Theater

Journal Samstag, 11. Mai 2024 – Wahlhilfegeschult in neuer Rolle

Sonntag, 12. Mai 2024

Früh aufgewacht, aber erfrischt, und überhaupt kam mir das sehr entgegen.

Unter anderem kam ich so kurz nach neun los auf meine Laufrunde durch einen herrlichen Frühlingstag, wundervolle klare Luft, mit leichten Beinen. Ich nahm dieselbe Runde wie schon am Donnerstag: Alter Südfriedhof, Westermühlbach, Flaucher, Maria Einsiedel und zurück.

Spielplatz in einem Park mit alten Bäumen, kleinsieht man darin zwei Kinder und eine Erwachsene

Der Nußbaumpark wurde bereits bespielt.

Park-ähnlicher Friedhof im Sonnenschein mit wenigen alten Grabsteinen

Kleineres viereckiges Graffiti an Brückenpfelier, darauf eine Kloschüssel und die Wörter "Dead" und "shit"

Unter der Braunauer Eisenbahnbrücke.

Blick durch Bäume auf sonnenbeschienenen Fluss

Blick auf FLusslandschaft unter einer Eisenbahnbrücke durch, die mit Graffiti bemalt ist, dahinter am Horizont zwei Türme eine Kirche

Ich bog auf dem Rückweg wieder zum Bäcker ab und stellte fest, dass das Glockenbachviertel wuselte: Tag der Hofflohmärkte, das Angebot bordete über und wurde rege angenommen.

Frühstück schon um zwölf: Apfel, Körnersemmel. Die frühe Uhrzeit war meinem Nachmittagstermin geschuldet: Wahlhilfeschulung für die Europawahl am 6. Juni, ich absolvierte zum ersten Mal die Schulung zur Wahlvorsteherin (werde als stellvertretende solche fungieren). Nachdem mich der letzte Einsatz bei der Landtagswahl sehr gestresst hatte, wollte ich mir das ja eigentlich nicht mehr antun. Doch Europawahl ist wirklich die einfachste Wahlhilfe (mit der war ich seinerzeit auch eingestiegen), das ging nochmal.

Die Schulung fand im Gebäudekomplex des KVR statt, ich mäanderte durch den wundervollen Frühlingstag im Schlachthofviertel hin.

In einem Seminarraum Blick auf Leinwand, auf der steht "Herzlich willkommen zur Schulung für Vorstehende im Wahlraum"

Blick aus einem modernen verglasten Treppenaus auf eine alte Häuserzeile

Die Schulung war spannend (auch wenn ich gerne nochmal Schriftführung übernommen hätte: es gibt neue Wahlkoffer, neue Software), ich lernte einiges auf vielen Ebenen, auch auf der menschlichen. Und ich erfuhr, dass die Landtagswahlhilfe vergangenes Jahr nicht nur mich besonders anstrengend war, aus denselben Gründen.

Auf dem Rückweg schlenderte ich und nahm mir die Zeit für Fotos.

Altmodische Ladenfront in Altbau, darüber ates Schild "Obst Lebensmittel Gemüse", davor steht ein Hollandrad

Altmodische Ladenfront in Altbau mit altem Schild "Waschmittel", rechts neben Laden ein roter Kaugummiautomat

Moderne Kirchentür in schlichter Mauer, Schrift "St. Andreas"

Blick in sonnige Stadtstraßenkreuzung mit Radler und weißem Auto, ganz im Hintergrund einer Straße sieht man die Bavaria

Im Nußbaumpark begegnete ich mehr als einer Sorte… ähm… Hörnchen in Bäumen.

Baumstamm mit Eichhörnchen

Baumkuhle mit Ratte

Das untere war nur eines einer Dreier-Gruppe.

Daheim gleich mal Brotteig geknetet – da der Buttermilchbecher nicht mehr voll war, ergänzte ich mehr Wasser.

Während der Brotteig sein Ding machte, also Gehen, setzte ich mich auf den genau richtig temperierten Balkon. Auf dem Weg zur Schulung hatte ich am Volkstheater Werbung für die aktuelle Inszenierung von Dürrenmatts Besuch der alten Dame gesehen – Check ergab einen sehr spannenden Ansatz. Da Herr Kaltmamsell sich in letzter Zeit etwas offener für Theaterbesuche zeigte, fragte ich ihn, ob er mich begleiten würde – und kaufte uns dann gleich zwei Tickets (die allerletzten für die Vorstellung, läuft für’s Volkstheater, was?).

Und weil mich die Empanada so gefreut hatte, schrieb ich das Rezept auf meine Rezeptseite.

Fürs Nachtmahl sorgte Herr Kaltmamsell: Es gab persisches Rhabarberlamm, Rhabarber aus Ernteanteil.

Gedeckter Tisch mit weißem, gefüllte Teller - Reis und Ragout, darüber große Pfanne mit Ragout, kleiner Topf mit Reis

Rhabarber, Lamm und Minze passten gut zusammen, insgesamt ist das aber nicht mein Lieblingsgeschmack. Nachtisch Schokolade.

Das Brot gelang gut:

Aufsicht auf einen schwarzen, eisernen Topf, darin ein beim Backen aufgerissener Brotlaib

Im Fernsehen stolperte ich in den Disney-Trickfilm Vaiana (englischer Originaltitel Moana. Why.). Er gefiel mir so gut, dass ich den Rechner zuklappte und ihn mit ganzer Aufmerksamkeit ansah: Ein pures Märchen mit einigen wunderschönen Ideen – allein die erzählenden Tatöwierungen! Und was die Animation mit dem Protagonisten Wasser gemacht hat, ist atemberaubend.

§

Margaret Atwood ist einem Alter (84), das mich sofort besorgt macht, wenn ich länger nichts von ihr höre. Zu meiner Beruhigung stellt sie sich in dem Interview mit Lisa Allardice im Guardian als quicklebendig heraus:
“‘I can say things other people are afraid to’: Margaret Atwood on censorship, literary feuds and Trump”.

“I’m a kind of walking opinion poll,” she says. “I can tell by the questions that people ask me what’s on their minds. What is the thing they’re obsessing about at the moment.” The backwards turn of women’s rights, with the ruling just this month that the 1864 total ban on abortion be enforced in Arizona, for example, is high on the list. But as always she is careful to stress that there is no one answer to questions about the future for women. “I have to ask which women? How old? What country? There are many different variations of women.”

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In der vergangenen Zeit berichten Medien immer wieder über “Trends”, von denen ich vorher nichts wusste – und verstehen darunter Themen, die besonders viel durch Social Media gereicht werden. Fachmann Jens Scholz erklärt den Denkfehler des Mechanismus’ in einem Mastodon-Thread.

Journal Mittwoch, 24. April 2024 – Nora Abdel-Maksoud, Doping

Donnerstag, 25. April 2024

Es wurde wieder nur mühsam hell zu grauem Himmel. Zumindest blieb die Kälte vorerst niederschlagsfrei (noch zwei Tage, hielt ich mir vor Augen, am Freitag sollten die Temperaturen spürbar steigen).

Wieder in Winterkleidung in die Arbeit.

Trotz allem marschierte ich auf einen Mittagscappuccino ins Westend, die Bewegung tat auch bei leichtem Nieseln gut.

Mittagessen Pumpernickel mit Butter, eine Orange. Dazu Schneegestöber vorm Fenster. Die Bürojalousien wollten dennoch ständig runter, regelmäßiges Aufspringen, um sie davon abzuhalten.

Feierabend machte ich schon um halb vier: Ich hatte abends einen Theatertermin. Auf dem Heimweg wurde ich nochmal angegraupelt, jetzt war aber wirklich mal gut.

Straße mit Blick auf nassen Bürgersteig, rechts ein Stromkasten auf dessen Seite eine weiße Figur gesprüht ist

Das Männchen scheint der Westend-Patron zu sein.

Für mein Theaterabo hatte ich gestern Begleitung; wir trafen uns vor der Vorstellung zum Abendessen im Blauen Haus. Dort gab es Salätchen zur Vorspeise, dann ließ ich mir Tomate-Mozzarella-Ravioli mit brauner Butter servieren, die mir wunderbar schmeckten.

Gegeben wurde gestern in den Kammerspielen das frisch geschriebene Theaterstück (!) Doping von Nora Abdel-Maksoud, die auch Regie geführt hatte, angekündigt als “Komödie” – ich konnte mich nicht erinnern, in den Kammerspielen je eine “Komödie” gesehen zu haben und war ausgesprochen gespannt. Begleiterscheinung dieser raren Gattung: Nur gut anderthalb Stunden Spielzeit, das hatte ich ja seit der Intendanz von Johan Simons nicht mehr gehabt. Außerdem rar: Der Zuschauerraum war voll, sogar proppenvoll bis auf den letzten Platz, und das Publikum hörte sich ausgesprochen amüsierwillig an.

Doping startete mit voller und eher platter Breitseite: Dem Monolog eines FDP-Lokalpolitikers auf Sylt, erwartbaren Leistungsgesellschaftsstatements, Komik-Niveau eher Fernsehen. Mit brachialer Komik ging es auch weiter: Politiker scheitert gesundheitlich an seinen eigenen Standards, muss unbedingt für eine zentrale Wahlveranstaltung wieder funktionisfähig gemacht werden, wird in eine Geheimklinik gebracht. Das war gnadenlos immer weiter überdreht und durchgespielt, irgendwann ließ auch ich meine eher angespannten Augenbrauen sinken und mich amüsieren.

Vincent Redetzki als Jung-FDPler zeigte wunderbar die geistigen Verbiegungen, die ein Man-muss-nur-wollen-Idealist bei Kontrollverlust benötigt, um diese Ideologie aufrecht zu erhalten. Seinen Mentor spielte Stefan Merki und stand für die Verwechselbarkeit von Leistungsideal und Egoismus (und durfte die schöne Zusammenfassung des FDP-Wahlprogramms sagen: “Freiheit, Eigenverantwortung und: Wer soll das bezahlen?”). Şafak Şengül stellte seine ständig unterschätzte Tochter dar, die in ihrer Schlauheit unbeabsichtigte Absurditäten aus dem Neoliberalismus ihres Vaters kitzelt. Und dann hatten wir als Krankenhauspersonal Eva Bay als Pflegerin, die die Monologe zur Forderung von equal share für Frauen bekam, Wiebke Puls in der am meisten überdrehten Rolle des Chefarztes mit brutalem Waterkant-Akzent, den ich zuletzt im Ohnsorg-Theater als solch komisches Stilmittel gesehen hatte (ich bin alt). Bühnenbild eher keines, lediglich ein pinkfarbenes Dreivierteilrund als Wand, das hin- und hergefahren wurde.

Insgesamt schon eine Gaudi, die Absurdität und Destruktivität der aktuellen FDP-Ideologie in erwartbare Spitzen getrieben, gepredigt natürlich zum eh schon bekehrten Kammerspiel-Publikum. Der Abend hatte etwas von politischem Kabarett der Lach- und Schieß-Generation (schöne Erinnerung, ich bin – siehe oben – alt) (und dieselbe Erinnerung, sehe ich, hat Wolfgang Höbel im Spiegel, aber der ist halt auch alt).

Der Heimweg begann saukalt, ich gab meinem Frieren und der fehlenden Bewegungslust nach und nahm für die eine Station eine U-Bahn nach Hause.

§

“The Evolution of Stupidity (and Octopus Intelligence)”.

via Buddenbohm

Dieser Artikel über Dummheit hat mir zum ersten Mal eine Definition von Intelligenz geboten, die mich (vorerst?) zufrieden stellt. Ich war bislang eher auf “denkt sehr schnell” ausgewichen. Aber hier (meine Umschreibung):
– Ignoranz ist das Fehlen von relevanten Daten/Informationen, die für die Lösung eines Problems erforderlich ist.
– Intelligenz ist das Ableiten einfacher Lösungen für komplexe Probleme. Mit Intelligenz helfen Informationen zur schnelleren Problemlösung. Problemlösung mit Intelligenz ist signifikant schneller als die mit reinem Ausprobieren.
– Dummheit ist die Anwendung einer Regel oder eines Gedankengebäudes, ohne dass Hinzufügen von Daten oder Informationen die Problemlösung verbessert. Extreme Dummheit ist in Problemlösung langsamer als reines Ausprobieren.

Was menschliche Intelligenz in obigem Sinn laut dem Artikel von der unterscheidet, die wir an Tieren beobachten: Durch Aufzeichnung können wir Wissen und Erkenntnisse über viele Generationen kommunizieren, sie immer weiter verbessern. Tiere können immer nur von Lebenden lernen.

Journal Donnerstag, 28. März 2024 – Volkstheater-Besichtigung mit Der Zauberberg

Freitag, 29. März 2024

Die Nacht war ein bisschen unruhig, weil ich nach Klogang um drei lang nicht mehr einschlief. Bei Weckerklingeln freute ich mich sehr auf das Ausschlafen am Karfreitag.

Das Draußen auf dem Weg in die Arbeit zapfig kalt, ich atmete Wölkchen.

Gestern wieder Kreuzschmerzen aus dem gesamten Unterleib (Stichwort Abbrechen in der Leibesmitte), die Auswahl an ärztlich diagnostizierten Ursachen ist ja groß genug.

Vergeblicher Versuch eines Mittagscappuccinos bei Nachbars: Direkt vor mir trat eine zehnköpfige Gruppe an die Theke, alle hatte komplexe Wünsche. Die Umsetzung derselben hätte mir zu lange gedauert, ich ging zurück und verlegte mich auf den traurigen Automaten-Cappuccino aus der Teeküche.

Das Wetter wurde immer greisliger, zum kalten Wind regnete es ab Mittag ergiebig und mit Wind.

Sehr pünktlicher Feierabend, denn ich war erledigt und musste nichts mehr tun. Und ich hatte eine Abendverabredung.

Auf dem saukalten, zumindest aber trockenen Heimweg ein paar Einkäufe für die nächsten Tage, zu Hause ruhte ich mich nur kurz aus, aß Nüsschen und einen Eiweißriegel, dann spazierte ich zum neuen Volkstheater: Ich hatte bislang nur das zugehörige Restaurant Schmock von innen gesehen und nutzt mit einer Freundin den Besuch einer Vorstellung, um den Rest zu erleben.

Unsere Wahl war auf die Inszenierung von Thomas Manns Der Zauberberg gefallen.1

Erstmal sahen wir uns in Foyer, Toiletten, Treppenhaus um:

Das Gebäude gefiel mir sehr gut, und mich erstaunte, dass es auch zweieinhalb Jahre nach Eröffnung niegelnagelneu aussieht: Mittlerweile bin ich gewohnt, dass Neubauten innerhalb kürzester Zeit Abranzungen aufweisen. Die schlichte Gestaltung passt zum Charakter des “Volkstheaters”, die wirtschaftliche und pünktliche Planung und Durchführung des Neubaus glich seinerzeit einer Sensation (Gerhard Matzig schrieb 2021 für die Süddeutsche darüber – leider wieder zu lesen nur gegen €: “Von München lernen heißt bauen lernen”). Im großen Theaterraum selbst, der mich mit schwarzen Wänden und Decke eher an ein Kino erinnerte, entdeckte ich, dass die orangen, in die Wand eingelassenen Leuchten tatsächlich eingemauerte Terracotta-Blumentöpfe waren, wie man sie in der Gartenabteilung eines Baumarkts findet – mit solchen Details lässt sich sicher Geld sparen. (Und meine Begleitung wies mich darauf hin, dass diese Technik bereits in der Antike verbreitet war.)

Der Zuschauerraum war voll, das Publikum überraschend gemischt. Fast vier Stunden Zauberberg erforderten durchaus Kondition (aber kein Sitzfleisch: sehr bequeme Sessel, reichlich Fußraum), die Aufführung hinterließ bei mir einen gemischten Eindruck. Leere Bühne mit wenigen Requisiten, wunderbares Ensemble-Spiel, verhandelt wurden Krankheit (eh), Krieg, Gesellschaftsformen, Menschenbilder, zum Teil in (wie im Roman) ermüdend ausführlichen Dialogen. Ich sah Spielvergnügen, bekam immer wieder komische Überzeichnungen (Luise Deborah Daberkow als Hofrat Behrens und Nina Steils als Dr. Krikowksi hatten eine besondere Gaudi) und lustige Technikeinsätze (nach der Pause bekam eine fahrbare Hebebühne immer wieder Sondergelächter). Im Vergleich zu dem, was ich von den Kammerspielen gewohnt bin, hielt sich die Inszenierung mit Bühnenmitteln zurück: Nur ein Musiker auf der Bühne (Alexander Yannilos), keine Projektionen, eine Hauptrolle spielte ein riesiger horizontaler Ring über dem Bühnenraum, aus dem Nebel waberte, nur einmal wurde mit einem Schneesturm so richtig die Sau rausgelassen – und selbst den erzeugten die Schauspieler mit zwei auf die Bühne geschobenen Ventilatoren und ein paar Eimern Kunstschnee selbst. Dennoch gab es auch hier Szenen, in denen zwei Handlungen übereinander gelegt wurden – sehr anstrengend für die Wahrnehmung, Funktion und Nutzen unklar.

Was für mich gar nicht funktionierte: Die Darstellung des Sanatoriums als Parallelwelt mit anderen Gesetzen. Zwar behaupteten die Figuren das immer wieder, doch die Theaterbühne und dramatische Darstellung sind ohnehin eine so andere Welt, dass dieser Kern des Romans nicht umsetzbar war.

Eigentlich hatte ich mich auf ein anschließendes Glas Wein mit Freundin und Gesprächen gefreut, war dann jedoch zu erledigt dafür und schaute, dass ich zackig heimkam.

Zu Hause aß ich noch schnell ein Schüsselchen Haferflocken, um nicht vom Hunger geweckt zu werden, kam gerade noch vor Mitternacht ins Bett, fror dann aber so sehr, dass ich nochmal aufstand, um eine Wärmflasche zu füllen.

§

Im SZ-Magazin interviewt Dorothea Wagner die junge spanische Schriftstellerin Andrea Abreu. Sie ist im Norden Teneriffas aufgewachsen und lebt jetzt wieder dort (€).
“‘Als Kind dachte ich immer, dass alle Touristen aus Deutschland kommen'”.

Darin ein nur auf den ersten Blick überraschendes Detail über die Auswirkungen des sich verändernden Tourismus:

Mich hat das früher wütend gemacht, dass Leute hierherkommen und trotzdem nicht einmal die salzverkrusteten Kartoffeln mit Mojo-Soße kennen, die wir machen. Aber heute weiß ich, dass es viel schlimmer geworden ist, seit mehr Touristen versuchen, sich unserer Kultur anzunähern und alternativen Urlaub zu machen.
Warum?
Es mag schwierig gewesen sein, dass so viele Touristen in den Hotels blieben und Bier tranken. Aber die, die es anders machen wollen, tauchen jetzt an unseren Orten auf. Ich verstehe den Impuls, so zu reisen. Es fühlt sich so an, als wäre das verantwortungsvoller und nachhaltiger. Aber es bedeutet, dass die Menschen plötzlich in unseren Vierteln stehen, in unseren Supermärkten, in unserem Alltag. Dass sich diese Orte dadurch verändern. Restaurants passen ihre Speisekarten an, meine Bekannten finden keine Wohnungen mehr zur Miete. Fast jede Woche liegt in meinem Briefkasten Post von einem deutschen Makler, der das Haus, in dem ich zur Miete wohne, an Deutsche verkaufen möchte. Meine Vermieterin ist eine alte Frau, vielleicht nimmt sie das Angebot irgendwann an.

§

Interview des Deutschlandfunks mit Larissa Kikol zu ihrem Buch Signed (meine eine Kritik an ihrem Buch ist ja, dass es keine E-Book-Version gibt):
“So viel Kunst steckt in Graffitis”.

§

Der Osterhase stellt sich vor.

via @stedtenhopp

  1. Dank einer Insider-Information weiß ich mittlerweile, warum seit vielen Jahren mehr Romane und Filme auf die Bühne gebracht werden als Dramen: Weil sie den Leuten vertraut sind und die Schwelle für einen Theaterbesuch senken sollen. []

Journal Mittwoch, 13. März 2024 – Freier Tag mit Schwimmen, Mohnnudeln und dem Horror des hohen Alters in Liebe (Amour) an den Kammerspielen

Donnerstag, 14. März 2024

Sind Sie auch so gespannt, wie ich es zuvor war, was ich wohl mit meinem freien Tag anfangen würde?
Feste Programmpunkte waren lediglich Schwimmen, Mohnnudeln zum Abendessen machen sowie ein Theaterbesuch am Abend.

Ich wachte nach mittelgutem Schlaf von Weckerklingeln auf, denn ich wollte Herrn Kaltmamsell den gewohnten Milchkaffee servieren.

Gebloggt, nach Milchkaffee und Wasser ein wenig Haushaltliches getrieben, eine große Tasse Tee aufgebrüht. Dazu sah ich ausführlich Videoausschnitte der Oscarverleihung an (Dank an Herrn Kimmel fürs Schimpfen über ausufernde Filmlängen), klickte mich durch viele Fotos von Oscarverleihungs-Stylings. Ich sah großartige, schöne Roben, nur wenige Katastrophen – und die schlimmste hatte ich wirklich nicht von Diane Kruger erwartet.
Vielleicht DER zentrale Styling-Tipp:
“Just because you’re physically capable of placing an item onto your corporeal form, it doesn’t mean you SHOULD.”

Neuer Anlass, mich alt zu fühlen: Der Anblick all der alten Hollywoodstars, deren Karrieren ich seit ihrer Jugend im Kino verfolgt habe.

Draußen war es grau und regnerisch, das nahm mir die Lust zu radeln. Raus ins Olympiabad nahm ich also die U-Bahn. Wie erwartet war nicht viel los auf den Bahnen, allerdings geriet ich an unerfahrene Schwimmer, die mühsam zu überholen waren. Meine 3.000 Meter waren nur anfangs durch Schulterschmerzen links getrübt, bald gewöhnte ich mich daran. Auf dem Rückweg zur U-Bahn nieselte es.

Kurz vor der U-Bahn-Station Olympiapark, hinter mir Münchens größter dem Autogott geweihter Tempel.

Frühstück kurz nach eins: Ein wunderschöner Apfel, der nach fast nix schmeckte (gebt mir schrumpelige Lageräpfel, wie sie jetzt Saison haben!), Bagel aus der Gefriere mit Frischkäse und halbgetrockneten Tomaten in Kräuteröl. Dazu Zeitungslektüre. Ich bemerkte echte Bettschwere, legte mich für ein Stündchen Siesta ins Bett.

Danach mehr Lesen auf dem Sofa, nämlich den schmalen Band Eigentum von Wolf Haas aus (mir fällt noch keine Übertragung der Kürze auf das elektronische Medium ein). Herr Kaltmamsell kam aus der Arbeit, erzählte ein wenig.

Internetlesen, ich stellte fest: Oh Gott, die Bärlauchsaison ist auf allen Plattformen ausgebrochen. Dieses stinkige Grünzeug (beleidigen Sie mir bitte nicht den guten Knoblauch mit Vergleichen) hat sich mit einer Penetranz in der saisonalen Kulinarik ausgebreitet, die nicht mal der Spargel je geschafft hat. In welche bislang unbekannte Territorien wird er sich dieses Jahr bohren? Bärlauch Cinnamon Rolls?
Rhabarber mag ich ja auch nicht, aber der verfolgt mich nicht jedes Jahr wochenlang durch alle Kanäle und Speisekarten.

Eine Runde Yoga-Gymnastik, meine linke Schulter schmerzte mehr als vor dem Schwimmen.

Zum frühen Abendessen (weil Theater) gab es nochmal Mohnnudeln nach dem Rezept im Standard, aber diesmal machte ich sie – problemlos und in 75 Minuten ab Einschalten des Topfs mit Kartoffeln auf dem Tisch.

In leichtem Regen spazierte ich zu den Münchner Kammerspielen, auf dem Programm stand Liebe (Amour) nach dem Film von Michael Haneke.

Komplett ohne Jugendstil: Das Klo der Kammerspiele.

Der Zuschauerraum nichtmal halb gefüllt, dennoch wartete ich wieder bis kurz vor Vorstellungsbeginn, bis ich mich auf meinen Außenplatz setzte, denn ein Naturgesetz – oder Wahrnehmungsverzerrung – sorgt dafür, dass die Inhaber von Mittelplatzkarten immer als letzte eintreffen. So auch gestern. Und dann sah ich die Geschichte aus Hanekes Film, nur ohne die Möglichkeiten des Kinos (ich hatte ihn seinerzeit in den Münchner City-Kinos erwischt, im Gegensatz zu vielen anderen Kinobesuchen lebhaft in Erinnerung, weil mich während der Vorstellung eine Migräne angefallen hatte – zum ersten Mal bei Tag).

Nach dem eben abgeschlossenen Haas-Buch Eigentum und kürzlich dem Theaterstück Dankbarkeiten jetzt also ein weiteres Kunstwerk, das die letzte Lebensphase des Menschen in der westeuropäischen Gegenwart thematisierte, nun ist aber für eine Weile genug.

Zunächst saß ich eher ratlos in dieser Inszenierung, ich sah nichts, was die Filmversion bereicherte. Formal schon: Liebe (Amour) ergänzte Hanekes Filmstoff durch eine Gruppe echter sehr alter Menschen, die an einigen Stellen Rollen vertraten und in einem längeren Teil vor der Pause auf Stühlen am Bühnenrand saßen, neben sich die Projektion von Bildern aus ihrem Leben, einige erzählten von ihren Alterserscheinungen.

Erst auf dem Weg nach Hause (immer noch Regen) begann ich zu greifen, was mein Unbehagen verursachte, gerade im Vergleich zur Filmversion, zum Haas-Buch und zu Dankbarkeiten: Das Kammerspiel-Stück dreht sich nicht um Charaktere, Biografien, Persönlichkeiten, sondern einzig um Gebrechlichkeit im hohen Alter, um Körperlichkeiten. Es zeigte nicht Individuen, sondern Typen. Das fand ich nicht gut. Wir erfahren nahezu nichts darüber, welche Menschen Anne und Georges (gespielt von André Jung) sind – das wurde in Hanekes Film auch nicht direkt klar, aber man lernte die beiden zumindest über ihre Wohnung kennen, über die Dinge, die dort standen. Doch das karge und architektonische Bühnenbild (Muriel Gerstner), auf das ab der Hälfte immer mehr Graberde gehäuft wurde, reduzierte sie auf ihre Funktion: Alter französischer Mann pflegt seine alte Frau nach Schlaganfall.

Unterstrichen wurde das Typen-Spiel durch die Besetzung der Rolle Annes mit mehreren Personen: Katharina Bach spielte sie, wenn sie sprach (sie spielte auch die Tochter der beiden), außerdem wurde sie mal von Joel Small, mal von einem kleinen Mädchen, mal von jemandem aus der Gruppe alter Laien dargestellt – eben kein Individuum, sondern der Platzhalter “alte pflegebedürftige Frau”.

Thematisiert wurden Pflegenotstand und Sterbehilfe, der Teil mit den echten alten Menschen wägte ab, wie individuell persönlicher Lebenswille ist – doch auch hier lernte ich einzelne Persönlichkeiten eher indirekt kennen durch ihr echtes Sprechen, ihren unterschiedlichen Kleidungsstil, ihren rücksichtsvollen und zugewandten Umgang miteinander, nicht durch das Stück. Über allem lag die eindringliche Botschaft: Wir werden alle sterben, irgendwann, echt ehrlich wirklich! Und der letzte Abschnitt davor ist entsetzlich für alle Beteiligten.

Pause mit Jugendstil.

Im Vergleich zu dieser Horror-Show konnte ich mit Dankbarkeiten nach Delphine de Vigan mehr anfangen: Neben dem Verfall einer alten Frau hatte ich hier auch die Frau kennengelernt, das Geflecht an menschlichen Beziehungen und Emotionen, in dem sie lebte, dass sie Pralinen liebte. In Wolf Haas Eigentum wiederum fühlt sich die greise Mutter kurz vor ihrem Tod zum ersten Mal überhaupt gut und nicht verbittert. Doch von Anne weiß ich nach dem gestrigen Abend über ihre immer schwerer werdenden Gebrechen hinaus nicht mehr, als dass sie mal Klavier unterrichtete. Nur an wenigen Stellen gab es überhaupt eine Interaktion mit Georges. Alte Menschen bestehen doch nicht nur aus ihrem Alter und ihrer Hilfsbedürftigkeit?

§

Wenn ich zum Ausgleich Heiteres brauche, reiche ich es auch an Sie weiter.
Eine der lustigsten und souveränsten Reden, die ich je eine Tochter auf ihren Vater haben halten sehen: Die Laudatio von Zoë Kravitz für Lenny Kravitz, als er seinen Stern am Hollywood Walk of Fame bekommt.

Journal Mittwoch, 6. März 2024 – Kalter Regentag, Pizzaabend

Donnerstag, 7. März 2024

Weckerklingeln zu Regengeräuschen.

Fußmarsch in die Arbeit unterm Regenschirm. Den Hauptteil des Vormittags verbrachte ich in einer internen Informationsveranstaltung an anderem Ort, zu dem ich unterm Schirm zu Fuß marschierte (Frischluft!). Nach viel Gelerntem marschierte ich auch zurück, war nur wenige Minuten nach den Kolleg*innen im Büro, die den Bus-Shuttle genutzt hatten.

In meiner Abwesenheit war überraschend viel aufgelaufen, das ackerte ich erstmal weg.

Spätes Mittagessen: eine Portion Eintopf vom Vorabend, ein wenig Weißkraut-Kimchi.

Büronachmittag mit emsigem Abarbeiten, darunter Angst wegen Anfragen, zu denen mir nicht sofort eine Lösung einfiel. Eine musste ich nach ein paar Rechercher-Runden absagen, aber das ist ja auch eine Lösung – am schlechtesten ertrage ich es, in der Luft zu hängen.

Dazwischen Abendessen-Abstimmungen mit Herrn Kaltmamsell: Ernteanteil war weggegessen, schon am Dienstag wälzten wir die Idee, aushäusig Pizza zu essen. Die Wunsch-Pizzeria war bereits ausgebucht, wir würden also einfach mal drauf losgehen. (In München muss man bereits seit Jahren selbst für Kaffee-Verabredungen reservieren, mal sehen, wann nicht mal Döner mehr spontan geht.)

Auf dem Heimweg brauchte ich keinen Schirm mehr, es war ohne Regen kalt und ungemütlich. Lebensmitteleinkäufe bei Edeka und im Süpermarket Verdi. Zu Hause hängte ich nur noch schnell Wäsche aus der programmierten Maschine auf und goss Pflanzen, dann spazierte ich mit Herrn Kaltmamsell Richtung Hauptbahnhof zum Ca D’oro, wo wir vor Jahren schonmal gute Pizza bekommen hatten.

Der Teig schmeckte mir sehr gut, der Belag schon auch – aber die Hälfte davon hätte gereicht. Ich schaffte die Pizza ohne Überfressung, doch es ging keinerlei Schokolade mehr. Dafür gab’s bis zum Einschlafen Basilikum-Rülpserchen.

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Auf Mastodon fand ich einige Hinweise auf diesen Deutschlandfunk-Beitrag von Andi Hörmann:
“Gefallener Engel
Marieluise Fleißer und ihre Heimat Ingolstadt”.

Sehr schön gemacht. Man hört Fleißer auch selbst, aber vor allem viele Menschen, die im heutigen Ingolstadt mit ihr und ihrem Werk zu tun haben. (Nebenbei erfuhr ich, dass die Buchhandlung Gerd Stiebert, an der ich seinerzeit lernte, dass es auch kleine Buchläden gibt, nicht mehr vom Namensgeber geführt wird. Wo hat die Fleißer wohl davor in Ingolstadt ihre Bücher gekauft?)

Das freute mich besonders, weil ich in letzter Zeit oft an die Fleißer denke. Eigentlich seit Jahren jedesmal, wenn die Lebensgeschichte von Künstler*innen erzählt wird, die sich gegen ungeheure Widerstände durchsetzten, “an sich glaubten” und damit Erfolg hatten. Marieluise Fleißer ist die Patronin all derer, die sich irgendwann nicht mehr gegen die Widerstände stemmten, sondern nicht mehr konnten und wollten, die aufgaben. Deren Geschichte wird halt nur sonst nie erzählt. Erst aus diesem Hörstück lernte ich, dass der Fleißer-Preis genau zu diesem Thema ausgeschrieben ist: “Der Marieluise-Fleißer-Preis wird an deutschsprachige Autorinnen und Autoren vergeben, in deren Werk wie bei Fleißer der ‘Konflikt zwischen unerfüllten Glücksansprüchen und alltäglichen Lebenswelten’ zentrales Thema ist.”

Ich seh sie dann immer vor mir, wie sie im Tabakladen ihres Ehemanns mitarbeitet, bis er endlich stirbt und sie sich zu ihren eigenen Interessen zurückziehen kann. Wenn ich mein Ingolstadt erklären möchte, verweise ich immer noch auf Fleißers Theaterstück Der starke Stamm und auf ihren einzigen Roman Eine Zierde für den Verein.

§

Gestern Abend erfuhr ich, dass es für “Dankbarkeiten” im kleinsten Theater Münchens eine zusätzliche Aufführung gibt, eine Matinee um 15 Uhr am Ostersonntag, 31. März: Vielleicht bekommen Sie hier noch Karten dafür.

§

Man sieht nur mit dem Herzen gut? Uoah – das Herz hat dazu auch eine Meinung.

Aktivieren Sie JavaScript um das Video zu sehen.
https://youtu.be/_i72tIEvFaE?si=fgAPB-dcTvEwedh4

Journal Dienstag, 20. Februar 2024 – “Dankbarkeiten” nach Delphine de Vigan im kleinsten Theater der Stadt

Mittwoch, 21. Februar 2024

Eine deutlich bessere Nacht (nach drei kurzen/schlechten war ich sehr früh eingeschlafen), der Schlaf hätte meinetwegen länger dauern können. Der Wecker klingelte wieder zu Regengeräuschen.

Also wieder unterm Regenschirm in die Arbeit, zum Glück mit besserer Laune als am Montag.

Überraschend emsiger Vormittag, meinen Mittagscappuccino nahm ich deshalb wieder bei Nachbars (der war diesmal aber besonders gut). Spätes Mittagessen Avocado, Granatapfelkerne, viele Orangen – ich befürchtete Zuckerschock. Tatsächlich fiel ich lediglich ins Fresskoma und konnte die Augen kaum aufhalten.

Überfrüher Feierabend, weil ich abends ins Theater wollte – nein, diesmal nicht Kammerspiel-Abo, sondern ein kleines Westend-Theaterchen, Mathilde Westend, das sich als “kleinstes Theater der Stadt” bezeichnet. Ich hatte bei einem Mittagscappuccino im Café Colombo Werbekärtchen für die Inszenierung “Dankbarkeiten” gesehen, daheim recherchiert, und da sich Stück und Theater interessant lasen, eine Karte für die gestrige Vorstellung gekauft. Schließlich hatte ich mir ohnehin gwünscht, auf meinem inneren Kulturtracker mehr Punkte mit Abseitigem zu machen.

Heimweg unter trockenem, hellen Himmel mit größerer Besorgungsschleife: Ich holte in einer Arztpraxis ein Rezept, löste es gleich ein. Zu Hause Yoga-Gymnastik, zum besonders frühen Abendessen servierte Herr Kaltmamsell auf der Basis von Ernteanteil-Weißkraut ein Okonomiyaki, das wir uns teilten. Und dann machte ich mich auf den Fußweg ins Westend an ein Ende der Gollierstraße, das ich noch nicht kannte.

Beim Betreten des Mathilde Westend war ich ohne jeden Beweis bereit zu glauben, dass es das kleinste Theater der Stadt ist: 17 Klappstühle, Bühne, Toilette, Bar füllten einen Raum etwa halb so groß wie mein – zugegeben großzügiges – Schlafzimmer.

Teil des Bühnenbilds gleich bei der Eingangstür.

Bühnenbeleuchtung.

Eine Frau servierte gerade bestellte Getränke an die bereits besetzten Plätze, hakte mich dann von ihrer Liste der Zuschauer*innen ab, bat mich auf einen einzelnen freien Stuhl, damit die restlichen von Gruppen belegt werden konnten. Sie begrüßte kurz vor der Vorstellung auch das Publikum und verschwand dann: Das war Christina Matschoss, die im Stück gleich darauf die Marie spielte.

Im Mittelpunkt von “Dankbarkeiten”, inszeniert von Theresa Hanich, steht eine alte Frau, Michka (Elisabeth Rass), die nicht mehr allein zurecht kommt und in ein Heim zieht. Die junge Marie hilft ihr dabei, besucht sie immer wieder. Michka, die in ihrem Berufsleben vor allem von ihrem Wortschatz profitierte, verliert jetzt die Wörter, sie leidet unter Aphasie. Der Logopäde Jerome (Florian Hackspiel) versucht im Heim, diesen Prozess zu verzögern, kommt darüber ins Gespräch mit Michka. In diesen Austauschen und in Mischkas Träumen erfahren wir Stück für Stück, welcher Mensch Michka ist und war, wie sich diese Gegenwart im Alter und das Leben davor unterscheiden. Mit Humor und in einleuchtenden Beispielen erzählt “Dankbarkeiten”, was diese letzte Lebensphase im höchsten Alter aus Menschen machen kann, wie sie irgendwann nur noch Fertigkeiten und Freiheiten verlieren, keine neuen hinzukommen, Zwangsende der Selbstoptimierung. Das fand ich berührend, aber auch trostlos, selbst wenn das Stück ein tröstliches Ende anbietet.

Die Hauptrolle der Inszenierung aber hatte das Theater selbst, nämlich durch den Umgang mit all seinen Einschränkungen. Für Jeromes Auftritte und Abgänge wurde das Klo genutzt, Marie kam von und ging auf die Straße (das könnte bei heftigem Regen oder Schneefall abenteuerlich sein). Ein angedeutetes Bett, ein Stuhl, ein Hocker, ein Schränkchen – mehr war an Requisiten nicht nötig. Und die (handlungsbedeutenden) Traumsequenzen wurden als Film auf die Wand hinter der Bühne projiziert, untermalt von einem Musikthema in Abwandlungen, je nach dem, in welche Stimmung Michka geführt wurde. Ich stelle mir ja vor, dass diese Theatersituation eine reizvolle Herausforderung für Regisseur*innen sein müsste. Und frage mich, ob WoW – Word on Wirecard-Folterregisseur Łukasz Twarkowski auch daraus etwas machen könnte. Dann wieder: Ist das für die Schauspieler*innen nicht auch seltsam, derart dicht am Publikum zu spielen?

Nach gut anderthalb Stunden und heftigem Applaus stand ich wieder auf der Straße und ging zur U-Bahn, dem Stück hinterher sinnend (und meine gegen die Sitzsituation protestierenden Lendenwirbel zurückrenkend). Ich bin schon sehr gespannt auf weitere Inszenierungen in dieser Winzel-Umgebung.

Zu Hause merkte ich, dass das Abendessen nicht gehalten hatte und aß noch ein Schüsselchen Haferflocken, um nachts nicht von Hunger geweckt zu werden.

Journal Freitag, 16. Februar 2024 – Abendessen und Theater im Blauen Haus

Samstag, 17. Februar 2024

Es war nachts so mild, dass ich das Schlafzimmerfenster ganz weit geöffnet hatte; erst beim Klogang um vier schloss ich es gegen aufbrandenden Vogellärm.

Ich verabschiedete mich von Herrn Kaltmamsell bis Samstag: Wir würden beide den Abend aushäusig verbringen, aber einzeln, und er würde schon nachmittags abreisen.

Verzauberte Anblicke auf dem Weg in die Arbeit.

Ruhige Arbeit in der Arbeit. Ein paar Saatkrähen vor dem Bürofenster, die sehe ich diesem Winter sehr selten.

Mittagscappuccino in der Cafeteria der Nachbarfirma, auf dem Weg die erste Ahnung von Frühlingsluft in der Nase. Mittagessen eine Wiederholung vom Vortag: Apfel, eingeweichtes Muesli mit Joghurt.

Nach pünktlichem Feierabend spazierte ich in milder Luft über Einkäufe im Süpermarket Verdi nach Hause. Ich klatschte kurz mit Herrn Kaltmamsell ab, der gerade die Wohnung verließ.

Vor der Abendverabredung war noch Zeit für eine Einheit Yoga-Gymnastik, auch die interessant genug für eine Wiederholung: Ab Tag 9 ist das diesjährige 30-Tage-Programm von Adriene, Flow, anregend genug.

Treffpunkt fürs Nachtmahl mit Freundin war das Blaue Haus hinter den Kammerspielen, Wirtshaus und Theaterkantine. Obwohl es mir schon immer ein Begriff war, hatte ich noch nie dort gegessen und freute mich auf den Abend.

Als Vorspeise (es gibt hier nur Tageskarte) aß mein Gegenüber einen Salat und war sehr angetan, ich hatte einen Auberginen-Ziegenkäse-Flan mit Salat, der gut war, aus dem ich aber weder Aubergine noch Ziegenkäse so richtig rausschmeckte. Eine große Freude war der Wein dazu: Côtes du Rhône Visan “Madrigal”, Domaine Coste Chaude – wunderbar elegant.

Hauptspeise gegenüber Kalbslende, ich wählte die gebackene Blutwurst mit Kartoffel-Feldsalat, schmeckte ganz hervorragend. Gespräche über Beruf und Familie, über Literatur und Konferenzbetrieb.

Abgelenkt wurde wir immer wieder interessiert vom Theaterbetrieb: Offensichtlich wurde im Haupthaus der Kammerspiele Wer immer hofft, stirbt singend gespielt, das ich vor einem Jahr gesehen hatte. Ein Erzählmittel der Inszenierung ist eine Live-Kamera, die die Schauspielenden hinter die Bühne und bis ins Blaue Haus begleitet, die Bilder werden auf die Bühne projiziert – und jetzt sah ich diese Live-Aufnahmen von der anderen Seite. Sie begannen jeweils mit dem Einschalten der Filmbeleuchtung, kurz darauf wurde es vorübergehend schauspiellaut, wir sahen die Schauspieler*innen von hinten. Dieses Schließen des Inszenierungs-Kreises fühlte sich ausgesprochen befriedigend an.

Zu mittelspäter Nacht machten wir uns (beide überraschend angetrunken von der geteilten Flasche Wein) auf den Heimweg. Es war immer noch sehr mild, Marienplatz und Fußgängerzone lebendig vor Menschen.

§

Die US-amerikanische Schriftstellerin Rebecca Solnit1 schreibt über die Veränderung San Franciscos:
“In the Shadow of Silicon Valley”.

Mir war nicht klar, dass autonome Pkw dort bereits seit einiger Weile lustig am Straßenverkehr teilnehmen.

I’ve become somewhat used to driverless cars in the years they’ve been training on the city’s streets, first with back-up human drivers, and then without. They are here despite opposition from city officials, including the fire chief, and San Francisco recently sued the California state bureau that gave companies licence to use the streets as their laboratory. Firefighters have reported driverless cars attempting to park on firehoses; last June one such car prevented emergency vehicles from reaching victims of a shooting; the vehicles are apparently unequipped to assess these situations and respond by stopping. Direct communication isn’t an option: the only way to get a driverless car to do anything is to contact the company in charge of it.

Hervorhebung von mir, denn das ist gruslig.

Solnit geht es aber vor allem darum, wie technische Entwicklung menschliche Interaktion reduziert – und das, wo zwischenmenschlicher Austausch immer die Haupttriebkraft von Fortschritt war. (Sehen Sie, das akzeptiere ich als bewiesen, obwohl ich genau diese Reduktion ganz persönlich begrüße. Mir ist bewusst, dass ich die kleine Minderheit bin, die sich freut, wenn die Büroflure leer sind; alle anderen klagen, dann hätten sie ja auch nicht reinzukommen brauchen, wenn sonst niemand da sei.) Rebecca Solnit vergleicht das San Francisco ihrer Jugend mit dem heutigen Stand – einem Paradoxon:

The luxury shuttle buses that Facebook, Google and Apple launched for their employees around 2012, by easing the congested commute, encouraged large numbers of them to move to San Francisco, which has now been fully annexed by the Valley. The desire of tech workers to live in this dense, diverse place while their products create its opposite is an ongoing conundrum. Many tech workers think of themselves as edgy, as outsiders, as countercultural, even as they’re part of immense corporations that dominate culture, politics and the economy.

  1. Genau: Das ist die Frau, die mansplaining definierte. []