Journal Dienstag, 5. Dezember 2023 – Vicki Baum, Menschen im Hotel / Weiterhin Winternotfall

Mittwoch, 6. Dezember 2023 um 6:29

In Vicki Baums Roman von 1929 ist genau das drin, was drauf steht: Menschen im Hotel. Er erzählt zum einen Geschichten die ganze Hierarchie der Angestellten durch, vom kleinsten Pagen bis zum Hotelleiter, nimmt sie alle ernst.

Zum anderen die Geschichten der Gäste, im Mittelpunkt steht aber nicht etwa eine der mondänen Gestalten: Herr Kringelein ist die am reichsten ausgebaute Figur (für die es auch am besten ausgeht). Der kleine Buchhalter aus der Provinz weiß, dass er nicht mehr lang zu leben hat und möchte von seinen Ersparnissen, die er bald eh nicht mehr braucht, “endlich leben”. Der Roman lässt ihn viel erleben und lernen, neckt ihn zwar hin und wieder, macht sich aber nie über ihn lustig.

Einen richtigen Bösewicht gibt es unter all den Menschen nicht, mit jedem und jeder hat die Erzählung Erbarmen – freut sich an der Vielschichtigkeit und den Widersprüchen von Charakteren.
Ich mochte auch die vergnügte Opulenz der Sprache, die sich nach einer Erzählstimme las, die niemandem irgendwas beweisen muss.

Durch die Szenerie der Handlung lernte ich zudem viel über längst vergangenen Alltag, seine Mechanik (Hotels mit Schreibzimmer, der Luxus von fließend warmem Wasser, nachmittäglicher Tanztee) und seine Technik (u.a. Aufzüge mit Fahrer, neu installierte elektrische Außenbeleuchtung).

Richtig gut gemachte Unterhaltung ist selten – und eine, die sich auch fast hundert Jahre später noch verkauft, muss eine erst mal schreiben.

§

Als mein Wecker gestern wie gewöhnlich um 5:45 Uhr klingelte, war Herr Kaltmamsell schon aus dem Haus und auf der Jagd nach einer Fahrt in die Arbeit (die dann deutlich zügiger klappte als am Montag).

Meinen Arbeitsweg wiederum trat ich ordentlich beladen mit Hardware für die Weihnachtsfeier an. Zum Glück hatte es in Münchens Mitte kein neues Eis durch Eisregen gegeben, die festgetretenen, aber zum Großteil gestreuten Wege waren nicht rutschiger als am Montag, ich kam gut voran.

Der Morgen graute hell, vormittags auf der Tonspur vorm Büro das Tropfen schmelzenden Schnees.

Die Beschwernisse des Münchner Öffentlichen Verkehrs hielten an, es taten sich immer mehr Abgründe auf:

Nachdem Gleis- Räumfahrzeuge entgleist sind, müssen Mitarbeiter der Münchner Verkehrsgesellschaft (MVG) die Rillen der Trambahnschienen jetzt mühsam per Hand von Schnee und Eis befreien.

Hieß es in den BR-Nachrichten.

Mehr Hintergrunddetails hatte die Abendzeitung:
“Schneechaos in München: Ein Oldtimer räumt die Tramgleise für die MVG”.
via @CucinaCasalinga

Laut Pro Bahn waren bei der Tram früher bei Schneefall die älteren und unempfindlicheren Hochflurstraßenbahnen die ganze Nacht im Einsatz, um ein Einfrieren der Infrastruktur zu vermeiden. Die früher üblichen Schneepflüge vor Trambahnen sind demnach verkauft oder verschrottet, die Ersatzkonzepte mit Unimog führten nicht zu geräumten Strecken.

In diesem Artikel auch interessant: Nach welcher Priorität der Räum- und Streudienst des Baureferats seine Dienstleister in Einsätze schickt.

Dann wiederum erfreute mich ein unverwechselbarer Pfiff vorm Bürofenster: Die Weihnachtslok war unterwegs!

Mittags eine weitere und jetzt wohl letzte Einkaufsrunde für die Weihnachtsfeier. Beim Verlassen des Hauses sah ich eine mittelgroße Ratte im Gebüsch kruschen und beobachtete sie eine Weile. Beim Zurückgehen durch die U-Bahn-Unterführung sah ich dann ein kugeliges Mäuslein huschen – so niedlich!

Mittagessen eingeweichtes Müesli mit Joghurt, Orangen.

Emsiger Nachmittag, überschattet von Kreuz-/Unterleibsschmerzen.

Auf dem Heimweg war es weiterhin tauend mild, ich ging über Süßigkeiten-Einkäufe beim Edeka. Zu Hause saß Herr Kaltmamsell in einem Elternsprechabend: Anders als der Unterricht war dieser Termin wegen der Witterungsbedingungen auf online umgewidmet worden.

Ich machte derweil Yoga-Gymnastik: Nachdem ich gemerkt hatte, dass die nächste Folge nur aus Schnaufen und Liegen mit besinnlichem Geplapper bestand (mittlerweile verschaffe ich mir vorsichtshalber immer vorher einen Überblick), übersprang ich sie und turnte eine Folge mit Bewegung.

Herr Kaltmamsell war fertig mit Elternsprechen, er kochte uns schnelle Muschelnudeln mit scharfer Tomatensauce, sehr gut. Nachtisch Schokolade.

Meine neue Lektüre gab’s diesmal wieder in der Stadtbücherei: Grete Weil, Der Weg zur Grenze.

§

“‘Der Trend zur Autofiktion ist eine Antwort auf die Macht der Verlage'”.

Erfolgreiche Romane sind zunehmend das Ergebnis großer Teams. Der Literaturwissenschaftler Dan Sinykin erklärt, wie Verlagskonzerne derzeit den Buchmarkt verändern.

Hochgradig spannend in meinen Augen, wie nicht nur in der bildenden Kunst, sondern auch in der schreibenden Marktmechanismen den Wert bestimmen. Und interessant, dass sich die Literaturwissenschaft damit beschäftigt.

die Kaltmamsell

4 Kommentare zu „Journal Dienstag, 5. Dezember 2023 – Vicki Baum, Menschen im Hotel / Weiterhin Winternotfall“

  1. Joël meint:

    Es gibt von Menschen im Hotel auch ein wunderbar aufwendig produziertes Hörspiel von 1958, mit der legendären Brigitte Horney als Tänzerin mit der Perlenkette.

    Und bei Bayern2 gibt einen schönen Podcast über Vicky Baum und genau den Roman. https://www.ardaudiothek.de/episode/radiowissen/vicki-baum-menschen-im-hotel/bayern-2/88632582/

  2. lihabiboun meint:

    Liebe Kaltmamsell, Sie haben mich inspiriert, ich lese das Buch auch gerade. Wunderbar finde ich Ihre Definition des Stils “vergnügte Opulenz” – passgenau, treffend. Ich alte Wortklauberin liebe es, wenn jemand seine Wörter gut einsetzen kann …

    @Joel: Danke für den link zum Podcast. Ich habe mich von der Kaltmamsell animieren lassen und lese auch grade die Menschen im Hotel.

  3. PaulineM meint:

    Wie schön, dass ich hier Anregungen für Weihnachtswünsche bekomme. Das Buch “Menschen im Hotel” steht schon auf der Liste und den Podcast speicher ich mir als kleines Anhängsel gleich dazu. Vielen Dank an die Kaltmamsell und an Joel!

  4. Maria meint:

    Meine Erinnerung dazu: ich habe das Stück vor ungefähr zwei Jahren im Theater in Nürnberg gesehen; es war eine grottenschlechte Inszenierung und das Bühnenbild bestand aus drei aufblasbaren Flamingo -Badeinseln, die für alles herhalten mussten, außer für das Erzählen einer Geschichte oder das Erfreuen an einem Setting. Ich freue mich jetzt, dass das Stück Original offensichtlich weitaus gelungener ist als mein Abend damals. Ich werde es lesen müssen, quasi als Wiedergutmachung.

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