen Urlaubstag zu nehmen (den freien Tag für den Einsatz am Sonntag beantrage ich wieder nicht). Spannend wird herauszufinden, wie sich das im Zeiterfassungssystem abbilden lässt.
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Es gibt Frauennamen, die ich im Kopf automatisch mit Artikel lese, u.a. d’Roswitha (mit Doppel-T), datt Bejonze, s’Annettsche.
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Maximilian Buddenbohm bloggte über
“Fremd gewordene Formen”.
Ich bedaure das nur, weil ich auch aus dieser alten Zeit komme und mir eine Art geistiges Heimweh also sehr wohl zusteht, durch abgelebte Jahrzehnte erwirtschaftet.
Das ist gnädiger, als ich meist mir selbst gegenüber bin: Oft verbiete ich mir dieses Bedauern und schelte mich für klebrige Nostalgie. Für Eltern muss es kompliziert sein, wenn sie ihrem Nachwuchs förmliches gutes Benehmen beibringen wollen: Was gilt noch, hat noch Gewicht, was ist überholt? Bringt man Kindern noch bei, Erwachsenen zum Gruß die Hand zu geben? Oder beschränken sich Eltern darauf, auf dem Gruß zu bestehen? “Sag hallo”?
Auch ich möchte keineswegs alles bewahren: Erst kürzlich unterhielt ich mich über das Verschwinden von Krawatten in männlicher Kleidung, und mir fielen so viele hässliche Krawatten ein, so viele Männer, deren Gesamtanblick durch Krawattentragen verschlechtert wurde, dass ich diese Entwicklung nur begrüße. An Tischmanieren halte ich deutlich stärker fest: Ich möchte in meinem Blickfeld kein Gefuchtel mit Besteck, möchte den Mundinhalt beim Kauen nicht sehen, kein Mundabwischen mit Handrücken, reagiere (innerlich) ungehalten auf Gefläze quer über den Esstisch. (Allerdings finde ich auch den Anblick überwuchernder Rauschebärte beim Essen eklig, bin also sicher unbrauchbar als allgemeiner Maßstab.)
Worin ich mich immer noch nicht einfinde, ist der veränderte Umgang mit dem Siezen. Mittlerweile eiere ich in meiner deutschen Muttersprache und Geburtskultur fast so stark wie im Spanischen mit seinem komplett anderen System (u.a. ohne Gegenseitigkeit).
Ich habe dazu wenig Meinung, will mich ja einfach nur unauffällig einfügen. Doch nicht mal in Geschäften kann ich mich auf gemerkte Regeln verlassen, dass sich nämlich einander unbekannte Erwachsene erstmal siezen: Beim Nachfragen als Kundin nach einem Pulli werde ich angeduzt und bin verunsichert. Dabei ist das der eigentliche Zweck von Benimmregeln: Sicherheit im zwischenmenschlichen Umgang, zumindest auf der formalen Ebene. Bei klaren Ansagen kann ich durchaus meine angelernten Reflexe wegdrücken: In einem Bereich (z.B. der Arbeitsabteilung) wird konsequent geduzt? Super, gehe ich mit. Doch was ist mit der Nachbar-Abteilung, auf die ich in der Teeküche stoße? Erzählen Sie mir nicht, was Sie in solchen Situationen tun und wie einfach Ihnen das fällt – MIR fällt das überhaupt nicht einfach und macht mich noch menschenscheuer als eh schon.
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Wir brauchen gute Nachrichten:
“Indigenous artifacts held in Vatican Museums finally heading back to Canada”.
Auch wenn diese guten Nachrichten eigentlich erst durch ganz schlechte Taten vorher möglich sind.
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Sie dachten, Fensterrentner seien schlimm, die Falschparker aufschreiben? Denken Sie neu, die werden wenigstens nicht handgreiflich. (Aus einem Druko: “Now THATS how you clear a crosswalk.”)
4 Kommentare zu „Journal Dienstag, 28. Oktober 2025 – Von der inneren Kibbuznik und dem Altern des guten Benehmens“
Beifall spenden: (Unterlassen Sie bitte Gesundheitstipps. Ich werde sonst sehr böse.)
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29. Oktober 2025 um 7:28
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Gerne gelesen
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29. Oktober 2025 um 8:14
Benimmregeln: Danke für die Formulierung des Unwohlseins beim Siezen-Duzen. Mir geht es genau so und ich konnte lange nicht einordnen, warum ich da ein Problem mit habe. Aber es ist so, wie Sie schreiben: Eigentlich sind die Regeln nur eine Hilfe, damit das Zusammenleben und Interagieren insbesondere mit Fremden problemlos klapp. Jetzt ändern sich diese Regeln und man selbst wird mit Ende 40 verunsichert. Ich finde das nicht schlimm. Ich beobachte das mit Interesse bei mir.
Allerdings: Beim Kauen mit offenem Mund und Schmatzen kenne ich kein Pardon. Das geht einfach nicht.
29. Oktober 2025 um 9:06
Oh ja, das mit dem Siezen und Duzen bei der Arbeit finde ich auch anstrengend, vor allem dann noch die Leute, die nicht nett das Du anbieten können, sondern vom einen auf den anderen Tag drauf los duzen. Gott sei Dank ist an meinem jetzigen Arbeitsplatz überall das Du gesetzt, auch, wenn man sich noch gar nicht kennt.
In Geschäften werde ich nicht geduzt :lol:
In der Gastro ist das Sie für mich absolut okay, brauche da kein Du.
Generell finde ich grundlegende Benimmregeln immer noch sehr wichtig, damit sich alle wohlfühlen. Mit der Mode, Kappen in Räumen oder sogar beim Essen zu tragen, komme ich gar nicht klar, und weiß selbst nicht so genau, warum.
Und ja, die Rauschebärte!!!! *grausgrausgraus* (Leider kein Etikettefehler…)
29. Oktober 2025 um 10:01
In der Arbeit wird bei jedem neuen Zusammentreffen gefragt, ob wir uns Duzen wollen. Ansonsten bleibe ich konsequent beim Sie, selbst wenn ich geduzt werde. Damit fühle ich mich wohler. Was die Anderen tun (mich duzen), ist für mich irrelevant, denn das sind die Regeln, die ich verinnerlicht habe.
Zu den Motorradkurieren: im Ausland (China, Südamerika) tatsächlich nochmal penetranter als bei uns, fahren auf Gehwegen (auch sehr engen) und in Kreuzungen, über rote Ampeln und durch Menschenmengen. Da bekomme auch ich Aggressionen. Vielleicht besorge ich mir so ‘ne Poolnudel.