(Wenn ich über Bücher oder Filme schreibe, gebe ich mir immer Mühe, möglichst wenig von der Handlung zu verraten.)
Groß ist er, der neue Roman Birds without Wings von Louis de Bernières, das auf jeden Fall. Groß im Sinne von umfassend, dick, inhaltsreich. Da dieser Umfang aus Mosaiksteinchen besteht, also aus vielen Handlungssträngen und Episoden, dauerte es aber bis fast ans Ende des Romans, bis er für mich zu einer Einheit wurde.
Das historische Gitter sind das untergehende osmanische Reich, der Gallipoli-Feldzug, die erbitterten Auseinandersetzungen zwischen Griechen und Türken im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts. Im Mittelpunkt steht ein kleiner Ort in Südwest-Anatolien, in dem Christen und Muslims jahrhundertelang nebeneinander und verhältnismäßig friedlich ihre Traditionen und Religionen lebten, manchmal sogar verbanden. Wir lernen unter anderem Iskander den Töpfer kennen, Philotei, ein christliches Mädchen von atemberaubender Schönheit, Ibrahim den Ziegenhirten, die Freunde Karatavuk und Mehmetçik, den orthodoxen Popen Kristoforos und den muslimischen Gemeindevorsteher Abdulhamid Hodja, den Großgrundbesitzer Rustem Bey und den Lehrer Daskalos Leonidas, einen glühenden Anhänger der neo-hellenistischen Bewegung.
Parallel wird das Leben von Mustafa Kemal berichtet, dem späteren Atatürk.
Die Stimme ist immer dieselbe, die erzählt, auch wenn einer der Protagonisten als Ich auftritt. So breitet sich das Schicksal aller Protagonisten über die Jahrzehnte vor uns aus, angereichert durch eine Fülle historischen Hintergrunds.
Das Buch kann sich nicht so recht entscheiden, ob es eine umfassende historische Aufarbeitung sein will (dann bräuchte es aber für viele, oft recht gewagte Darstellungen Quellenhinweise) oder ein Roman, der sich mit Menschen, Charakteren, Gefühlen beschäftigt. Das führt dazu, dass mir das Lesen von Birds without Wings zu weiten Strecken vorkam wie eine BBC-Dokumentation – die ja bei historischen Themen gerne mal Spielszenen mit geschichtswissenschaftlichen Erörterungen mischt.
Eine ungeheure Menge Material steckt in dem Roman – die ungewöhnlich langen elf Jahre seit seinem Vorgängerroman, Captain Corelli’s Mandolin hat de Bernières dann wohl mit gründlicher Recherche verbracht – und wenn er sich schon so viel Mühe gegeben hat, unterstelle ich ihm als Gedankengang, dann muss auch alles rein ins Buch. Mir wäre es lieber gewesen, er hätte sich darauf konzentriert, eine gute Geschichte zu erzählen.
Dem Buch scheint es sehr wichtig, gerade diejenigen Details zu betonen, die der derzeit üblichen Wahrnehmung dieser geschichtlichen Epoche widersprechen. Das Erwähnen dieser Details wäre an sich genug gewesen, aber immer wieder wedelt unübersehbar der erhobene Zeigefinger des Erzählers – auf Kosten der Geschichte. Dabei schrammt er zum Beispiel ganz knapp daran vorbei, den Genozid an den Armeniern zu rechtfertigen.
Sonst sind mir ja Autor / Autorin von Romanen recht nebensächlich. Doch selbstverständlich wird mein Lesen durch das Wissen beeinflusst, das ich über sie habe. Wenn ich einen Autor dann auch noch persönlich kenne, kann ich es gar nicht abschalten, dass ich Schlüsse vom Werk auf ihn ziehe.* Louis de Bernières habe ich ca. 1995 bei seinem Besuch an unserer Uni zwei Tage mitbetreut, und wir haben uns das eine oder andere erzählt. Deshalb schließe ich aus der großen Rolle, die Militär, Waffen, Hierarchien, Schlachten, Strategie, Logistik, Kriegsalltag spielen, dass Louis vielleicht inzwischen Frieden mit seiner Herkunft geschlossen hat: Er kommt aus einer britischen Militärfamilie (also middle class) und hat lange damit gehadert und dagegen rebelliert.
*Wie verheerend es sein kann, einen Autor kennen zu lernen, habe ich an einer englischen Freundin gesehen, die Mitte der 90er in russischer Literatur über Cingiz Ajtmatov und sein Schöpfen aus der kirgisischen Kultur promovierte (in England war er damals erheblich weniger bekannt als in Deutschland). Auf einer seiner Lesereisen hatte sie Gelegenheit zu einem Gespräch mit Ajtmatov: Sie brachte sehr schnell heraus, dass der Mann ein opportunistischer Wendehals ist, der marktorientiert hauptsächlich für deutsche Leser schrieb und denen einfach gab, was sie lesen wollten – Steppenromantik. Sie war völlig desillusioniert und warf ihre Promotion hin.
(Von dieser Frau stammt die wunderbare Definition von literarischem socialist realism: „Boy meets girl meets tractor.“)