Journal Dienstag, 20. Februar 2024 – “Dankbarkeiten” nach Delphine de Vigan im kleinsten Theater der Stadt
Mittwoch, 21. Februar 2024Eine deutlich bessere Nacht (nach drei kurzen/schlechten war ich sehr früh eingeschlafen), der Schlaf hätte meinetwegen länger dauern können. Der Wecker klingelte wieder zu Regengeräuschen.
Also wieder unterm Regenschirm in die Arbeit, zum Glück mit besserer Laune als am Montag.
Überraschend emsiger Vormittag, meinen Mittagscappuccino nahm ich deshalb wieder bei Nachbars (der war diesmal aber besonders gut). Spätes Mittagessen Avocado, Granatapfelkerne, viele Orangen – ich befürchtete Zuckerschock. Tatsächlich fiel ich lediglich ins Fresskoma und konnte die Augen kaum aufhalten.
Überfrüher Feierabend, weil ich abends ins Theater wollte – nein, diesmal nicht Kammerspiel-Abo, sondern ein kleines Westend-Theaterchen, Mathilde Westend, das sich als “kleinstes Theater der Stadt” bezeichnet. Ich hatte bei einem Mittagscappuccino im Café Colombo Werbekärtchen für die Inszenierung “Dankbarkeiten” gesehen, daheim recherchiert, und da sich Stück und Theater interessant lasen, eine Karte für die gestrige Vorstellung gekauft. Schließlich hatte ich mir ohnehin gwünscht, auf meinem inneren Kulturtracker mehr Punkte mit Abseitigem zu machen.
Heimweg unter trockenem, hellen Himmel mit größerer Besorgungsschleife: Ich holte in einer Arztpraxis ein Rezept, löste es gleich ein. Zu Hause Yoga-Gymnastik, zum besonders frühen Abendessen servierte Herr Kaltmamsell auf der Basis von Ernteanteil-Weißkraut ein Okonomiyaki, das wir uns teilten. Und dann machte ich mich auf den Fußweg ins Westend an ein Ende der Gollierstraße, das ich noch nicht kannte.
Beim Betreten des Mathilde Westend war ich ohne jeden Beweis bereit zu glauben, dass es das kleinste Theater der Stadt ist: 17 Klappstühle, Bühne, Toilette, Bar füllten einen Raum etwa halb so groß wie mein – zugegeben großzügiges – Schlafzimmer.
Teil des Bühnenbilds gleich bei der Eingangstür.
Bühnenbeleuchtung.
Eine Frau servierte gerade bestellte Getränke an die bereits besetzten Plätze, hakte mich dann von ihrer Liste der Zuschauer*innen ab, bat mich auf einen einzelnen freien Stuhl, damit die restlichen von Gruppen belegt werden konnten. Sie begrüßte kurz vor der Vorstellung auch das Publikum und verschwand dann: Das war Christina Matschoss, die im Stück gleich darauf die Marie spielte.
Im Mittelpunkt von “Dankbarkeiten”, inszeniert von Theresa Hanich, steht eine alte Frau, Michka (Elisabeth Rass), die nicht mehr allein zurecht kommt und in ein Heim zieht. Die junge Marie hilft ihr dabei, besucht sie immer wieder. Michka, die in ihrem Berufsleben vor allem von ihrem Wortschatz profitierte, verliert jetzt die Wörter, sie leidet unter Aphasie. Der Logopäde Jerome (Florian Hackspiel) versucht im Heim, diesen Prozess zu verzögern, kommt darüber ins Gespräch mit Michka. In diesen Austauschen und in Mischkas Träumen erfahren wir Stück für Stück, welcher Mensch Michka ist und war, wie sich diese Gegenwart im Alter und das Leben davor unterscheiden. Mit Humor und in einleuchtenden Beispielen erzählt “Dankbarkeiten”, was diese letzte Lebensphase im höchsten Alter aus Menschen machen kann, wie sie irgendwann nur noch Fertigkeiten und Freiheiten verlieren, keine neuen hinzukommen, Zwangsende der Selbstoptimierung. Das fand ich berührend, aber auch trostlos, selbst wenn das Stück ein tröstliches Ende anbietet.
Die Hauptrolle der Inszenierung aber hatte das Theater selbst, nämlich durch den Umgang mit all seinen Einschränkungen. Für Jeromes Auftritte und Abgänge wurde das Klo genutzt, Marie kam von und ging auf die Straße (das könnte bei heftigem Regen oder Schneefall abenteuerlich sein). Ein angedeutetes Bett, ein Stuhl, ein Hocker, ein Schränkchen – mehr war an Requisiten nicht nötig. Und die (handlungsbedeutenden) Traumsequenzen wurden als Film auf die Wand hinter der Bühne projiziert, untermalt von einem Musikthema in Abwandlungen, je nach dem, in welche Stimmung Michka geführt wurde. Ich stelle mir ja vor, dass diese Theatersituation eine reizvolle Herausforderung für Regisseur*innen sein müsste. Und frage mich, ob WoW – Word on Wirecard-Folterregisseur Łukasz Twarkowski auch daraus etwas machen könnte. Dann wieder: Ist das für die Schauspieler*innen nicht auch seltsam, derart dicht am Publikum zu spielen?
Nach gut anderthalb Stunden und heftigem Applaus stand ich wieder auf der Straße und ging zur U-Bahn, dem Stück hinterher sinnend (und meine gegen die Sitzsituation protestierenden Lendenwirbel zurückrenkend). Ich bin schon sehr gespannt auf weitere Inszenierungen in dieser Winzel-Umgebung.
Zu Hause merkte ich, dass das Abendessen nicht gehalten hatte und aß noch ein Schüsselchen Haferflocken, um nachts nicht von Hunger geweckt zu werden.