Vor Wecker aufgewacht. Emsiger Morgen daheim, strammer Marsch in frostiger Kälte in die Arbeit.

Die Linden um die Theresienwiese sind bereits kahl.

In der Arbeit sofort Hochdruck – die Tasse Tee, die ich geschickt dazwischen eingefädelt aufgebrüht hatte, wurde kalt. Und das, wo ich wusste, dass es ein langer Arbeitstag werden würde (durch Einflüsse, die deutlich schlechter prognostizierbar sind als das Wetter). Ich musste abarbeiten, was sich physisch durch meinen Homeoffice-Tag aufgehäuft hatte – mein Job ist nunmal nur zu einem kleinen Teil kompatibel mit dem Konzept Telearbeit. Was mir bei der Entwicklung der Infektionszahlen bei gleichzeitig steigendem Leichtsinn immer egaler wird.
Erst um halb zwei kam ich zum Mittagessen: Pumpernickl, Rest Fenchel-Mandarinen-Salat, Weintrauben.
Am Nachmittag konnte ich strukturierter arbeiten, doch der ohnehin späte Berufstermin verschob sich wie befürchtet immer weiter nach hinten. Es wurde spannend, ob ich es rechtzeitig zur Abendverabredung mit Herrn Kaltmamsell schaffen würde.
Es klappte dann ganz exakt, ich kam genau um die verabredeten 19 Uhr am Restaurant an, in dem ich uns einen Tisch reserviert hatte. Doch der Abend wurde angespannt: Unsere Impf-Zertifikate wurden nur mit Seitenblick geprüft, der Laden war gesteckt voll ohne Abstand zwischen den Tischen, und das Personal konnte keine Nachfragen zum kulinarischen Angebot beantworten. Wir wurden satt, schauten aber, dass wir da schnell wieder rauskamen.
Spaziergang nach Hause und Beschluss, bis Ende Pandemie höchstens noch in Gastronomie mit ernsthaft überprüfter 2G-Regelung einzukehren, also nur unter verlässlich Geimpften/Genesenen (dass es 2G-Lokale in München gibt, weiß ich aus dem Lokalteil der Süddeutschen – eigentlich sehe ich da auch ein lukratives Geschäftsmodell).
Aber der Zweck der Verabredung hatte sich erfüllt: Wir waren dazu gekommen, einander von den vergangenen beiden Wochen zu erzählen. Daheim noch ein wenig Süßes und ein Limoncello, früh ins Bett.
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Adrian Daub, Germanist und Professor für vergleichende Literaturwissenschaft an der Stanford University in Kalifornien, schreibt über die Verdrehung und Instrumentalisierung eines US-amerikanischen Begriffs in deutschsprachigen Medien:
“Der kurze Weg von der Lappalie zur Cancel Culture”.
Gruselige Anekdoten für die Boomerseele: Unter dem Schlagwort «Cancel Culture» ist in den deutschsprachigen Feuilletons ein regelrechtes Ökosystem entstanden.
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Cancel Culture reiht sich in ein Muster ein: Aufregung unter Rechten in den USA wird Futter fürs liberale deutschsprachige Feuilleton. Man fühlt sich an den alten Marx-Satz erinnert, Deutschland habe die Restaurationen gehabt, selbst wenn es die Revolutionen übersprungen habe. Europa mag Entwicklungen unter US-Campus-Linken – wie die Gender Studies und Critical Race Theory – zwar verschlafen haben. Für die Ängste seitens Konservativer über Gendern ist es aber hellwach.
Der britische Soziologe Stanley Cohen hat dafür schon in den siebziger Jahren den Begriff der moralischen Panik geprägt: Moralische Panik ist immer ein Stück Aufmerksamkeitsökonomie, eine Art kollektiver Konzentration auf scheinbar marginale Dinge, von denen auf eine gesamtgesellschaftliche Gefahr geschlossen wird. Bestimmte Ereignisse sollen plötzlich viel mehr Aufmerksamkeit verdienen als andere, äusserlich sehr ähnliche. Moralische Panik macht uns hypersensibel für die einen und blind für andere. Cohen hat auch darauf hingewiesen, dass bei moralischer Panik immer irgendeine Form der Jugendkultur im Zentrum der Projektion stehe: Mods, Rocker, Heavy-Metal-Fans – und jetzt eben «woke» Student:innen. Die Angst vor der jeweiligen Nichtigkeit ist immer auch eine Angst davor, selber obsolet zu werden.
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Immer wieder werde ich von europäischen Kolleg:innen mit angehaltenem Atem gefragt, was ich mich denn überhaupt noch trauen würde. Ganz so, als flüsterte ich meine Vorlesungen zu Stefan George nur noch und als würde ich meine Kant-Gesamtausgabe irgendwo vor studentischen Spitzeln verstecken. Interessant ist aber auch, dass mir diese Frage genau so, im gleichen besorgten Ton, seit ungefähr fünfzehn Jahren gestellt wird. Die Fragesteller:innen scheinen auf einen neuen McCarthyismus von links in den USA zu warten wie Estragon und Wladimir auf Godot.
Die Tendenz, anhand einer kleinen Anzahl Vorgänge an Liberal Arts Colleges und Ivy-League-Universitäten eine angebliche Welle linker Intoleranz diagnostizieren zu wollen, ist mittlerweile sogar vierzig Jahre alt, fast so alt wie ich. Die Warnung vor drohenden Denkverboten und so viel anderem mehr wurde schon 1985 von Allan Bloom in seinem Bestseller «The Closing of the American Mind» ausgebreitet, 1990 von Roger Kimball in «Tenured Radicals», 1991 von Dinesh D’Souza in «Illiberal Education» und 1992 von Robert Hughes in «Culture of Complaint». 1995 prangerte auch Peter Thiel in «The Diversity Myth» die «politische Intoleranz» an US-Unis an. Und das sind nur die erfolgreicheren Titel. Jedes Jahr bringt ein weiteres Dutzend solcher Menetekel.
Unabhängig vom Erscheinungsdatum hatten diese Bücher alle dieselbe Masche. Die dystopische Zukunft, die sie entwarfen, erfüllte sich nie. Alles, was man «bald» nicht mehr würde unterrichten dürfen: Man unterrichtet es noch heute. Diese historische Dimension fällt bei der Aufbereitung im Feuilleton weg: Von den genannten wurden offenbar nur die Bücher von Allan Bloom und Robert Hughes überhaupt ins Deutsche übersetzt. Das Zeitungswesen ist schnelllebiger als die akademische Welt. Was sich in den USA also als jahrzehntelange Kampagne präsentiert, wird im deutschsprachigen Feuilleton als immer wieder neue Erregung erlebt.
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ABBA hat wieder gemeinsam Musik veröffentlicht und eine neue Show vorbereitet. Ein ausführliches Interview mit den beiden ABBA-Komponisten Ulvaeus and Andersson im Guardian:
“Super troupers! Abba on fame, divorce, ageing backwards – and why they’ve returned to rescue 2021”.
Erst dadurch habe ich mich daran erinnert, dass ABBA Anfang der 1990er eigentlich Vergangenheit waren; auch ich kannte sie vor allem als ein Detail, mit dem ich als Teenager nichts anfangen konnte: ABBA war was für Pferdemädchen. Doch dann:
A jokey Australian tribute band, Björn Again, began to do surprisingly good business, progressing from playing colleges to performing at Reading festival at the behest of headliners Nirvana: today, Björn Again is a global franchise, with umpteen versions of the band performing in different territories.
Genau diese Band spielte auf dem Summer Ball der Swansea University, den ich 1992 besuchte – und auf dem ich mich überraschenderweise leidenschaftlich zu ABBA mitgröhlend und tanzend in der Menschenmenge wiederfand.
Both [Ulvaeus and Andersson] profess bafflement as to what happened – “It’s difficult to fathom, you know, I really don’t get it,” Andersson shrugs – but the truth is probably quite prosaic: a generation who had grown up with Abba’s music as young children, at an age when the alleged coolness or otherwise of music has no bearing on your tastes, had come of age.
Richtig lieb gewonnen habe ich ABBA-Schlager dann durch den herzzerreißenden Film Muriel’s Wedding. 