Bücher 2012
Montag, 31. Dezember 2012 um 9:15Sternchen markieren meine besonderen Empfehlungen, Klammern ein explizites Abraten. Die unmarkierten Bücher habe ich gerne gelesen: Die nicht gern gelesenen, deren Lektüre ich abgebrochen habe, tauchen nämlich hier gar nicht erst auf.
1 – Wolfgang Herrndorf, Sand*
(Mein erstes E-Book!) Abenteuerfilme der 30er und 40er, James Bond, Our Man in Havana, Drogendelirien, Spionagethriller – all diese Assoziationen begleiteten mich bei der Lektüre, und doch hat Herrndorf etwas ganz Eigenes geschrieben. Die Spannung, die die Handlung erzeugt, ist nicht von atemloser Neugier auf den Fortlauf der Handlung getrieben, sondern von ständiger Bedrohung und dunkler Vorahnung. Zudem sind die Handlungsstränge so geschickt aufgehängt und geknüpft, dass sich erst nach dem ersten Drittel überhaupt sowas wie ein Gesamtbild ergibt. Und das mit Personenzeichnungen, die mich richtig mitleiden ließen. Saugut gemacht, mit Extras.
2 – Julian Barnes, The Sense of an Ending
3 – Christian Stöcker, Nerd Attack! Eine Geschichte der digitalen Welt vom C64 bis zu Twitter und Facebook*
Hier ausführlich besprochen.
4 – Juan Moreno, Teufelsköche. An den heißesten Herden der Welt
(Wäre eigentlich ganz nett, wenn es nicht auffallend schlecht lektoriert und schlampig gestaltet wäre, so richtig mit Fehlern.)
5 – Mariana Leky, Die Herrenausstatterin
6 – Johnny Haeusler, I Live by the River!*
Die besten Geschichten, die wir auf Spreeblick schon liebten, plus neue – gut geschrieben, herzerfrischend beobachtet.
7 – Jonathan Evison, All About Lulu
8 – Granta 118, Exit Strategies
9 – Matt Ruff, Fool on the Hill*
Nach Langem wiedergelesen. Ich hatte bereits vergessen, wie ungeheuer dicht Ruffs Erstling erzählt ist. Allerdings fürchte ich, dass ein großer Teil des Zaubers bei einer heutigen Erstleserin nicht funktionieren wird: Die gesamte Tolkienwelt war vor 20 Jahren noch exotisch und nerdig, heute ist sie Mainstream. Immer noch schön aber die Studentenhäuser, die Hunde-Queste, die Personen.
10 – Katja Berlin, Peter Grünlich, Was wir tun, wenn der Aufzug nicht kommt.
11 – Kathrin Passig, Aleks Scholz, Kai Schreiber, Das neue Lexikon des Unwissens*
Empfehlung aus denselben Gründen, aus denen ich schon Das Lexikon des Unwissens empfahl.
12 – Pia Ziefle, Suna*
Hier ausführlich besprochen. Mein Buch des Jahres, bereits reichlich verschenkt.
13 – Jennifer Egan, A Visit from the Goon Squad*
Die 13 Kapitel aus dem Musikbusiness kann man als Kurzgeschichtenzyklus lesen oder als Roman – ich neige zu originell erzähltem Roman. Mit den Figuren und ihrer Beziehung zu Musik erleben wir kulturelle Veränderungen der westlichen Welt (auch aus der Zukunft wird erzählt), getrieben unter anderem durch technische Entwicklungen.
14 – V. K. Ludewig, Ashby House
15 – Maximilian Buddenbohm, Marmelade im Zonenrandgebiet*
Hier ausführlich besprochen.
16 – Lorenzo Carcaterra, Sleepers*
Ich kannte vorher vage die Handlung, weil ich von der Verfilmung von 1996 wusste. Doch vor dem verhängnisvollen Streich der vier jungen Burschen, der sie in die Hölle eines Jugendgefängnisses bringt, erzählt Carcaterra über 200 Seiten vom Aufwachsen im New Yorker Stadtviertel Hell’s Kitchen (heute Clinton), und das ist ganz großartig und lebendig. Es geht eine große Menschlichkeit und Wärme von diesem Roman aus, auch wenn er eigentlich immer wieder entsetzliche Geschehnisse beschreibt.
17 – Markus Werner, Zündels Abgang
18 – Matt Ruff, The Mirage
19 – Heimito von Doderer, Die Strudlhofstiege*
Hier ausführlich besprochen.
20 – Astrid Paul, Arthurs Tochter kocht. Mein B_Logbuch
21 – Paul Bokowski, Hauptsache nichts mit Menschen
22 – Georg Schramm, Lassen Sie es mich so sagen…
23 – John Irving, In One Person
Hier ausführlich besprochen, obwohl ich es für nicht besonders gut halte.
24 – Katherine Boo, Behind the Beautiful Forevers*
Hier ausführlich besprochen.
25 – Granta 119, Britain
26 – Jenny Lawson, The Blogess, Let’s Pretend this Never Happened
27 – Alexandra Tobor, Sitzen vier Polen im Auto*
Hier ausführlich besprochen.
28 – Martin Suter, Der Koch
29 – Daniel Kehlmann, Die Vermessung der Welt*
Nach dem ersten Viertel des 300-Seiten-Romans schoss mir durch den Kopf: Ein amerikanischer Schriftsteller hätte aus dem Stoff garantiert einen 900-Seiten-Wälzer gemacht. Mich faszinierte, wie Kehlmann den Faktenreichtum komprimierte und zum Hintergrund machte, um seine eigentliche Geschichte zu erzählen. Und wie er die unterschiedlichen Spinner als Hauptfiguren der Geschichte lebendig macht.
30 – Nora Ephron, Heartburn
31 – Malte Welding, Versiebt, verkackt, verheiratet
32 – Stefan Zweig, Ungeduld des Herzens*
Wiedergelesen nach 25 Jahren. Heute fallen mir manche überholte Sichtweisen auf, unter anderem auf körperliche Versehrtheit. Doch der innere Kampf eines ganz normal feigen Menschen ist zeitlos, und Zweigs Erzählkunst nimmt uns mit in damals schon untergegangene Zeiten und Welten.
33 – Hanns-Josef Ortheil, Die Moselreise*
Ein seltsames Kind, dieser Hanns-Josef, der schon mit elf Jahren während einer Wanderung mit seinem Vater entlang der Mosel literarische Notizen macht. Diese Notizen aus den 60er hat der Erwachsene Hanns-Josef zu einem Buch gemacht, das indirekt und direkt viel über die Zeit, die Gegend und den Personen vermittelt. (Und in mir Sehnsucht nach einer Mosel- oder Neckarreise weckte.)
34 – Stephen King, On Writing*
Er kann halt schreiben, der Herr King, auch wenn er übers Schreiben schreibt. Das Ergebnis ist eine sehr persönliche Schreibanleitung – durchaus für die Art von Büchern, die Stephen King schreibt und liebt. Für mich der Kernpunkt: Schreiben darf Spaß machen! Verbunden mit der Aufforderung: Einfach jeden Tag ein paar Stunden hinsetzen und schreiben, irgendwann wird schon was draus. Gleichzeitig ist das Buch eine lesenswerte Autobiografie.
35 – Fruttero & Lucentini, Dora Winkler (Übers.), Der Liebhaber ohne festen Wohnsitz
36 – Marcella Hazan; Anne Görblich-Baier, Susanne Schmidt-Wussow, Elke Trautwein (Übers.), Marcellas Geheimnisse
(Das enttäuschendste Buch des Jahres, weil diese “Geheimnisse” zu großen Teilen faktischer Blödsinn sind.)
37 – Kathryn Stockett, The Help*
Eine sehr lebendige und mitreißende Geschichte, die die stereotype Kulisse einer bestimmten Gegend und Zeit von hinten zeigt: Geschichten und Filmbilder der Vereinigten Staaten am Anfang der Bürgerrechtsbewegung kennen wir fast nur aus weißer Sicht, The Help stellt die schwarzen Hausangestellten in den Mittelpunkt. Akteurin ist zwar zum großen Teil eine junge weiße Frau, doch die Hausangestellten sind keineswegs begeistert oder gar dankbar über ihre Einmischung.
38 – Domingo Villar, Ojos de agua
39 – Barbara Vine, The Brimstone Wedding
40 – J.R. Moehringer, The Tender Bar
41 – Dorothy Parker, The Best of Dorothy Parker
42 – Suzanne Collins, The Hunger Games
43 – Granta 120, Medicine*
Nach Langem wieder eine rundum gelungene Ausgabe dieses “magazine of new writing”: Von Medizinern geschriebene literarische Geschichten bis zu Medizingeschichten von Literaten, fast alle sehr persönlich.
44 – Matthias Politycki, London für Helden
45 – Suzanne Collins, The Hunger Games. Catching Fire
46 – Irina Liebmann, Stille Mitte von Berlin*
Vorgeblich ein Fotoband, doch gefangen hat mich der Text zu den Bildern. Liebmann erzählt nämlich, welchen Charakter die fotografierten Straßenzüge Anfang der 80er hatten und wie sie sich auf die Suche nach ihrer Geschichte machte, in Archiven und in Gesprächen mit den alten Bewohnerinnen. In diesem Fall sagten die tausend Worte erheblich mehr als die Bilder.
47 – Douglas Adams, Dirk Gentley’s Holistic Detective Agency
48 – Stevan Paul, Schlaraffenland*
So liebevoll und aufwendig gemachte Bücher werde ich immer auf Papier und als Druckobjekt haben wollen: Die Typo, geprägter Titel, stilsicherer Einsatz von Farbe, der Satzspiegel, ein Lesebändchen – ganz, ganz bezaubernd. Und Stevans Geschichten sind herrlich. Sein erzähltechnisches Können hat sich seit seinem bereits sehr lesenswerten Erstling deutlich weiterentwickelt, vor allem das indirekte Erzählen, das ein noch besseres Setzen von Pointen ermöglicht. Die Rezepte mochte ich umgehend nachkochen.
49 – Suzanne Collins, The Hunger Games. Mockingjay
50 – Ray Bradbury, Fahrenheit 451*
Ich hatte den Roman vor vielen Jahren schon mal gelesen (veröffentlicht 1953, war er auch damals nicht frisch) und war beim Wiederlesen erstaunt, wie gut er altert. Gleichzeitig erschreckte mich, zu wie vielen gesellschaftlichen und politischen Zeitereignissen die Schilderungen passen.
Dass es in Fahrenheit 451 um das systematische Verbrennen von Büchern geht, wissen wahrscheinlich alle, die von dem Roman (oder dem gleichnamigen Film) wissen. Doch den Grund dafür hatte ich vergessen: Bücher und die enthaltenen Gedanken verwirren die Menschen, sorgen für gesellschaftliche Unruhe und für Gewalt – denn irgendjemand fühlt sich immer von den Inhalten angegriffen, herabgesetzt oder verletzt, und sei es nur von einem Detail. Deshalb ist es dem sozialen Frieden am förderlichsten, wenn es gar keine Bücher gibt – niemand kann Anstoß nehmen. (Erzählen Sie bloß dem Herrn Friedrich nichts von der Idee.)
Ebenfalls vergessen hatte ich, wie lebendig und metaphernreich Bradbury erzählt, wie er kalte Technik durch Vergleiche zu Mythologie oder Natur macht.
51 – Zadie Smith, NW*
Auch wenn sie wohl nie wieder so großartig schreiben wird wie in White Teeth, nutzt Zadie Smith ihre Erzählwerkzeuge hier meisterlich. Auf verschiedenen (nicht markierten) Zeitebenen, aus unterschiedlichen personalen Perspektiven erleben wir in NW den Londoner Stadtteil, aus dem Zadie Smith kommt.
52 – Oya Baydar, Monika Demirel (Übers.), Verlorene Worte
53 – Tex Rubinowitz, Rumgurken
54 – Marlen Haushofer, Die Wand*
Ein erratischer Block der deutschsprachigen Literaturgeschichte. Reduzierter Schauplatz, reduzierte Sprache, eine unglaubliche Vielschichtigkeit, die sich hinter der scheinbar banalen Oberfläche entfaltet. Nicht nur hat mich der Roman auch beim Wiederlesen emotional mitgenommen, ich halte ihn auch vorbildlich in Informationsvermittlung und Sprache.
55 – Isabel Bogdan, Sachen machen
56 – A.L. Kennedy, The Blue Book*
A.L. Kennedy schreibt auf recht unterschiedliche Weise ziemlich verschiedene Geschichten. Bislang hat mir noch jede gefallen, ob Kurzgeschichte (die mir manchmal technisch ein wenig zu clever sind) oder Roman. Was sie eint: Ein tiefes, verständiges Zeigen (showing) der Personen und ihrer Interaktionen. Die Haupthandlung von The Blue Book spielt auf einem Ocean Liner, eine Frau mittleren Alters begegnet einem Mann wieder, von dem wir im Lauf der Handlung und in Rückblicken erfahren, dass er lange ihr Lebensgefährte war – als sie beide noch mit Hellseher-Shows auf Tour waren. Ebenso erfahren wir, wie sie zu den gebeutelten und verletzten Seelen wurden, die sie jetzt sind. Den vielschichtigen Hintergrund bilden das Schiff und der Alltag darauf, außerdem Einblicke in die Welt der Hellseher. (Allerdings gab es in meiner Leserunde einige, die von der Hin-und-Her-Interaktion der Hauptfiguren sehr genervt waren.)
57 – Alan Moore, David Lloyd, V For Vendetta*
Hier ausführlich besprochen.
58 – Kathrin Passig, Sascha Lobo, Internet – Segen oder Fluch*
Hier ausführlich besprochen.
59 – Susanne Englmayer, Vater. Mutter. Kind.
60 – Tanja & Johnny Haeusler, Netzgemüse*
Hier ausführlich besprochen.
61 – Granta 121, The Best of Young Brazilian Novelists
62 – Martina Kink, Bad Hair Years
63 – Richard Price, Peter Torberg (Übers.), Clockers
64 – Friedrich Torberg, Die Tante Jolesch oder Der Untergang des Abendlands in Anekdoten*
Für meine Leserunde las ich nach Jahren mal wieder mein Lieblingsbuch. Und entdeckte auch bei der dutzendsten Lektüre noch Neues. Ausführlich darüber geschrieben habe ich schon 2003. Weiterhin das eine Buch, das ich wirklich jedem und jeder empfehle.
2 Kommentare zu „Bücher 2012“
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31. Dezember 2012 um 12:12
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31. Dezember 2012 um 15:59
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