Journal Dienstag, 9. April 2024 – Caroline Wahl, 22 Bahnen und die Hollywoodisierung des Themas Armut

Mittwoch, 10. April 2024 um 6:37

Unruhige Nacht, ganz erstaunlich, was sich mein Stoffwechsel als Anlässe für Ängste und Sorgen suchte. Ich wachte recht zermatscht auf.

Draußen war es düsterdiesig und schwül. Da für den späteren Tag ein Temperatursturz angekündigt war, ging ich zwar in T-Shirt in die Arbeit, steckte aber eine warme Jacke in meinen Arbeitsrucksack.

Recht rühriger Vormittag, weniger Kolleg*innen als sonst dienstags präsent, weil auf einer Veranstaltung.

Der Saharastaub sorgte auch gestern für die trübe Diesigkeit, in der ich zu meinem Mittagscappuccino ging. Ich hatte eine weitere Quelle ganz in der Nähe wahrgenommen, die ich ausprobierte. Der Cappuccino war in Ordnung, vor allem aber war das Lokal sehr lokal und uncool – für mich ein Plus.

Im warmen Wind wirbelten die Blütenblätter der Zierapfelbäume, ich filmte diese Variante des Sakura.

Erst packte ich noch einen größeren Job an, dann gab’s Mittagessen: Karottensalat, Orangen – am Montag war die letzte 10-Kilo-Kiste der Saison des adoptierten spanischen Orangenbaums angekommen.

Den Nachmittag verbrachte ich mit heftigem Korrekturlesen (manchmal habe ich dann doch das Gefühl, dass ich mein Geld wert bin) und Crispy-Chili-Oil-Rülpserchen. Ich merkte, dass es draußen kälter wurde, weil ich das Bedürfnis hatte, das gekippte Fenster zu schließen.

Später Feierabend, mittlerweile hatte es zu regnen begonnen. Und ich war froh um die eingesteckte Jacke: Es war schlagartig kalt geworden.

Auf meinen Wegen achtete ich genauer auf Flieder: Wie vermutet sehen die verbliebenen Büsche arg mitgenommen aus und haben nur ein Drittel der Äste vom Vorjahr; deren Kreuz- und Querheit deutet auf unfreiwilligen Abbruch des Rests durch den heftigen Schnee Anfang Dezember 2023 hin.

Zu Hause Wäscheaufhängen und Pediküre, dann nahm ich mir doch noch die Zeit für Yoga-Gymnastik – nochmal die sportliche Folge von Montag, die besonders gut lief.

Herr Kaltmamsell servierte als Nachtmahl schnelle Krautfleckerl: Er hatte die Hälfte des dafür gebrateten Krauts bei der letzten Zubereitung eingefroren. Nachtisch Schokolade, schon wieder zu viel.

Im Bett begann ich die nächste Lektüre, ich hatte meine Wunschliste wieder mit dem Bestand der Stadtbibliothek abgeglichen und gefunden: Reinhard Kaiser-Mühlecker, Wilderer.

§

In 22 Bahnen lässt Caroline Wahl die junge Frau Tilda erzählen: Wie sie in einer deutschen mittelgroßen Stadt ohne Namen an der Supermarktkasse jobbt, sich um ihre kleine Schwester Ida im Grundschulalter kümmert, auch um ihre schwer alkoholkranke Mutter, wie sie im Mathematik-Studium kurz vor ihrem Master steht. Als Hintergrund des Handlungsstrangs in der Gegenwart erinnert sie sich an vorherige Geschichten: Wie sie als einziges armes Kind in einer wohlhabenden Einfamilienhaussiedlung groß wurde, wie ihre Altersgruppe nach dem Abitur nach und nach Richtung Berlin verschwand, jetzt nur hin und wieder auftaucht. Und wie sie in der Zeit nach dem Abitur ihren besten Freund verlor. So oft es geht, schwimmt sie in einem ebensowenig näher bezeichneten Freibad 22 Bahnen; die Romanhandlung setzte ein, als am Anfang des Sommers dort der große Bruder des verstorbenen besten Freundes auftaucht.

Das ist alles süffig und gut weglesbar geschrieben, wir bekommen junge Leute, große Gefühle, soziale Ungerechtigkeit, das Thema Armutsbetroffenheit trifft auch auf Zeitinteresse. Doch genau dieses Thema stieß mir beim Lesen immer stärker auf: Weil es in meinen Augen durch riesige Auslassungen sträflich unrealistisch beschrieben wird.

Menschen in Armut rechnen ununterbrochen Kosten mit, das ist ein Grund, warum Armut so viel Kraft zehrt – nicht einfach, dass sie sich keine Markenprodukte leisten können. Doch hier: Die Kosten für Busfahrkarten, Schwimmbadeintritt, Ida kommt in die 5. Klasse Gymnasium und braucht neues Schulzeug und vermutlich neue Kleidung – an nichts davon denkt die Ich-Erzählerin, obwohl sie uns sonst sehr detailliert ihre Sorgen, Gedanken und Nöte schildert. Sie hat auch nicht im Blick, wann das nächste Geld eintrifft. Was ist zudem mit Rechnungen, die gezahlt werden müssen? Die alkoholkranke Mutter wird als zu nichts Alltagstauglichem in der Lage beschrieben, sie kümmert sich sicher auch nicht um Rechnungen – doch sie werden mit keinem Wort erwähnt. Auch nicht als Tilda überlegt, ob ihre kleine Schwester alt genug ist, nach einem Wegzug Alltag ohne sie zu bewältigen.
Dass diese Ida beim Einkaufen das Geld abgezählt dabei hat, wirkt dadurch wie eine weitere ihrer Schrullen – und nicht wie das notgedrungene Verhalten armer Menschen.

Außerdem wird lediglich immer wieder der Unterschied erzählt, den Tilda beim Großwerden im Vergleich zu ihrem Freundeskreis erlebte, der in Eigenheimen wohnte, tolle Urlaube machte, jetzt Zweit- und Drittstudium von den Eltern finanziert bekommt. Gar keine Rolle aber spielt die Gesellschaft, in der sich Tilda seit vielen Jahren mit ihrem Supermarktjob bewegt: Was ist mit den Kolleg*innen dort? Mit der Chefin? Nicht mal Schicht-Absprachen werden erzählt. Soll durch das Hervorheben der Umgebung, die reicher ist als die Protagonistin, ihre Isolation unterstrichen werden? Mir schien, dass in diesem Roman die Gesellschaftsschicht der Supermarktangestellten, in der man halt wenig Geld hat und sich ständig arrangieren muss, schlicht keine Ausschmückung wert ist, nicht ernst genommen wird – mal wieder (warum wohl war der Film In den Gängen mit Sandra Hüller solch eine auffallende Ausnahme?).

Weitere merkwürdige Auslassung: Das Internet und seine Möglichkeiten zu menschlichen Verbindungen. In einer Romanwelt, in der es sehr wohl WhatsApp gibt, hat Tilda keinerlei Kontakte auf Online-Plattformen. Sie sagt nur einmal zu ihrer kleinen Schwester, dass sie von Social Media nichts hält. Soll dieser dramaturgische Kniff rechtfertigen, dass sich Mathe-Überfliegerin Tilda nie um ein Stipendium beworben hat? Weil sie von dessen Existenz nichts mitbekommt? (Im Hinterkopf hatte ich eine Überflieger-Freundin aus Studientagen, die mit ihren Stipendien auch ihren armen Vater ernährte.)

Das Set-up des Romans hinkt auf beiden Beinen, und das nehme ich beim untererzählten Thema Armut besonders übel.

Aber mir gefiel auch einiges: Zum Beispiel dass wir immer wieder Tildas Perspektive an der Supermarktkasse erzählt bekommen. Ihre Unsicherheit gegenüber dem großen Bruder ihres Jugendfreunds. Die in meinen Augen realistische Schilderung des Alkoholikerinnenverhaltens von Idas und Tildas Mutter, inklusive Krankheitsleugnung und immer neuen Besserungsversprechen. Und ich mochte die Beschreibung von Idas Entwicklungssprüngen, viele sehr atmosphärische Beschreibungen (Filmrechteverkaufambitionenverdacht).

Dass mir Details zum titelgebenden Schwimmen fehlten, gestehe ich meinem persönlichen Interesse zu. Anscheinend handelt es sich um ein normales Freibadbecken: Gibt es beim Bahnenziehen nie Störungen durch lediglich planschende Kinder? Welche ist Tildas Schwimmart? Fühlen sich die geschwommenen Bahnen nie unterschiedlich an?

In Summe: Eine verpasste Gelegenheit für einen wirklich guten Roman. Vielleicht war der Verlag schuld und hat ihn Caroline Wahl nicht schreiben lassen, weil er deutlich weniger feel good geworden wäre.

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Ausführliches und spannendes Interview in Journalist mit Mai Thi Nguyen-Kim über ihren Wissenschaftsjournalismus:
“‘Als Wissenschaftlerin komme ich mit Hass gut klar'”.

Unsicherheiten sind fester Bestandteil wissenschaftlichen Arbeitens. Manchmal sind sie größer, manchmal kleiner, wie bei der Schuld des Menschen am Klimawandel zum Beispiel. Da gibt es einen derart großen Berg an wissenschaftlichen Belegen, dass man von einem Fakt spricht. Wer das anzweifelt, muss ebenso viele Belege auf den Tisch legen. Ansonsten darf man nicht erwarten, ernstgenommen zu werden. Fakt ist Fakt.

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Das hier könnte für UX-Designer*innen jenseits der Erträglichkeitsgrenze sein, für den Rest von uns ist es sehr, sehr lustig.

die Kaltmamsell

3 Kommentare zu „Journal Dienstag, 9. April 2024 – Caroline Wahl, 22 Bahnen und die Hollywoodisierung des Themas Armut“

  1. Madamzonk meint:

    Vielen Dank für den Link am Schluss. Ich lache Tränen, meine Teamkollegen, die im UX-Design arbeiten, ebenso. Das Square Hole ist bei uns im Team seit heute ein geflügeltes Wort.

  2. Nadine meint:

    Danke für diese tolle Rezension! Das mit dem Geld, abgezählt, kenne ich teilweise aus armen Familien, aber z.T. auch nicht. Vielleicht hat das auch kulturelle Hintergründe. Ich gehe hier voll mit dir, dass das hier den Roman realistischer gemacht hätte.

  3. roswitha meint:

    das bemerkte unwissen in milieuschilderungen regt mich oft auf, da ich verschiedene perspektiven kenne. besonders schlimm empfinde ich häufig die unpassenden fragen oder kommentare der politisch verantwortlichen oder journalisten/-innen. beispiel: ein grundschulkind braucht hausschuhe für schule und zuhause, turnschuhe für halle(weisse sohlen) und draußen, alltagsschuhe. können die vorschriftenerfinder/-innen nachempfinden, was dies für eltern kostet?

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