Archiv für August 2017
Journal Mittwoch, 30. August 2017 – Spanienurlaub 10, Morgenlauf und Thomas Lehr 42
Donnerstag, 31. August 2017Dieser zweite Regentag kam unvorhergesehen. Angekündigt war Sonne, also sah mein Tagesplan vor: Weckerwecken, Laufrunde mit anschließendem Meerschwumm, Duschen, Morgenkaffee, Lesen in der Sonne auf der Dachterasse – dann je nach dem.
Doch der Morgen war von dichten Wolken verhangen, die mir jede Lust auf Meerschwumm nach Lauf nahmen und dann auch noch ausdauernd regneten. Aber den Morgenlauf genoss ich.
Rush Hour in der Bucht von Muros.
Mit Strand war also nichts, wir vertrieben uns die Zeit mit Lesen und Schreiben. Als es am späten Nachmittag trocken wurde und sogar aufklarte, spazierten wir den Kreuzweg vom ehemaligen Franziskanerkloster aus, den man weithin sieht.
Abendessen in einer Bar (Salat, Sardinien, Pimientos de padrón, Croquetas de pescado, dazu Gin Tonic), als Dessert den absoluten Modenachtisch: Flan de queso.
Er war uns gleich im ersten Restaurant angeboten worden, seither habe ich ihn noch einige Male bestellt, wenn er hausgemacht war. Basis ist klassischer Flan, nur dass ein Frischkäse nach Wahl untergemischt wird; mal schmeckte der Flan eher nach Ricotta, mal nach Philadelphiakäse. Werde ich definitiv daheim ausprobieren.
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Der Regen verschaffte viel Zeit zum Lesen, also Thomas Lehrs 42 ausgelesen. Alle 368 klein bedruckten, fast absatz- und dialoglosen Seiten. Das Set-up: Als eine Besuchergruppe des Kernforschungszentrums CERN an einem Hochsommertag aus der unterirdischen Anlage an die Oberfläche zurückkehrt, ist alles außer ihnen stehen geblieben – die Zeit, der Rauch, die Wellen, die Sonne, die Menschen; es bewegt sich nichts mehr. Das wäre als Bühne für eine Geschichte spannend, doch die folgende Menge an Handlung reicht gerade mal für eine Star Trek-Episode. Statt dessen erzählt Lehr jede Konsequenz dieses Vorfalls, jede. Und noch eine. Bis ins Detail des Details. Als Handlung hat sich der Roman am ehesten die Suche nach der physikalischen Ursache des Stillstands vorgenommen, und auch hier wird jeder Erklärungsansatz detailreich durchgespielt. Mir war schon klar, dass fast alle Romanschreibenden sich Skizzen ihrer erfundenen Welten machen, sich viele Details vorstellen, Räume, Seitenzweige und Nebenfiguren ausschmücken. Aber das muss man doch nicht alles auch hinschreiben!
Lektüre-erschwerend kommt ein sprachliches Faible für Adjektive und Vergleiche hinzu; keines der unzähligen Details entkommt Lehrs Belebung durch Metaphorik. Hin und wieder habe ich von Lektoren und Verlegerinnen gehört, sie bräuchten nur einen Absatz eines Manuskripts zu lesen um zu wissen, ob es zu gebrauchen sei oder nicht. Oder nur einen Satz:
Elektronen wurden durch Erhitzung aus Metalldrähten gemolken, auf der Hundert-Meter-Kurzstrecke linear angepeitscht, in den ersten Ringbeschleuniger mit 600 Meter Umfang geschossen, bei 3,5-Giga-Elektronenvolt rasend entlassen, jedoch nur, um auf dem 7-Kilometer-Kreis des SPS noch mehr an Besinnung zu verlieren, damit sie mit gesträubtem Haar, zusammengepressten Augenlidern und flatternden Backen bei 21 GeV im 26-Kilometer-Ring des großen LEP zur finalen Unfallgeschwindigkeit kurz unterhalb von Zeh (c) getrieben wurden, gebündelt in praktischen 250-Billionen-Stück-Packungen und vier Strahlen, die sich an acht Punkten kreuzten und zwar 45 000-mal pro Sekunde, so abgefeimt und listig aber doch, dass es fast alle schafften, im letzten Moment den Billionen Geisterfahrern aus der Gegenrichtung innerhalb der engen Tunnelröhre auszuweichen, abgesehen von dem einen angetrunkenen oder juvenilen Trottel alle zwei Sekunden, den es dann in den monströsen Prüfmanschetten von OPAL, ALEPH, L 3 oder DELPHI in die aberwitzigsten Stücke riss, die Kerne der Kerne der Kerne, auf die man es abgesehen hatte, denen die Feldkräfte der erdgrößten Magneten auflauerten, um sie auf ihren lichtschnellen Fluchten aus der Fassung zu bringen, in den Zwiebelschichten der Spurengeräte ihre ein ehrlichen Prallbahnen zu schmerzlichen und mathematisch heimtückischen Schleifen, Parabeln Zykloiden, Kardioiden, Spiralen zu zwingen, so kunstvoll gewunden wie Frauenhaar auf einem Dürer-Stich.
Die gemolkenen Elektronen werden mich noch bis in den Schlaf verfolgen.
So geht es noch mal und von Neuem immer wieder, wenn Ausschnitte des physikalisch-wissenschaftlichen Hintergrunds des CERN erzählt werden. Die de facto keine Rolle spielen. Irgendwann begann ich, Herrn Kaltmamsell solche Passagen im Tonfall von Hitlerreden vorzulesen, das passte am besten zu ihrer Komik.
Eingewoben dann Anläufe von Nachdenken über Zeit an sich, diese jeweils so banal, dass ich sie nach dem ersten Durchgang übersprungen habe.
Und dann all der Sex. Eine Folge der Lage ist im Roman, dass die Chronologiker ihre sexuellen Fantasien umsetzen – umständehalber halt ohne Einverständnis des stillgestandenen Gegenübers. Auch hier bekommen wir nicht nur das eine oder andere Beispiel, um die Tatsache an sich zu erzählen – das würde für eine Lord of the Flies-Anspielung einer menschlichen/gesellschaftlichen Entwicklung unter besonderen Bedingungen reichen. Doch nein, wir lesen Dutzende Beispiele und noch eines, alle Seite um Seite, Schamhaar- um Vulvafaltendetail auserzählt. Inklusive japanischer Fachterminologie. Das ist sehr ermüdend.
Aber die Star Trek-Folge basierend auf dem Roman sähe ich gern.
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“Rebecca Solnit: if I were a man”.
Rebecca Solnit ist die Frau, die als erste ein bestimmtes Mann-Frau-Phänomen mit mansplaining beschrieb. Hier denkt sie über die vielen tausend Freiheiten nach, die ihr das Mannsein bereiten würde – ohne das Gefängnis zu vergessen, das Männlichkeitszwang errichtet.
Journal Dienstag, 29. August 2017 – Spanienurlaub 9, Muros im Regen
Mittwoch, 30. August 2017Ein Regentag – wie angekündigt. Als Pensionszimmerbewohner in einem Badeort mussten wir uns etwas einfallen lassen, denn zumindest für die Zimmerräumzeit ab 12 Uhr mussten wir unser Zimmer verlassen. Zum Glück war es mit etwa 20 Grad nicht kalt – ich habe nämlich nur Sandalen dabei, die einzigen geschlossenen Schuhe sind meine Wanderstiefel.
Frühstückskaffee wieder ums Eck, ungewöhnlicherweise hatte ich Appetit, und zwar auf ein süßes Teil. Ich fragte die Kellnerin also, welche bollos es gebe und unterbrach ihre Aufzählung sofort bei “… palmera”: Bitte genau das – ich mag diese Riesen-Schweinsohren aus Blätterteig besonders gern. Ich blieb mit Herrn Kaltmamsell länger als sonst sitzen und las Internet, es galt ja Zeit tot zu schlagen.
Wir beschlossen einen weiteren Fußmarsch in den Nachbarort Muros, diesmal aber entlang der Küstenstraße. In Muros planten wir Café-Hopping, ich kaufte mir dafür gleich mal eine Zeitung, diesmal das Regionalblatt La Voz de Galicia. Die Küstenstraße entpuppte sich als schöne Überraschung, da sie fast durchgehend von einem Fußweg gesäumt ist. Will heißen: Laufstrecke gefunden!
Mittlerweile regnete es stärker, wir suchten in Muros sofort Zuflucht in einem Café – in dem wir vom fröhlichen Kellner mit “princesa y príncipe” angeredet wurden.
Später spazierten wir im Regen durch Muros mit seinen malerischen Winkeln und Ecken.
Wir stießen auf das alte und unerwartet große Waschhaus von Muros. Es sah aus, als sei es erst vor wenigen Jahrzehnten noch modernisiert worden.
Auch auf dem Rückweg durch den Wald entdeckte ich im Dorf Campo de Cortes das alte Waschhaus:
Auch an diesem Ort war klar, dass er noch vor wenigen Jahrzehnten genutzt worden war – wie auch die zahlreichen Waschhäuschen, die wir auf unserer Wanderung gesehen hatten. Ich erinnere mich noch aus meinen Kindheitsurlauben in Nordkastilien, dass die Bäuerinnen im Heimatdorf meiner Yaya mit der Wäsche an den río gingen, die Weißwäsche einseiften und auf Steinen mit Stöcken sauber schlugen, sie mit dem Wasser des Bachs klar spülten und auf den Stoppeln der abgeernteten Weizenfelder zum Trocknen auslegten.
Schlichtes Abendessen im Campingplatz-Café ums Eck.
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Zum 50. Geburtstag hatte ich mir ja Menopause gewünscht, und eine selige Woche lang sah es aus, als hätte das geklappt. Bis sich am Zyklustag 46 dann doch die Gebärmutter meldete, aber holla. Nun, wenigstens nicht auf der Wanderung, meine immer superstarke Blutung hätte mich in ernste logistische Schwierigkeiten gebracht. (Wie viel Energie ich seit 37 Jahren an diese Logistik verschwende! Ich hab’s so satt!)
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Ergebnis meiner Zeitungslektüren: Das beherrschende innenpolitische Thema (neben dem Terroranschlag in Barcelona) ist die anstehende nochmalige und verfassungswidrige Volksabstimmung über die Unabhängigkeit Kataloniens. Kommentatoren sowohl im El País als auch in La Voz de Galicia nehmen die Demo zum Gedenken an die Terroropfer am Samstag in Barcelona auf: Dort waren wohl katalanische Nationalisten als Gegendemonstranten aufgetreten – und hatten laut La Voz de Galicia das wahre Gesicht der Unabhängigkeitsbewegung gezeigt: Hass.
“El terror desnuda al independentismo”.
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In Deutschland tauchen Wahlplakate mit Symbolen auf, die eine lange antisemitische Tradition haben. Marina Weisband erläutert, wie irrelevant es ist, ob sie genau so gemeint sind:
“Über strukturellen Antiseminitismus”.
Bilder sind eben nicht unschuldig.
Journal Montag, 28. August 2017 – Spanienurlaub 9, Meerzeit in San Francisco
Dienstag, 29. August 2017Ausgeschlafen! Zum ersten Mal in diesem Urlaub. Aber nach zwei Tagen ohne Bewegung sah ich mich gestern Nachmittag bereits wieder nach Laufstrecken um: Schlechte Aussichten, es gibt wohl nur die Alternativen 400 m Strandweg hin und zurück oder die Autostraße entlang zu laufen.
In einem Café ums Eck tranken wir Morgenkaffee und besorgten in einem Lebensmittelgeschäft Tomaten, Brot und Tageszeitung. Der Tag war wolkig mit Sonne, ich setzte mich auf die Dachterrasse der Pension und las Zeitung, döste, aß Brot und Tomaten, es wurde ganz sonnig.
Am späten Nachmittag gingen wir über Landstraße in den größeren Nachbarort Muros, um in einem Supermarkt einzukaufen, uns etwas umzusehen.
Stellte sich als sehr lebendiges Fischer- und Badedorf heraus, da gehen wir sicher nochmal hin. Zumal es dort vor Pokéstops und Arenen nur so wimmelt.
Zm Abendessen gingen wir in ein Fischlokal am Strand mit sagenhafter Aussicht.
Dazu tönte von Ferne schöne Dudelsackmusik, eine Gaita. Die Musik kam über die Zeit näher: Aha, nicht nur der schottische Dudelsack wird beim Marschieren gespielt – der gehört ja auch zum Militär. Vielleicht bereiten die spanischen Truppen gerade sowas Ähnliches vor. Der Spieler stellte sich als ein weißhaariger, graubärtiger Herr im T-Shirt heraus, seine Gaita war mit ein paar Quasten behängt. Ich konnte sehen, dass sie nur ein Bordun-Rohr hatte (im Gegensatz zu den drei schottischen), was sie deutlich leiser als die schottische weapon of mass destruction machte.
Wir bestellten die Meeresfrüchteplatte, die zwar mit beeindruckendem Werkzeug kam, sich dann aber als nur mittelgut erwies: Nur die Venusmuscheln und die Garnelen waren heiß und schmeckten wirklich frisch zubereitet, der Taschenkrebs kam sogar vorgekocht aus dem Kühlschrank.
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Mary Beard fasst in einem Artikel für die BBC ein zentrales Argument ihres (empfehlenswerten) Buchs SPQR zusammen:
“Mary Beard on why Rome ruled the world”.
Ihr Ausgangspunkt: Über die Gründe für den Untergang des Römischen Reichs wird viel diskutiert und nachgedacht – sie sucht nach den Strukturen, die es zu Errungenschaften führten wie kein Staat davor oder danach.
How did an insignificant little settlement by the river Tiber grow into a mighty empire encompassing the Mediterranean world and much of western Europe?
Wie immer räumt Mary Beard mit einigen gängigen Vorstellungen vom Römischen Reich auf (*gleefull snigger*).1
Zentral für den militärischen Erfolg der Römer scheint schiere Truppengröße gewesen zu sein:
What counted most in securing victory was manpower, simply the number of boots you could put on the ground. And that is precisely where the Romans soon found their advantage, by a simple mechanism that was unique in the ancient world: extending its citizenship to outsiders, including those it had defeated and, in the process, massively increasing its fighting force. The secret of Rome’s success was something invisible to the eye, and much more sophisticated than hooked barbs; it was a radically new definition of what “being a citizen” meant, with all the rights and obligations that entailed.
(…)
Why they did this is a mystery, and it may always have been an unplanned, lucky improvisation, rather than a considered strategy. But it had revolutionary consequences.
via @miriam_vollmer
- Sie verwendet das wunderschöne Wort effete, das ich nur vom Lesen kenne und in meinem Kopf immer “éfitti” ausgesprochen habe. Die tatsächliche Aussprache ist ein wenig enttäuschend. [↩]
Journal Sonntag, 27. August 2017 – Spanienurlaub 8, Fisterra nach San Francisco
Montag, 28. August 2017Gestern dann 4,3 Kilometer in anderthalb Stunden.
Spässle.
(Und am Abend nur 16 Fotos zu verarbeiten!)
Ein fauler Tag ohne Pläne, immer nur eins nach dem anderen.
Richtig: So bin ich nur nach einer Migräne. War nachts nicht zu schlimm, das Triptan half, wenn auch mit unangenehm langer Verzögerung.
Das Hotelfrühstück in Fisterra bestand vor allem aus verschiedenen Kuchen, zusammen mit Herrn Kaltmamsell schaffte ich es, fast jeden zu probieren. Wir durften so lange im Hotelzimmer wohnen, bis wir sehr rechtzeitig zur Bushaltestelle aufbrachen. Der Weg dorthin ließ mich nachvollziehen, dass die Einheimischen nicht nur froh sind über die vielen Jakobswegwanderer: Einige Straßen des kleinen Orts Fisterra quollen geradezu über von ihnen. Sie saßen und standen in jedem Café auf jeder Stufe, nach dem, was ich so hörte, die Italiener und Italienerinnen eher unter sich, die anderen Herkünfte vermischt. Der Linienbus, der uns an einen Strandort bringen sollte, fuhr als Endziel Santiago an; entsprechend viele Jakobswegler standen für ihn Schlange: Fisterra ist der allerletzte von vielen letzten Endpunkten des Wegs, der nächste Flughafen nach Hause liegt in Santiago. Der Bus war voll, die Einheimischen, die damit unterwegs ins nächste oder übernächste Dorf fahren wollten, mussten stehen – ich hatte ein schlechtes Gewissen.
Einchecken ins schlichte Hotel an Straße und Strand, ich setzte mich für ein paar Stunden einfach aufs Bett und las. Ohne Pläne und Unruhe. So lange und konsequent, dass es Herr Kaltmamsell war, der um Rausgehen, Bewegung, frische Luft bat.
Zunächst besichtigten wir die Dachterrasse der Pension: Als wir ins Freie traten, war es warm von der Sonne, doch ich spürte kühles Feuchtes – vom Meer kam Nebel, und zwar sehr schnell.
Das sonntägliche Strandvergnügen war davon ungerührt, die Badegäste spielten, lagen, lasen, spazierten einfach weiter. An einer Stelle wurde auf einer kleinen Holzbühne unter den Pinien Gitarrenmusik gemacht, alle halbe Stunde “Hey Jude”, mit ganz viel Laaaalaalaalalalalaaaaaaaalalalalaaaaaaaa.
Wir spazierten eine wenig vom Strand weg zum ehemaligen Franziskanerkloster.
Fürs Abendessen hatte Herr Kaltmamsell ein Grillrestaurant die Straße rauf recherchierte. Zwar hätte es auch interessanten Fisch vom Grill gegeben, doch wir entschieden uns für eine ganz Meer-lose Mahlzeit:
Ausgezeichnet, auch wenn dieses “Entrecôte” bei uns wohl unter Lende laufen würde. Ich freute mich ganz besonders über den Salat.
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Ich recherchierte ein wenig unserer Wandertour hinterher und fand unter anderem heraus, dass exakt hier 2002 das Tankerunglück passierte, das die Küste aufs Schrecklichste verschmutzte; am schlimmsten traf es Muxía. Die damaligen Vorhersagen rechneten mit schweren Folgen für Generationen. Doch schon vor vier Jahren fanden Christian Schmidt und Manuel Bauer für das Schweizer Magazin heraus: file:///Users/igutierrez/Downloads/Prestige_Magazin.pdf” target=”_blank” rel=”noopener”>Es gibt keine Langzeitfolgen (PDF). Auch wir sahen keinen einzigen Hinweis auf diese Vergangenheit.
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Immer wieder aufschlussreich: Wenn aus einem gewissen Abstand Bildern hinterher recherchiert wird, die Schlagzeilen machten. Diesmal von der Süddeutschen:
via @NicoleDiekmann
Journal Samstag, 26. August 2017 – Spanienurlaub 7, Lires nach Fisterra
Sonntag, 27. August 2017Die letzte Etappe unserer Wanderung – und alles nochmal drin: Regentropfen, halsbrecherische Küstenpfade, Greifvögel, Ausblicke, dornenzerkratzte Beine, Strände, Leuchttürme. Dazu kamen einige kleine Orte, durch die uns die Route der Reiseveranstalter als Alternative zum Camiño dos faros führte: Die Originalwege seien einfach zu gefährlich. Und wir kamen in Kontakt mit der Jakobswegpilgerei, allerdings erst in Fisterra.
Beim Verlassen der Unterkunft in Lires wehten uns ungewohnte Aromen entgegen: Frischer Waldgeruch. Bislang hatten wir am Meer übernachtet, und das hatte man immer gerochen, gestern in Muxía kam durch die offene Tür ein so intensiver Schwall Meeresluft beim Auschecken zur Rezeption, dass ich lachen musste.
Wir hatten sehr gut gefrühstückt: Nicht nur kein Buffet (uns wurden angeboten tostada, Schinken, Käse, geriebene Tomate, Joghurt, Saft), sondern echter frischer café con leche. Ich aß mehr, als ich sonst als Urlaubsfrühstück schaffe, und ließ den nachgereichten Kuchen nur aus, weil ich mit vollem Bauch sehr schwer wandere.
Die Route führte uns gleich mal auf einen Berg, und von dort hinunter in Halsbrechereien – die erschwert wurden durch eine falsch erwischte Abzweigung: Plötzlich standen wir in der Felswand auf einem 20 cm breiten Weg, der nicht weiter führte. Dass es gerade hier immer wieder ein bisschen regnete, machte den Abschnitt nicht lockerer. Da Sie das lesen, wissen Sie, dass wir heil rauskamen, aber wir nahmen die Alternativen für weitere solche Abschnitte gern an.
Wie angekündigt wurde das Wetter besser, bis zu strahlendem Sonnenschein am Nachmittag. In einem Dorf folgten wir den vielen Schildern zu einer Bar und tranken etwas, für die Mittagspause fanden wir nach der Bank am Vortag diesmal Bank mit Tisch.
Der letzte Leuchtturm des Camiño dos faros war auch der Zielort vieler Jakobswegpilger. Wir kehrten am Cabo Fisterra nochmal in eine Bar ein und hörten, wie sich andere Gäste über ihre Motive für das Absolvieren des Jakobswegs austauschten. Uns begegneten Geistliche, Jugendliche voller Jakobswegumhänger und wettergegerbte alte Ehepaare, die Boulevardtheaterklischees vorspielten (u. a.: Der untersetzte Er in Hemd und Stoffhose stürzt sich an die Theke und auf ein Bier, die magere Sie in kompletter Funktionskleidungsmontur inklusive Schlapphut keift ihn darob an.)
Wir landeten in einem schönen Hotel (gelernt: rural heißt einfach Hotel in kleinem Ort und kann von Pilgermassenabfertigung bis romantischer ehemaliger Bauernhof alles sein), ein erster Blick aus dem Zimmerfenster fiel auf einen Esel, auf dem eine Elster herumturnte, beide ignoriert von der daneben grasenden Ziege.
Wieder gab es das Abendessen nicht im Hotel selbst, sondern in einem Partner-Restaurant, zu dem wir abends spazierten. Auf dem Weg guckten wir gleich mal nach der Bushaltestelle, von der aus es am Sonntag weitergeht. (Bustickets waren nicht vorab buchbar, das machte mich unruhig.)
Veranstaltungsankündigungen in einem Bushäuschen in Lires.
An der Ría de Lires schreckten wir zwei Kraniche auf, die am Ufer gegenüber landeten und dort gemächlich ihren Kranichdingen nachgingen. (Nicht im Bild, weil ich für Vogelaufnahmen zu schlecht fotografiere.)
Schwindelfreiheit verhilft zu großartigen Aussichten, ist aber anstrengend. Wir krabbelten in einer Gegend, in der es vor ein paar Jahren gebrannt hatte, kamen also nicht nur dreckig, sondern auch rußig heraus.
Gestern durfte ich den Rucksack den ganzen Tag tragen, davor wenigstens zweimal halbe Tage. Herr Kaltmamsell hatte sich in den Kopf gesetzt, dass ich wegen meines Nackennervs geschont werden müsse – dabei war der Rucksack wirklich nicht schwer (schwerster Inhalt 2 Liter Wasser).
Den Praia do Rostro sollten wir gesamt entlang gehen. Ich verweigerte die Anstrengung eines weiteren Tiefsandabschnitts; zum Glück hatten sich auf den Dünen viele, viele Pflanzen angesiedelt, die den Sand zusammenhielten und das Gehen viel einfacher machten.
Der Strand war sehr lang, ich sang uns zur Unterhaltung eine kleine Melodei von Maurice Jarre.
Die Praia do Mar de Fora ist der Hausstrand von Fisterra, bei dem jetzt schönen Wetter (und mittleren 20 Grad Lufttemperatur) badeten Menschen – dabei fiel mir ein, dass Samstag war.
Mittach! Die Hotelgastgeber hatten uns sogar Brotzeit mitgegeben, die vesperten wir jetzt.
Auf dem Weg zum Cabo Fisterra ein Hórreo mit dem Maskottchen des Camiño dos faros: Der trasno Traski.
Sehr lange gingen wir auf den Leuchtturm Faro de Fisterra zu – auch der weithin sichtbar.
Aussicht von der Bar am Kap und Eindruck von der Betriebsamkeit dort. Die Musikmischung, die aus der Bar tönte, war sehr wild und hörenswert, unter anderem die Cover-Version eines bekannten argentinischen Tangos – auf der Gaita.
Kirche Santa María am Ortseingang von Fisterra.
Zum Abendessen spazierten wir also mit einem Kärtchen des Hotels zum Hafen (ich habe noch nie so sauberes Wasser in einem Hafenbecken gesehen). Als Halbpension hätte es für uns das Tagesmenü gegeben, doch mit Aufpreis konnten wir frei aus der Karte wählen: Bitte zweimal Galicien.
Und so bekam Herr Kaltmamsell seine ersten navajas.
Journal Freitag, 25. August 2017 – Spanienurlaub 6, Muxía nach Lires
Samstag, 26. August 2017Die Auflösungen der spannenden Fragen vom Vorabend: Wir wählten die sportliche Route – und ließen dabei die Umrundung des Cabo Touriñan mit fast 5 Kilometern aus. Das machte ein Tagespensum von 25 Kilometern in achteinhalb Stunden mit drei langen Pausen. Beim genaueren Lesen der Wegbeschreibung war mir schon am Abend der Verdacht gekommen, dass die Autorin nur diesen Abschnitt der Wanderung selbst gegangen war: Alles, wofür sie zu besonderer Vorsicht mahnte, hatten wir schon in den Tagen davor überwunden. Der Weg ist nur ein Trampelpfad und überwachsen? Kennen wir. Die Strecke ist nur mit vereinzelten Symbolen auf Steinen am Boden markiert? Ja, die ganze Zeit schon. Es geht steil rauf und runter? Ähm, also wie auf den ersten drei Abschnitten? Der gestrige Tag erforderte nicht mal alpine Erfahrung (vielleicht ja bei der weggelassenen Cap-Umrundung).
Und nein: Die Wanderschuhe waren morgens ebenso wie andere durchregnete Kleidung alles andere als trocken – außen. Innen waren sie auch nach dem kompletten Regentag nicht nass geworden, gute Wanderschuhe. Ich hoffe, sie halten noch sehr, sehr viel länger als ihre bisherigen 20 Jahre.
Das Wetter war perfekt zum Wandern: Sonnig, windig, nicht zu warm. Ich trug vorsichtshalber dennoch meine lange Hosen und war auf den vielen Dornbusch-überwachsenen Wegen froh drum. Der Tagesabschnitt bot schöne Ausblicke, aber eher ruhigeres Gehen als die Aufregungen der vorherigen Tage.
Nachdem zum (sehr liebevollen) Hotelfrühstück wieder kein anständiger Café angeboten wurde, zogen wir gestiefelt und gespornt los und kehrten erst mal in dieses vertrauenswürdig aussehende Café ein. Nicht nur war in der Einrichtung die Zeit seit 40 bis 50 Jahren stehen geblieben, es gab auch ordentlichen Cortado.
Der erste Strand des Tages war der von Lourido, über dem eine riesige Baustelle empor wuchs.
Zwar habe ich es bereits erlebt, dass es wegen Bauarbeiten einen Wanderweg nicht mehr gab; gestern passierte es mir zum ersten Mal, dass er vor meinen Augen abgerissen wurde: Der Bagger hatte schon etwa 20 Meter weggebaggert, der freundliche Baggerführer ließ uns um sein Gerät herumklettern, um zum Anschluss zu kommen.
Der erste Berg des Tages hieß Cachelmo, der Pfad ging ziemlich pfeilgerade hinauf.
Oben ein Blick zurück nach Muxía.
Und dann genauso pfeilgerade wieder runter.
Aussicht vom nächsten Berg, dem Pedrouzo.
Wegzehrung. Galicien verbinde ich seit meinem letzten Aufenthalt dort vor 35 Jahren mit köstlichen Brombeeren.
Für unsere Mittagspause fanden wir sogar richtige Bänke an einem Mirador. Dort trafen wir auf den einzigen anderen Wanderer am Tag: Fraternisierung mit seinem Labrador, Austausch von Wandererfahrung. Und ich lernte von ihm, dass Surfer auf Spanisch surfistas heißen (kchchchch) – die nämlich sorgen laut ihm dafür, dass immer mehr abgelegene Buchten Infrastruktur bekommen.
Kurz darauf kamen wir an eine solche surfista-Bucht, nämlich den Praia de Nemiña – dort stand ein Restaurant, in dem wir etwas trinken konnten.
Kurz vor unserem Zielort Lires schwenkten wir auf den Jakobsweg ein (bisschen was anderes als unsere Ziegenpfade).
Mit der Unterkunft gab es Verwirrung. Die Wegbeschreibung führte uns zu einer, die keine Reservierung für uns hatte – allerdings bei Erwähnung der organisierenden Agentur gleich wusste, wohin wir eigentlich mussten: Die hätten schon öfter Leute zu ihnen falsch geschickt. Das Hotel, das unsere Reservierung hatte, stand korrekt in der Überblicksliste unserer Unterkünfte.
Das hier ist eine ganz auf Jakobspilger ausgerichtete Herberge, vor uns checkten vier Herrschaften in einen Gemeinschaftssaal ein. Doch es gibt auch superschlichte Hotelzimmer. Abendessen wurde in zwei Räumen serviert: großer Raum mit Neonlicht und langen Tischen fürs Pilgermenü, Speisesaal mit Tischdecken für Hotelgäste (darin ein langer Tisch für eine 20-köpfige spanische Gruppe, die hereinkam, als wir beim Nachtisch waren – also zum Anbruch der eigentlichen spanischen Abendessenszeiten kurz vor zehn). Wir bekamen gemischten Salat (ich) und Suppe (von Herrn Kaltmamsell bestellt in der Hoffnung auf Caldo gallego, in dem aber als dominanter Geschmack der Pflückkohl hätte schwimmen müssen, den wir beim Wandern ständig sehen), dann frittierte Kalamares mit Pommes, alles anständig.
Dummerweise war das WLAN zum Weinen langsam, Handyempfang erratisch. Mal sehen, ob ich den offline geschriebenen Post per Hotspot hochschieben kann.