Journal Donnerstag, 28. Januar 2021 – Fehlende Vorfreuden
Freitag, 29. Januar 2021 um 6:16Tauwetter. Ich wachte zu Tropfengeräuschen auf, kurz vor meiner Ankunft im Büro tröpfelte es auch vom Himmel.
Nebenwirkung der Friseurlosigkeit: Haareföhnen dauert bei mir inzwischen mehr als doppelt so lang wie frisch vom Friseur. Ein astreines Luxusproblem, denn ich habe so viel Haar auf dem Kopf, dass für einen wirklich guten Kurzhaarschnitt mindestens ebenso viel ausgedünnt werden muss wie gekürzt (irgendwann scherzte Herr Fiseur, er werde mich seine Dienste nach Haargewicht zahlen lassen). Und so habe ich jetzt ein dickes Winterfell, das fürs Trockenföhnen (Lufttrocknen ergibt bei mir umgehend Lungenentzündung) empfindlich lang braucht.
Es regnete den ganzen Tag durch.
Gelernt: Manche undurchdringlich scheinende (unangenehme) Aufgaben sortieren sich tatsächlich von selbst durch Abwarten. Weil nach und nach die nötigen Informationen vorbeigeflogen kommen. (Passiert mir allerdings zum ersten Mal im Berufsleben, normalerweise werden sie durch Liegenlassen immer komplizierter.)
Die subjektive Relativität von Zeit im Büro, selbst bei gleicher Arbeitslast: Am Mittwoch merkte ich erst, dass längst Mittag war, weil ich Bauchweh vor Hunger hatte. Gestern konnte ich kaum fassen, dass erst elf Uhr war, wo ich doch schon so viele Dinge gewuppt hatte.
Mittagessen war ein dickes Käsebrot und Orange mit Joghurt.
Auch am Nachmittag Arbeit, während der Wind Regen gegen meine Büroscheibe schlug.
Auf dem Heimweg brauchte ich meinen Schirm nur auf den letzten Metern, dafür war ich ziemlich damit beschäftigt, tiefen Schneematsch-Pfützen auszuweichen. Zuhause wieder Yoga, dann machte ich den Feldsalat aus frisch geholtem Ernteanteil an, es gab ihn zum Nachtmahl mit Käse und Brot.
Vor über einem Jahr hatte ich zum letzten Mal Gäste in der Wohnung.
Ich muss mir Vorhaben einfallen lassen, auf die ich mich freuen kann. Die gewohnten gibt es ja seit einiger Zeit nicht: Treffen mit Familie, mit Freundinnen und Feunden, Restaurantbesuche, Museum, Theater, Schwimmen – mir wird immer bewusster, wie sehr mich die Vorfreude darauf durch die anstrengenden Teile des Alltags getragen hat. Oder das Runterzählen der Arbeitswochen, dann -tage bis zur nächsten Reise. Jetzt ist da nichts, und das macht mich immer trauriger und mutloser, so geht das nicht. Zumal belastende Vorhaben wie der Umzug ohne Aussicht auf erfreuliche Ereignisse zum Ausgleich mich noch mehr belasten.
Abendliche Freude gestern war eine neue Folge Mailab: “So endet Corona”.
https://youtu.be/pGJEVXvOcRY
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Mit “Je Türenknall, desto wiederkomm” fasste Kathrin Passig einst die Beobachtung zusammen, dass besonders laut deklarierte Abschiede von Social-Media-Plattformen nie von Dauer sind. (Für mich ein hervorragendes Beispiel, wie kraft- und wirkungsvoll man die deutsche Sprache einsetzen kann, wenn man nicht der Verein Deutsche Sprache ist und in erster Linie an Regeln und jetzigem Stand festhält.) Jetzt hat sie unter diesem Titel ihre gesammelten Kolumnen des Jahres 2020 veröffentlicht, wahlweise gegen Geld oder kostenlos zu lesen.
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Marina Weisband hat in der Gedenkenstunde zum Tag der Befreiung im deutschen Bundestag gesprochen, als Vertreterin der nachgeborenen jüdischen Generation. Es wurde eine kluge und eindringliche Rede, hervorragend gehalten:
https://youtu.be/8h9cQOlD4Pw
9 Kommentare zu „Journal Donnerstag, 28. Januar 2021 – Fehlende Vorfreuden“
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29. Januar 2021 um 7:59
Es war insgesamt eine würdevolle Gedenkstunde im Bundestag. Gute Reden haben alle Beteiligten gehalten. Bewundernswert ist die Haltung der Dame Knobloch im hohen Alter von 88 Jahren. Wie wohltuend ihr ablehnender Satz in Richtung AfD. Und wie traurig zu konstatieren, dass mit ihr die wenigen letzten überlebenden Zeitzeugen überhaupt noch da sind.
Marina Weisband ist in all ihrer Zartheit und Eleganz eine kraftvolle Stimme. Ein Glück, dass sie gehört wird.
Peinlich schmerzvoll der Blick in die rechte Ecke. Ich habe drei Abgeordneter der AfD ausmachen können, die Beifall klatschten. Bei denen allerdings auch klar war, dass es ausschließlich auf politischem Kalkül beruhte.
29. Januar 2021 um 8:03
Das mit der fehlenden Vorfreude, das macht mir auch immer mehr zu schaffen. Gut, dass alle Urlaube schon geplant und gebucht sind – und hoffentlich auch stattfinden können. Nur traue ich mich nicht richtig, mich darauf zu freuen – es ist eher die Hoffnung, dass sie stattfinden können.
Heute freue ich mich auf Sonntagnachmittag – nach einer Woche grau und Regen soll es sonnig werden. It’s the little things …
29. Januar 2021 um 10:51
Ich verstehe dich so gut! Meine Mutter rief mich letzte Woche an um mir zu sagen, dass sie Urlaub gebucht haben. Mein erster Impuls war, zu fragen, ob bei ihr keine Pandemie mehr ist, aber dann sagte sie: ich brauche was zum darauf freuen, sonst drehe ich noch durch. Also hab ich mir den Kommentar verkniffen und sie stattdessen gefragt wo es hingehen soll und ich glaube, ich habe sie das letzte halbe Jahr nicht so fröhlich gehört, wie bei diesem Telefonat bei dem sie mir genau geschildert hat, was sie im Urlaub machen wollen.
Ich rette mich über den Tag mit Kleinigkeiten. Ich habe mir ein japanisches Kochbuch gekauft und alleine das organisieren der Zutaten nimmt so viel Zeit und Planung in Anspruch, dass ich mich schon richtig darauf freue in etwa 2 Wochen, sollte alles klappen, das erste Gericht kochen zu können. Ich habe mir einen Buchclub gesucht und wir lesen so alle 4 Wochen ein Buch zusammen und gestern war unser erstes virtuelles Treffen und wow, ganz viele neue, großartige Frauen mit ganz neuen Leben und Ideen und Gedanken. Ich kann mich gar nicht erinnern, wann ich mich das letzte Mal so intensiv mit anderen ausgetauscht habe.
Und ich habe mir einen Jahresender gekauft, wo man jeden Tag drei bunte Punkte kleben kann. Und mir für jede Spalte etwas überlegt. Dass sich der Kalender jetzt mit grünen, roten und gelben Punkten füllt, macht die Tage wieder etwas mehr unterscheidbar. Und es hilft mir, bei Dingen dran zu bleiben, und sei es nur am Vorsatz vor 12 ins Bett zu gehen.
Aber alles in allem ist es wirklich mühevoll, den Kopf oben zu behalten.
29. Januar 2021 um 13:42
Naja, im Sommer kann es ja durchaus sein, dass die Zahlen wieder weit unten sind und der frühe Vogel fängt den Wurm. Wir haben auch längst für Juni gebucht. Man muss halt drauf achten, dass man kurzfristig stornieren kann, dann spricht doch überhaupt nichts dagegen, jetzt zu buchen. Außerdem macht das den Hoteliers vielleicht auch etwas Hoffnung, dass es weitergeht.
29. Januar 2021 um 15:05
Ein Umzug in eine größere Wohnung mit noch schönerer Aussicht ist doch eine durchaus erfreuliche Perspektive. Ein neuer Lebensabschnitt! Auch Sachen ein- und auspacken kann Freude machen. Die altvertrauten Dinge kommen an einen neuen Ort und schaffen eine neue interessante Atmosphäre. Das ist so interessant, wie eine schöne Ferienwohnung zu beziehen. Der Abschied von der alten Bleibe ist in dem Moment nicht mehr schwer, sondern herbeigesehent, wo die Bilder abgehängt sind und die Bücher und alles in Kisten gepackt ist, und es nur noch ungemütlich und auch irgendwie abgewohnt wirkt. Dann kommt die ultimative Freude auf das neue Domizil, ohne Wenn und Aber. Und DIESE Reise, und das neue Terrain zu erkunden, dauert ja auch einige Zeit. Eigentlich ein sehr guter Zeitpunkt dafür, wo keine anderen Ablenkungen verlocken.
Wann ist es denn so weit?
Bei mir steht in der ersten Märzwoche eine große Handwerkeraktion in meiner Werkstatt an, eine Mauer wird aufgebrochen, um an ein Fallrohr zu kommen, zwecks Austausch, dazu muss ich das Bad, den Flur, die Küche und das Kämmerchen komplett leerräumen und alles in den großen Raum stellen, weil es wohl eine größere, staubige Aktion wird. Komischerweise freu ich mich drauf, weil ich dann beim Rückräumen neue Ideen haben werde, wie ich die Dinge anders arrangiere.
29. Januar 2021 um 22:53
Ja, es fehlen ab und zu ein paar Highlights und die damit verbundene Vorfreude. Am anstrengendsten finde ich die Ungewissheit: wie lange noch, bis wieder halbwegs Normalität herrscht? Ich sehne den Frühling herbei, endlich wieder Licht, Wärme und Farben; versuche mich über Kleinigkeiten zu freuen: ein Spaziergang bei schönem Wetter, gutes Essen, ein neues Buch. Aber ein paar Tage am Meer, das wär schon was. Ach ja. Bald, hoffentlich.
Mir scheint, wir haben ein ähnliches Luxusproblem auf dem Kopf. Ich habe kürzlich zur Haarschneidemaschine gegriffen und zumindest hintenrum ein bisschen gestutzt. Rundherum traue ich mich das aber nicht wirklich, vom ausdünnen ganz zu schweigen. Vielleicht kommt das ja noch.
29. Januar 2021 um 23:47
Ich plädiere für lange Haare. Vor allem in Pandemie Zeiten. Die Spitzen kann man sich zur Not auch selbst kürzen. Ansonsten lang, Schwanz oder Dutt…
30. Januar 2021 um 6:03
Danke für die Folge Mailab.
Man merkt, wie klar und präsent sie ist, vor allem im Vergleich zu Frau Dr. Ciesek.
Diese Art von Wissenschaftsjounalismus soll bitte bleiben nach der Pandemie.
30. Januar 2021 um 8:50
Katrin Passig hat gestern übrigens den Heinrich-Mann-Preis bekommen.
https://buchmarkt.de/meldungen/kathrin-passig-erhaelt-den-heinrich-mann-preis-2021/