Archiv für Juli 2005

Familienalbum – 3: Meine Yaya

Montag, 11. Juli 2005

Agustina Alonso Martín, geboren 8.2.1914 El Olmo, gestorben 27.10.2003 Valdemoro.

Das Foto ist 1970 auf der Giralda in Sevilla aufgenommen. Meine Eltern hatten die Mutter / Schwiegermutter in den Andalusienurlaub mitgenommen. Ich war drei Jahre alt.

Oma heißt auf Spanisch Yaya. Meine spanische Großmutter hieß Agustina Alonso Martín und wurde 1914 in einem kleinen Zeilendorf namens El Olmo geboren (etwa 100 Kilometer nördlich von Madrid, ganz in der Nähe der Stadt Sepúlveda).

Sie starb vor anderthalb Jahren. Bei dieser Gelegenheit wurde mir klar, dass ich über diese Frau kaum etwas weiß. Jetzt endlich habe ich mich aufgerafft, mir zumindest die paar Details abzuholen, an die sich mein Vater, also ihr Sohn, erinnert. Viel ist es nicht. In dieser Familie wurden keine Geschichten erzählt, keine Überlieferungen oder Traditionen gepflegt; im Grunde fehlte jede Form von Kultur. Und der kastilische Menschenschlag ist ohnehin so trocken und karg wie die Landschaft.

Die Landschaft um El Olmo ist karstig, staubig, unwirtlich und war – wie damals ohnehin der größte Teil Spaniens – bitter arm. Agustina war eines von sieben Kindern (chronologisch): Demetrio (ein kleiner, dicker, vergnügter Bauer; er ließ mich als Kind gerne auf seinem Esel reiten), Pepe, Casimiro, Vitoria (eine freundliche, feine Dame), Agustina, Florencio (genannt Flores; ein schlanker, hochgewachsener Bauer, der es mit seiner Landwirtschaft sogar zu ein wenig Wohlstand brachte), Valeriano. Zu essen gab es nie genug, und so ging Augustina mit 17 Jahren nach Madrid, als Dienstmädchen, ebenso wie ihre Schwester Vitoria.

Wenige Jahre später heiratete sie dort Jesús, einen Hilfsarbeiter aus El Puente del Arzobispo bei Toledo.

Agustina arbeitete ihr ganzes Leben als Putzfrau bei der Reinigungsfirma Móstoles, ihr Mann auf dem Bau oder als Lastwagen-Beifahrer. In ihrer Wohnung in der Calle Fernando el Católico kam 1940 der erste Sohn zur Welt, Felix. Zwei Jahre später wurde dort mein Vater, Jesús, geboren. Als 1944 das dritte und letzte Kind zur Welt kam, meine Tante Lucía, wohnte die Familie schon in der Calle de Leganés. In dieser Erdgeschoß-Wohnung an einem angenehm kühlen Hinterhof übernachtete viel später auch ich als Kind während unserer Madrid-Besuche.

Da beide Eltern arbeiteten, waren die Kinder ziemlich auf sich allein gestellt. Nur die Protektion von Onkeln und Tanten, die ein wenig besser gestellt waren, verschaffte ihnen eine solide Schulbildung, meinem Vater und seinem Bruder sogar eine Berufsausbildung (Elektriker und Dreher). Halbwegs gut bezahlte Arbeit gab es Ende der 50er in Madrid dennoch nicht, und so gingen die beiden Brüder nach Deutschland: Felix im August 1960, am 14.11.1960 mein Vater. Als ich meinen Vater gestern fragte, ob seine Mutter wohl traurig gewesen sei, dass sie ihre Söhne ziehen lassen musste, noch dazu so jung, zuckte er mit den Achseln: „Nein, sie war froh, dass sie uns los hatte.“ Zwei junge Männer weniger durchzufüttern, und endlich war Platz in der kleinen Wohnung. Das Durchfüttern hatten in den Jahren zuvor ohnehin oft die Verwandten übernommen, vor allem im Sommer: Für Juli, August, September hatte meine Yaya ihre Söhne jedes Jahr aufs Land zu ihren Geschwistern geschickt, wo sie auf den Bauernhöfen der Onkel Knochenarbeit leisten mussten, aber wenigstens genug zu essen bekamen.

Von seinem ersten in Nürnberg verdienten Geld kaufte mein Vater seiner Mutter ein goldenes Marienmedaillon, in das er auf der Rückseite ihren Namen und ihren Geburtstag gravieren ließ. Vor vielen Jahren schenkte sie es mir überraschend. Finanziell unterstützt hat mein Vater die Yaya bis zu ihrem Tod.

Am 29. Juli 1975 wurde meine Yaya Witwe: Ihr Mann Jesús starb an Lungenkrebs. Ihr ältester Sohn war mit Familie nach Madrid zurück gekehrt, die Tochter war gut verheiratet. Kurz bevor sie in Rente ging, konnte Agustina sich endlich eine eigene Wohnung kaufen, in einem älteren Wohnblock in der Trabantenstadt Moratalaz. Mir tat es um die Wohnung an der Calle de Leganés leid, die in einer alten, gewachsenen Gegend gelegen hatte. Aber meine Yaya war sehr stolz auf die neue Wohnung. Mehrmals die Woche traf sie sich mit Freundinnen zum Kartenspielen, a la brisca oder al tute spielten sie.
In dieser Zeit wurde sie immer mehr vom Geiz verschlungen: Das Geschirr und die Gläser in ihren Schränken fassten sich klebrig an, da sie aus Sparsamkeit nur mit kaltem Wasser und fast ohne Spülmittel abspülte. Mein jüngerer Bruder und ich wurden als verwöhnt getadelt, weil wir jeden Tag duschen wollten.

Vor etwa zehn Jahren verschlechterte sich ihre Altersdiabetes, zudem wurde sie zunehmend dement, so dass sie in ein Altersheim in Valdemoro umzog, südlich von Madrid. Vor allem ihre Tochter kümmerte sich jetzt um sie. In den letzten Jahren ihres Lebens war sie verwirrt und nahm nichts mehr von ihrer Umwelt wahr.

Meine Yaya war eine unzugängliche und kalte Frau. Ihr Neid und ihre Missgunst führten dazu, dass wir auf den Spanienbesuchen meiner Kindheit immer die Geschenke für die Verwandtschaft verstecken mussten, die nicht für meine Großmutter bestimmt waren – sie hätte sonst nicht aufgehört, sich zu beschweren und zu lamentieren. Wir hatten uns nichts zu sagen, sie interessierte sich nicht für mich. Bei unserer letzten Begegnung vor 14 Jahren sahen wir uns erstmals, ohne dass mein Vater dabei war, und sie beschimpfte mich ein paar Tage am Stück wegen allem und jedem. Dass wir uns seither nie mehr gesehen haben, war ziemlich sicher weder für sie noch für mich ein Verlust.

Nachtrag:

Agustina (rechts) und ihre Schwester Vitoria Alonso Martín 1989 in El Olmo.

CSD 2005

Samstag, 9. Juli 2005

Vielleicht erinnert sich jemand: Mein Hinterhof ist die Einfahrt zu fünf sehr begehrten Garagen und sieht ungefähr so aus. Auch ohne Schnee ist dort nie etwas los. Umso perplexer war ich heute Mittag über diesen Anblick aus meinem Wohnzimmerfenster.

Ich habe nicht die geringste Ahnung, wer und was das ist. In 300 Meter Entfernung begann zwar gerade die CSD-Parade zu lärmen, aber nach einem Warm-up für einen Einsatz dort sehen die Menschen wirklich nicht aus. Hier zum Vergleich:

(Von vorne wurde der umwerfende Eindruck leider durch zwei Mal 12 Quadratzentimeter schreiblauem Lidschatten gestört.)
Ich bin mir immer noch nicht sicher, welche Paraden-Teilnehmer mir besser gefielen: Die Judokas oder der glatzköpfige Dschinn, der in weinrot glitzernden Pluderhosen die libanesische Fahne schwang.

Juliabend in München

Samstag, 9. Juli 2005

Lurer

Samstag, 9. Juli 2005

In den vergangenen Monaten habe ich eine Singdrossel identifiziert, eine Wacholderdrossel und einen Roten Milan. Das freut mich; schon als kleines Mädchen mochte ich wilde Vögel, seit einiger Zeit bestimme ich sie mit System – das heißt, wenn mir zufällig einer auffällt, den ich nicht kenne, versuche ich herauszubekommen, was für einer das ist.

Seit gestern fühle ich mich dabei nicht mehr so recht wohl. Auf einem meiner Wege sah ich ein kleines Vögelchen. Ich blieb stehen und besah es genauer: finkförmig, schlammfarben, mit einem rostbrauen Schwanz, versuchte ich mir zu merken. Da wurde mir bewusst, dass das Vögelchen die ganze Zeit zurück geschaut hatte, mit aufrechtem Haupt und Blick. Es sah durchaus ein wenig strafend auf mich. Und plötzlich fühlte ich mich aufdringlich und ungehörig: Jemanden so anzustarren – das tut man nicht. Ich kam mir vor wie ein Voyeur, zu Bayrisch ein „Lurer“.

(Daheim trotzdem nachgeschlagen: Die pikierte Vogeldame war ein Hausrotschwanz.)

Familienalbum – 2: Die Streifentapete

Donnerstag, 7. Juli 2005

An sich hatte meine Mutter vorgehabt, das Abitur nachzumachen und dann Innenarchitektur zu studieren. Es kam die große Liebe in Form meines Vaters dazwischen, rasch gefolgt vom Wunsch nach Familiengründung. Eine Verbindung zwischen beiden Plänen war wohl damals unmöglich. Als Innenarchitektin lebte sich meine Mutter seither erst in der eigenen Wohnung, dann im eigenen Haus aus.

Zu den weniger geglückten Einfällen gehörte in den 70ern die Verwendung einer quer gestreiften Tapete in den damals angesagten Farben. Die Wohnzimmerwand, vor der mein Vater und ich da auf dem Foto sitzen, war sehr lang. Nicht nur hatte mein pingeliger Papa beim Tapezieren seine heilige Mühe, das Muster bahnenweise sauber aneinander zu legen. Als wir das Ergebnis besahen, mussten wir uns auch noch an Türrahmen oder Wänden festhalten, weil die Querstreifen zu schwanken schienen und uns beim Anblick schwindelig wurde. Wir hielten das nur wenige Monate aus, dann wurde die Wand einfarbig, kurz bevor wir ohnehin in einen anderen Wohnblock und damit in eine Wohnung mit zwei Kinderzimmern umzogen.

Die Brille, die mein Papa da oben trägt und nur zum Fernsehen und Autofahren brauchte, habe ich inzwischen an mich genommen. Eigentlich wollte ich Gläser in meiner Stärke einsetzen lassen, zögere aber noch, weil das Gestell enorm schwer ist. An den Bademantel erinnere ich mich noch lebhaft, auch daran, dass das Folgemodell aus dunkelbraunem Samtvelour war.

Dem Sofa gegenüber stand der damals nagelneue schwarz/weiß-Fernseher (Telefon gab es erst in der übernächsten Wohnung). Vielleicht guckte sich mein Vater gerade die Sportschau an. Das würde zum einen meine Anwesenheit erklären, denn ich durfte so wenig fernsehen, dass ich jede Gelegenheit nutzte. Zum anderen würde das erklären, dass ich nicht zum Fernseher schaue: Die Sportschau langweilte mich ungemein. Ein Resultat dieser persönlichen Fernsehgeschichte ist, dass ich mich in zahlreichen Sportarten überraschend gut auskenne, obwohl sie mich gar nicht interessieren.

An dem Glastisch vor dem Sofa lernte ich Schummeln beim Memory-Spielen.

Entspannung 1

Mittwoch, 6. Juli 2005

Das Geld für die Fahrkarte habe ich von der Bahn zurück bekommen, allerdings minus 15 Euro Bearbeitungsgebühr. Ich verbuche das als Lehrgeld, das mich hoffentlich davor bewahrt, meine Netzkarte jemals wieder außerhalb meines Geldbeutels aufzubewahren.

Spannung!

Dienstag, 5. Juli 2005

Ungehaltene Mail von einem Ebay-Verkäufer bekommen: Das Paket an mich sei zurückgekommen, die Adresse stimme nicht. Sie stimmte aber. Ebenso wie bei zwei anderen Paketen, die in den vergangenen Wochen zu ihren Absendern zurück kamen, weil ich unter meiner korrekten Adresse, die ich seit über sechs Jahren habe, angeblich nicht wohne. Dass ich trotz Anwesenheit eine Zustellungsbenachrichtigung im Briefkasten vorfinde, kenne ich ja. (In München sind sicher mindestens 60 Prozent aller privaten Paketadressaten in der Arbeit, wenn der Paketbote kommt. Wäre eigentlich ganz zauberhaft, wenn es – gerne gegen Aufpreis – eine Abendauslieferung gäbe.) Aber dass ich gleich gar nichts kriege…

Ratlos bei der Service-Nummer der Post angerufen, mein Problem ruhig und freundlich vorgetragen. Die Callcenter-Frau war umwerfend nett: Erst mal bedauerte sie mich eine angemessene Zeit lang und mit den angemessenen Seufzern, dann nahm sie eine Reklamation auf. Sie erklärte mir, welchen Gang jetzt alles gehen würde (Verwaltung des Zustellbezirks nimmt sich Zusteller vor) und dass der Absender das zweite Porto natürlich erstattet bekomme. (Dass er dieser Erstattung hinterher telefonieren wird müssen, war mir unangenehm, Frau Post entschuldigte sich sehr.)
Jetzt bin ich gespannt, ob ich diese Pakete sowie weitere erhalte.

Heute meine Bahncard 100 daheim vergessen, fiel mir auf der Hinfahrt angesichts des ICE-Schaffners mit Blutsturm ins Hirn ein. Hin- und Rückfahrt musste ich also zahlen – verständlich. Werde mir die Bahncard abends an den Bahnhof bringen lassen, um gleich zu versuchen das Geld wiederzubekommen.
Bin gespannt, ob das klappt.

Nachtrag: Die Beschwerde bei der Post war erfolgreich, das Paket kam beim zweiten Versuch. Da seither auch zwei weitere Sendungen an mich angekommen sind, habe ich den Paketboten wohl dauerhaft von meiner Existenz überzeugt.