Journal Mittwoch, 20. August 2025 – Vorurlaubsendspurtgefühl

Donnerstag, 21. August 2025 um 6:36

Gute Nacht bis eine halbe Stunde vor Weckerklingeln, als sich Angst in meiner Kehle verbiss.

Ich hatte noch Gelegenheit, den Übernachtungsgast zu verabschieden, bevor ich mich angespannt durch kühle Luft auf meinen Arbeitsweg machte.

Geordnete Emsigkeit im Büro, ich bekam endlich eine Angelegenheit weg, deren Papier-Unterlagen bereits Schimmelränder angesetzt hatten.

Die Luft hatte eigentlich die ideale Temperatur für gekipptes Bürofenster – nur dass für den Umbau des S-Bahnhofs Heimeranplatz gerade Maschinen eingesetzt wurde, die mit einem nervigen Quietschrumpeln lärmten, das bis in mein Rückenmark drang: Fenster zu.

Mittagscappuccino im Westend, Temperatur unter bewölktem Himmel sehr angenehm. Wenn es so in der Woche Wien bliebe, wäre es mir sehr recht.

Mittagessen: Bananen, Quark mit Joghurt.

Im Verlauf den Nachmittags wurden die Wolken immer dunkler, irgendwann grollte daraus auch Donner.

Vor Monaten schon gebucht, lang befreut: Der Feierabendtermin für Pediküre und Kosmetik. Die Kosmetikerin hatte gestern um eine Verschiebung um 15 Minuten nach hinten gebeten, so kam ich nicht ganz so pünktlich aus dem Büro wie geplant. Zudem hatte es eine halbe Stunde zuvor begonnen zu regnen – und jetzt schüttete es derart, dass ich eine Station U-Bahn fuhr, um nicht trotz Schirm nach 20 Minuten Fußweg völlig durchnässt anzukommen.

Angenehme Pediküre mit Plaudern über Urlaubspläne, noch angenehmere Gesichtsbehandlung. Und beides dauerte lange genug, dass der Regen aufgehört hatte. Ich ging in schöner, abgekühlter Luft nach Hause und gab unterwegs Herrn Kaltmamsell durch, dass wir das angedachte Abendessen im Schnitzelgarten lieber bleiben ließen.

Daheim hängte ich eine eben durchgelaufene Ladung Wäsche auf (alles getimet auf den Wien-Urlaub), während Herr Kaltmamsell zum Abendessen Spaghetti mit scharfer Tomatensauce kochte. Schmeckten sehr gut, Nachtisch Eiscreme.

Dann doch ein wenig Wien recherchiert und zumindest in Google Maps Einmerker gesetzt. Im Moment bin ich so durch, dass meine Sehnsüchte nicht weit über Bankerlsitzen mit schöner Aussicht hinausgehen. Doch der Appetit kam beim Essen, und so habe ich jetzt für fast jeden Tag dieser Urlaubswoche einen Wunsch, zudem in einem weiteren, ausgesprochen attraktiven Restaurant einen Tisch reserviert. Was Essen betrifft, war mir schon lange klar: Wiener Gastronomie lockt mich nicht nur mit einer eigenen Tradition, die durch Respekt vor den Zutaten geprägt ist, sondern vor allem mit exzellenter Einwandererküche. Jetzt dann doch Vorfreude und Endspurtgefühl.

Neue Lektüre: Ottessa Moshfegh, Eileen – hatte ich schon lang auf meiner Lesewunschliste. Diesmal war ich so schlau, erstmal im Inhaltsverzeichnis zu prüfen, ob der Roman die ganze Datei lang ist: Nein, ist er nicht! Bei 94 Prozent fängt die Leseprobe eines anderen Buchs an, jetzt kann mich das nicht mehr überraschen. Der Roman nahm mich mit in einen kleinen, trostlosen US-amerikanischen Ort 1964 an der Ostküste und im Winter und in das trostlose Leben einer jungen Frau.

§

Rebecca Kelber hat für Krautreporter mit Anne Brorhilker gesprochen, bis vor einem Jahr Deutschlands bekannteste Cum-Ex-Staatsanwältin. Sie schildert, wer den Kampf gegen Finanzkriminalität behindert.
“Interview: Wie Deutschland wirklich Steuerraub bekämpfen könnte”.

Diese CumEx-Geschäfte waren in jeder Hinsicht gigantisch: Man benötigte immens viel Startkapital, um die Geschäfte überhaupt starten zu können, die gehandelten Aktienpakete waren wahnsinnig groß und die erschlichenen Steuererstattungen bewegten sich jeweils im zwei- und dreistelligen Millionenbereich. Weil die Dimensionen so groß waren, mussten diese Trades intern genehmigt werden, und der Genehmigungsprozess geht einmal quer durch die Bank bis zum Vorstand. Wir haben E-Mails innerhalb von Banken gesehen, bei denen 50 Personen im Verteiler waren. Das machte uns klar: hier ging es nicht um zwei, drei aus dem Ruder gelaufene Trader, sondern da war der gesamte Apparat involviert.

Auch in den Organigrammen von Banken hat man diesen Bereich der „Tax Trades“ erkennen können, den Insider „Delta One“ nennen. Das ist ein Segment, in dem Trader Aktien-Deals machen, deren Profit allein aus steuerlichen Effekten herrührt. Ich fand frappierend, wie offen ausgewiesen dieser Bereich war, bei dem Banken in unsere Steuerkassen greifen.

(…)

Wir haben viele Leute aus der Branche vernommen. Wenn diese mir gegenüber saßen, haben immer alle als Erstes gesagt: „Ich habe gedacht, das wäre legal.“ Da habe ich gefragt: „Erklären Sie mir das mal. Wieso sind Sie denn der Meinung, dass man sich eine Steuer erstatten lassen kann, die man zuvor nicht bezahlt hat?“ Und jedes Mal kam: „Das weiß ich auch nicht, aber das sagt unser Rechtsberater.“

Was mich erstmal überraschte: Dank Lobbyregister wissen wir jetzt, wer massiven Einfluss auf die entsprechende Gesetzgebung nimmt.

2024 stammen zehn der 100 finanzstärksten Einträge im Lobbyregister von Banken, Versicherern und der Fondsindustrie. Diese geben fast 40 Millionen Euro pro Jahr für Lobbyarbeit aus. Das ist mehr als Auto- und Chemielobby zusammen.

§

Mad Men bietet Arte ja zu meiner großen Freude auch im US-englischen Original, allerdings nur inklusive nicht wegschaltbarer französischer Untertitel.
Stefan Niggemeier ist dem für Übermedien nachgegangen:
“Lost in Untertitel-Translation”.

tl;dr Ja, nee, ist halt so.

§

Dazu gehört ja nicht viel Zufall: Dass ich in den vergangenen Tagen über Hannover und über Obdachlosikeit gesprochen habe – und die taz jetzt ein Interview veröffentlicht mit Annemarie Streit, die sich auch mit 97 noch ehrenamtlich um Obdachlose in Hannover kümmert:
“‘Mir ist der Respekt wichtig'”.

Das Leben ist ganz anders verlaufen, als das mal geplant war.

taz: War es mit Familie geplant?

Streit: Das muss man sachlich sehen. Im Krieg sind sehr viele Männer gerade der jungen Generation gestorben. Wir haben den Sachen nicht nachgetrauert, wir haben es so hingenommen, wie es eben ist.

Auf keinen Fall will ich diese Haltung als ideal oder vorbildlich bezeichnen – aber ich bewundere sie mit einem gewissen Neid.

die Kaltmamsell

1 Kommentar zu „Journal Mittwoch, 20. August 2025 – Vorurlaubsendspurtgefühl“

  1. Sabine meint:

    Danke für das Brorhilker-Interview!

    Aus Gründen interessiere ich mich neuerdings für Wirtschaftskriminalität und lese mich gerade ernsthafter in Cum-Ex und Cum-Cum ein, um mal die Dimensionen erfassen zu können. Das ist nicht so gut für den Blutdruck – und das Gekrähe über Leistungskürzungen beim Bürgergeld wirkt angesichts der Dimensionen absolut lachhaft.

    Bei dem Prozess, in den ich mich aus Interesse mal gesetzt habe, geht es um weniger, aber immer noch viel Geld, aber ich kann berichten, dass die Qualität der Anzüge der ausschliesslichen Herrenriege von Angeklagten und Anwälten sehr enttäuschend für ihre finanziellen Möglichkeiten ist. Soviel dazu.

Beifall spenden: (Unterlassen Sie bitte Gesundheitstipps. Ich werde sonst sehr böse.)

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