Theater

Journal Dienstag, 20. Februar 2024 – “Dankbarkeiten” nach Delphine de Vigan im kleinsten Theater der Stadt

Mittwoch, 21. Februar 2024

Eine deutlich bessere Nacht (nach drei kurzen/schlechten war ich sehr früh eingeschlafen), der Schlaf hätte meinetwegen länger dauern können. Der Wecker klingelte wieder zu Regengeräuschen.

Also wieder unterm Regenschirm in die Arbeit, zum Glück mit besserer Laune als am Montag.

Überraschend emsiger Vormittag, meinen Mittagscappuccino nahm ich deshalb wieder bei Nachbars (der war diesmal aber besonders gut). Spätes Mittagessen Avocado, Granatapfelkerne, viele Orangen – ich befürchtete Zuckerschock. Tatsächlich fiel ich lediglich ins Fresskoma und konnte die Augen kaum aufhalten.

Überfrüher Feierabend, weil ich abends ins Theater wollte – nein, diesmal nicht Kammerspiel-Abo, sondern ein kleines Westend-Theaterchen, Mathilde Westend, das sich als “kleinstes Theater der Stadt” bezeichnet. Ich hatte bei einem Mittagscappuccino im Café Colombo Werbekärtchen für die Inszenierung “Dankbarkeiten” gesehen, daheim recherchiert, und da sich Stück und Theater interessant lasen, eine Karte für die gestrige Vorstellung gekauft. Schließlich hatte ich mir ohnehin gwünscht, auf meinem inneren Kulturtracker mehr Punkte mit Abseitigem zu machen.

Heimweg unter trockenem, hellen Himmel mit größerer Besorgungsschleife: Ich holte in einer Arztpraxis ein Rezept, löste es gleich ein. Zu Hause Yoga-Gymnastik, zum besonders frühen Abendessen servierte Herr Kaltmamsell auf der Basis von Ernteanteil-Weißkraut ein Okonomiyaki, das wir uns teilten. Und dann machte ich mich auf den Fußweg ins Westend an ein Ende der Gollierstraße, das ich noch nicht kannte.

Beim Betreten des Mathilde Westend war ich ohne jeden Beweis bereit zu glauben, dass es das kleinste Theater der Stadt ist: 17 Klappstühle, Bühne, Toilette, Bar füllten einen Raum etwa halb so groß wie mein – zugegeben großzügiges – Schlafzimmer.

Teil des Bühnenbilds gleich bei der Eingangstür.

Bühnenbeleuchtung.

Eine Frau servierte gerade bestellte Getränke an die bereits besetzten Plätze, hakte mich dann von ihrer Liste der Zuschauer*innen ab, bat mich auf einen einzelnen freien Stuhl, damit die restlichen von Gruppen belegt werden konnten. Sie begrüßte kurz vor der Vorstellung auch das Publikum und verschwand dann: Das war Christina Matschoss, die im Stück gleich darauf die Marie spielte.

Im Mittelpunkt von “Dankbarkeiten”, inszeniert von Theresa Hanich, steht eine alte Frau, Michka (Elisabeth Rass), die nicht mehr allein zurecht kommt und in ein Heim zieht. Die junge Marie hilft ihr dabei, besucht sie immer wieder. Michka, die in ihrem Berufsleben vor allem von ihrem Wortschatz profitierte, verliert jetzt die Wörter, sie leidet unter Aphasie. Der Logopäde Jerome (Florian Hackspiel) versucht im Heim, diesen Prozess zu verzögern, kommt darüber ins Gespräch mit Michka. In diesen Austauschen und in Mischkas Träumen erfahren wir Stück für Stück, welcher Mensch Michka ist und war, wie sich diese Gegenwart im Alter und das Leben davor unterscheiden. Mit Humor und in einleuchtenden Beispielen erzählt “Dankbarkeiten”, was diese letzte Lebensphase im höchsten Alter aus Menschen machen kann, wie sie irgendwann nur noch Fertigkeiten und Freiheiten verlieren, keine neuen hinzukommen, Zwangsende der Selbstoptimierung. Das fand ich berührend, aber auch trostlos, selbst wenn das Stück ein tröstliches Ende anbietet.

Die Hauptrolle der Inszenierung aber hatte das Theater selbst, nämlich durch den Umgang mit all seinen Einschränkungen. Für Jeromes Auftritte und Abgänge wurde das Klo genutzt, Marie kam von und ging auf die Straße (das könnte bei heftigem Regen oder Schneefall abenteuerlich sein). Ein angedeutetes Bett, ein Stuhl, ein Hocker, ein Schränkchen – mehr war an Requisiten nicht nötig. Und die (handlungsbedeutenden) Traumsequenzen wurden als Film auf die Wand hinter der Bühne projiziert, untermalt von einem Musikthema in Abwandlungen, je nach dem, in welche Stimmung Michka geführt wurde. Ich stelle mir ja vor, dass diese Theatersituation eine reizvolle Herausforderung für Regisseur*innen sein müsste. Und frage mich, ob WoW – Word on Wirecard-Folterregisseur Łukasz Twarkowski auch daraus etwas machen könnte. Dann wieder: Ist das für die Schauspieler*innen nicht auch seltsam, derart dicht am Publikum zu spielen?

Nach gut anderthalb Stunden und heftigem Applaus stand ich wieder auf der Straße und ging zur U-Bahn, dem Stück hinterher sinnend (und meine gegen die Sitzsituation protestierenden Lendenwirbel zurückrenkend). Ich bin schon sehr gespannt auf weitere Inszenierungen in dieser Winzel-Umgebung.

Zu Hause merkte ich, dass das Abendessen nicht gehalten hatte und aß noch ein Schüsselchen Haferflocken, um nachts nicht von Hunger geweckt zu werden.

Journal Freitag, 16. Februar 2024 – Abendessen und Theater im Blauen Haus

Samstag, 17. Februar 2024

Es war nachts so mild, dass ich das Schlafzimmerfenster ganz weit geöffnet hatte; erst beim Klogang um vier schloss ich es gegen aufbrandenden Vogellärm.

Ich verabschiedete mich von Herrn Kaltmamsell bis Samstag: Wir würden beide den Abend aushäusig verbringen, aber einzeln, und er würde schon nachmittags abreisen.

Verzauberte Anblicke auf dem Weg in die Arbeit.

Ruhige Arbeit in der Arbeit. Ein paar Saatkrähen vor dem Bürofenster, die sehe ich diesem Winter sehr selten.

Mittagscappuccino in der Cafeteria der Nachbarfirma, auf dem Weg die erste Ahnung von Frühlingsluft in der Nase. Mittagessen eine Wiederholung vom Vortag: Apfel, eingeweichtes Muesli mit Joghurt.

Nach pünktlichem Feierabend spazierte ich in milder Luft über Einkäufe im Süpermarket Verdi nach Hause. Ich klatschte kurz mit Herrn Kaltmamsell ab, der gerade die Wohnung verließ.

Vor der Abendverabredung war noch Zeit für eine Einheit Yoga-Gymnastik, auch die interessant genug für eine Wiederholung: Ab Tag 9 ist das diesjährige 30-Tage-Programm von Adriene, Flow, anregend genug.

Treffpunkt fürs Nachtmahl mit Freundin war das Blaue Haus hinter den Kammerspielen, Wirtshaus und Theaterkantine. Obwohl es mir schon immer ein Begriff war, hatte ich noch nie dort gegessen und freute mich auf den Abend.

Als Vorspeise (es gibt hier nur Tageskarte) aß mein Gegenüber einen Salat und war sehr angetan, ich hatte einen Auberginen-Ziegenkäse-Flan mit Salat, der gut war, aus dem ich aber weder Aubergine noch Ziegenkäse so richtig rausschmeckte. Eine große Freude war der Wein dazu: Côtes du Rhône Visan “Madrigal”, Domaine Coste Chaude – wunderbar elegant.

Hauptspeise gegenüber Kalbslende, ich wählte die gebackene Blutwurst mit Kartoffel-Feldsalat, schmeckte ganz hervorragend. Gespräche über Beruf und Familie, über Literatur und Konferenzbetrieb.

Abgelenkt wurde wir immer wieder interessiert vom Theaterbetrieb: Offensichtlich wurde im Haupthaus der Kammerspiele Wer immer hofft, stirbt singend gespielt, das ich vor einem Jahr gesehen hatte. Ein Erzählmittel der Inszenierung ist eine Live-Kamera, die die Schauspielenden hinter die Bühne und bis ins Blaue Haus begleitet, die Bilder werden auf die Bühne projiziert – und jetzt sah ich diese Live-Aufnahmen von der anderen Seite. Sie begannen jeweils mit dem Einschalten der Filmbeleuchtung, kurz darauf wurde es vorübergehend schauspiellaut, wir sahen die Schauspieler*innen von hinten. Dieses Schließen des Inszenierungs-Kreises fühlte sich ausgesprochen befriedigend an.

Zu mittelspäter Nacht machten wir uns (beide überraschend angetrunken von der geteilten Flasche Wein) auf den Heimweg. Es war immer noch sehr mild, Marienplatz und Fußgängerzone lebendig vor Menschen.

§

Die US-amerikanische Schriftstellerin Rebecca Solnit((Genau: Das ist die Frau, die mansplaining definierte.)) schreibt über die Veränderung San Franciscos:
“In the Shadow of Silicon Valley”.

Mir war nicht klar, dass autonome Pkw dort bereits seit einiger Weile lustig am Straßenverkehr teilnehmen.

I’ve become somewhat used to driverless cars in the years they’ve been training on the city’s streets, first with back-up human drivers, and then without. They are here despite opposition from city officials, including the fire chief, and San Francisco recently sued the California state bureau that gave companies licence to use the streets as their laboratory. Firefighters have reported driverless cars attempting to park on firehoses; last June one such car prevented emergency vehicles from reaching victims of a shooting; the vehicles are apparently unequipped to assess these situations and respond by stopping. Direct communication isn’t an option: the only way to get a driverless car to do anything is to contact the company in charge of it.

Hervorhebung von mir, denn das ist gruslig.

Solnit geht es aber vor allem darum, wie technische Entwicklung menschliche Interaktion reduziert – und das, wo zwischenmenschlicher Austausch immer die Haupttriebkraft von Fortschritt war. (Sehen Sie, das akzeptiere ich als bewiesen, obwohl ich genau diese Reduktion ganz persönlich begrüße. Mir ist bewusst, dass ich die kleine Minderheit bin, die sich freut, wenn die Büroflure leer sind; alle anderen klagen, dann hätten sie ja auch nicht reinzukommen brauchen, wenn sonst niemand da sei.) Rebecca Solnit vergleicht das San Francisco ihrer Jugend mit dem heutigen Stand – einem Paradoxon:

The luxury shuttle buses that Facebook, Google and Apple launched for their employees around 2012, by easing the congested commute, encouraged large numbers of them to move to San Francisco, which has now been fully annexed by the Valley. The desire of tech workers to live in this dense, diverse place while their products create its opposite is an ongoing conundrum. Many tech workers think of themselves as edgy, as outsiders, as countercultural, even as they’re part of immense corporations that dominate culture, politics and the economy.

Journal Mittwoch, 7. Februar 2024 – William Shakespeare / Werner Herzog, Der Sturm / Das Dämmern der Welt

Donnerstag, 8. Februar 2024

Gute Nacht, nur die letzte Stunde vor Wecker mit leichterem Schlaf.

Es kündigte sich wieder ein schön heller Tag an.

Vormittags in der Arbeit kämpfte ich gegen bleiernde Müdigkeit, die ich mir überhaupt nicht erklären konnte. Für meinen Mittagscappuccino ging ich also extra weit, frische, kühle Luft (Mütze brauchte ich sehr wohl) und Koffein ließen mich deutlich wacher an den Schreibtisch zurückkehren. Mittagessen später: eine dicke Scheibe Schokoroggenbrot, vorgeschnippelte Blutorange und Grapefruit.

Kurzer Nachmittag, Feierabend mit Minusstunden, denn mein Abo an den Münchner Kammerspielen schickte mich am Abend ins Theater (und ich musste ja herausfinden, dass ich keine Energie für diese Termine habe, wenn ich normal lang arbeite). Auf dem Heimweg kaufte ich im Süpermarket Verdi Obst, dann in einem arabischen Nussladen in der Landwehrstraße gesalzene Pistazien und eine Nussmischung mit Safran.

Blöderweise war aus der bleiernen Müdigkeit des Vormittags jetzt massiver Schwindel geworden, ich befürchtete bereits nach Jahren ohne eine Migräne. Daheim legte ich nur kurz ab und verräumte meine Einkäufe, dann ging ich ins Bett – mit der traurigen Option, den Theaterabend bleiben zu lassen, wenn es mir nicht besser gehen würde.

Doch als ich nach einer guten Stunde aufstand, war der Schwindel tatsächlich weg, ich fühlte mich fit. Herr Kaltmamsell hatte auf meine Bitte das Nachtmahl vorverlegt, er servierte Nudeln mit Linsen (LINSEN!) und Ofenkarotten. Dann musste ich schon los, an den Kammerspielen erwartete mich William Shakespeare / Werner Herzog, Der Sturm / Das Dämmern der Welt (ich hatte bemerkt, dass mich mittlerweile eine Aufführungsdauern von drei Stunden nicht mehr schreckt). Ich marschierte (dann doch in den so schön marschierbaren Turnschuhen und nicht in Theater-Pumps) durch angenehme Abendluft zur Maximilianstraße.

Wieder wusste ich vor dem Angucken nichts über die Inszenierung. Mein Interesse basierte vor allem darauf, dass ich Shakespeares Tempest weder je gelesen noch gesehen hatte (nicht mal Greenaways Prospero’s Books), es aber über Herrn Kaltmamsells Erzählungen und Referenzen kannte, er spricht oft von der Geschichte. Der Bezug zu Werner Herzog ergab sich aus der Inszenierung (Dank an die Dramaturgie von Claus Philipp und Tobias Schuster), im Programmheft heißt es:

Hausregisseur Jan-Christoph Gockel verschneidet Shakespeares Stück mit Werner Herzogs neuem Roman “Das Dämmern der Welt”. Darin erzählt Herzog die Geschichte des Soldaten Hiroo Onoda, der 29 Jahre lang auf einer Insel den Zweiten Weltkrieg weiterkämpft. Alle Nachrichten darüber, dass der Krieg zu Ende ist, hält er für Fälschungen.

Das Bühnenbild (Julia Kurzweg) eher karg, im Zentrum zunächst ein Schiffsmast, genutzt wurde die Bühne selbst mit ihrer Veränderbarkeit. Später tauchte auch das ganze Schiff auf, ein rostiger und offensichtlich schon lang untergegangener Kahn, und zwar buchstäblich von unten aus der Bühne geholt.

Miranda und Ferdinand aus Der Sturm wurden von Marionetten dargestellt (Michael Pietsch ist auch Puppenbauer und -spieler), Miranda von einer verstörend kaputten Marionette, Nebenfiguren lagen als Marionettenköpfe auf der Bühne herum, Darsteller*in von Caliban (Michael Pietsch) und Ariel hoben sie auf und sprachen für sie.

Gestern sah ich auch wieder eine aktuell häufig verwendete Technik: Statt eines Vorhangs wurde vor der Bühne eine durchsichtige Projektionsfläche herabgelassen, die das Bühnengeschehen verdoppelte. Darauf wurden abgefilmte Ausschnitte des Bühnengeschehens vergrößert, zum Beispiel die Marionettenfigur der Miranda, die sonst zu klein für gute Sichtbarkeit gewesen wäre. Oder es wurde Handlung gezeigt, die hinter oder unter der Bühne spielte – die Transparenz der Projektionsfläche ermöglichte gleichzeitiges Verfolgen des Bühnengeschehens.

Zentrale thematische Elemente: Krieg (u.a.: Gibt es überhaupt Frieden? Oder wird andauernder Krieg nur hin und wieder durch die Illusion von Frieden unterbrochen?), Vergebung, Bilder, Rache, Hierarchien.

Herausragender Darsteller war Bernardo Arias Porras, den ich noch nicht kannte – er spielte Werner Herzog auf verschiedenen Ebenen (Lebensgeschichte erzählend, im Dschungel handelnd, Filmweisheiten predigend), mit seiner großgewachsenen, dürren Physis extrem weit weg von der Herzogs, immer wieder mit dieser leichten selbstvergessenen Überkandideltheit, die Männerfiguren wie ihn ein bissl bemitleidenswert machen. Ich werde die nächsten München-Tatorts gucken müssen, Kammerspiel-Talente wie Bernardo Arias Porras tauchen dort recht verlässlich in größeren Nebenrollen auf.

Erst heute Morgen erfuhr ich von Herrn Kaltmamsell, dass Werner Herzog heutzutage vor allem durch seine Auftritte in US-amerikanischen Fernsehserien bekannt ist. Gestern auf der Bühne ergab sich am Anfang des Stücks eine angenehme Verwirrtheit durch den “Herzog”, von dem bei Shakespeare die Rede ist, und seinem Namen.

In der Pause spazierte ich durchs Foyer und genoss das Gebäude.

Der Vorhang der Kammerspiele, extrem selten zu sehen.

Hinter der Bartheke im Obergeschoß.

Nach der Pause fiel fiel die Inszenierung in meinen Augen ein wenig ab, Ariel-Darstellerin Katharina Bach trug in Bardamenkostüm und Stand-up-Modus Gedanken zu Krieg und Frieden vor, dann wurden um und auf dem kreiselnden Schiff Handlungs- und Gedankenstränge aufgeräumt.

Rascher Heimweg durch leichten Regen, das eigentlich interessante Publikumsgespräch mit dem Regisseur musste ich auslassen (Momente, in denen ich euch Nachtmenschen beneide).

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In Spanien gibt es eine Kampagne #TengoNombre – #ichhabeeinenNamen: Geschäftsleute wollen nicht mehr bloß “der Eck-Chinese” sein.
“‘I’m not the Chinese on the corner’: Barcelona’s shopkeepers reclaim their names”.

Journal Freitag, 29. Dezember 2023 – Berlin 3 mit Frühstück in Neukölln und Show im Friedrichstadtpalast

Samstag, 30. Dezember 2023

Wieder lang geschlafen, es fühlte sich sehr nach Urlaub an.

Den Morgencappuccino tranken wir im Café des Literaturhauses (noch teurer, holla). Im Vorbeigehen sahen wir, dass hier im Viertel Käsekuchen San Sebastián angeboten wird.

Wir hatten eine Frühstücksverabredung in Neukölln und bis dahin reichlich Zeit. Also nahmen wir eine U-Bahn bis in die Nähe und gingen den Rest zu Fuß. Das Wetter war weiterhin viel zu mild für die Jahrezeit, doch jetzt zeigte der Himmel das Grau, das ich vom Berliner Winter kenne.

Am Neuköllner Schifffahrtskanal Treffen mit Freundin, ausführliche Gespräche, dazu Cappuccino und Frühstück, Joghurt mit Obst und Granola schaffte um eins auch ich.

Aus dem grauen Himmel regnete es mittlerweile auch hin und wieder. Wir ließen uns den Stand des Fahrradstraßenausbaus in der Gegend zeigen.

Von der U-Bahn-Station Rathaus Neukölln nahmen wir U-Bahnen zurück nach Charlottenburg, verbrachten den Nachmittag bis zum abendlichen Ausgehen mit Lesen im Hotel.

Schon beim Kofferpacken in München, eigentlich vorher beim Überlegen, was ich mitnehmen würde, hatte ich festgestellt, dass ich keinerlei Abendgarderobe für Nicht-Sommer besitze. Eine Weile spielte ich mit dem Gedanken, aus dem reichen dezemberlichen Angebot an Glitzerkleidung etwas zu kaufen, ein Pailettenkleid zu Beispiel, entschied mich aber aus Nachhaltigkeitsgründen (komm, wegen dem einen Mal) dagegen. Gestern Abend sah ich also eher nach Büro aus als nach Show im Friedrichstadtpalast.

Doch als ich mich vor Ort im Publikum umsah, erinnerte ich mich daran, dass winterliche Abendgarderobe ja nicht nur aus Glitzerkleidern besteht und nahm mir vor, mir wenigstens eine Abendjacke zuzulegen (grüner Samt?), die ich dann mit einer (noch zu kaufenden) Stoffhose kombinieren könnte.

Die Show “Falling in Love” war großartig wie erhofft. Immer neue atemberaubende Kostüme (diesmal wieder von Jean Paul Gaultier entworfen), wunderschöne Menschen, die bezaubernd tanzten und sangen, auf der größten Bühne der Welt wurde alles an technischem Schnickschnack vorgeführt, inklusive Bad in Kristallen und mehrfachen Wasser-Einlagen, dazwischen drei akrobatische Nummern (wer hätte gedacht, dass man aus Trampolinen und Reckstangen so viel rausholen kann?). Thema der vagen Show-Geschichte auch diesmal Liebe, Vielfalt, Toleranz.

Auf die Reihe hatte ich mich besonders gefreut – und bekam noch viel mehr geboten als erhofft: Sie war diesmal eingebettet in eine ungewöhnliche Choreografie (das Vorbild des Anfangs mit Armen finde ich gerade nicht: ein französischer Choreograf hat sie für eine Rollstuhlfahrer*innengruppe erfunden) und einfach atemberaubend.

Weiteres Highlight zum Schluss: Statt einer Diskokugel wurde ein riesiger, unregelmäßig geschliffener Kristall über der Bühne herabgelassen und angestrahlt – ganz neue Effekte, weitere Atemberaubung.

Eigentlich hatten wir geplant, am Spreeufer ein Lokal für einen Happen Abendessen zu suchen, doch es regnete energisch. So nahmen wir gleich eine S-Bahn zurück zum Bahnhof Zoo, gingen in der Nähe in einen indischen Schnellimbiss. Zwar hatte ich immer noch keinen Hunger (da hilft vermutlich die konsequente Reiseverstopfung), wollte aber verhindern, dass er nachts auftauchen und mich vom Schlafen abhalten würde. Das Dhal mit Reis schmeckte dann auch sehr gut.

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Eben diese wundevolle Reihe des Friedrichstadtpalasts hat kürzlich ein Jahrhundertfoto mit Margot Friedländer aufgenommen, hier die Entstehung.

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https://youtu.be/_rzBRSSvdVU?si=n-D5sH3o28xCoUAN

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“Ich verstehe total, dass es unterschiedliche Sichtweisen geben kann, möchte aber, dass meine vorherrscht.”
Quelle.

(Kommt ins Kästchen zu “Ich bin überrascht und enttäuscht”.)

Journal Donnerstag, 30. November 2023 – WoW – Word on Wirecard in den Kammerspielen oder: Muss Kunst wehtun?

Freitag, 1. Dezember 2023

Ich hatte über das Stück WoW – Word on Wirecard von Anka Herbut, das ich Mittwochabend in der Therese-Giehse-Halle der Kammerspiele sah, vorher nur gewusst, dass es irgendwie um den Zusammenbruch des betrügerischen Unternehmens Wirecard ging und multimedial gearbeitet würde (letzteres ist allerdings schon lang Inszenierungs-Standard). So brauchte ich eine Weile, bis ich erkannte, dass die Handlungen mit verschiedenen Wirklichkeitsebenen arbeitet, dass es um Wirklichkeitssimulationen und ihre Erkennbarkeit geht.

Das ist schon länger ein Topos in der Fiktion, der die Fragen nach freiem Willen und Erkenntnisphilosophie durchspielt, ob der Mensch überhaupt die Fertigkeiten hat herauszufinden, was wirklich wirklich ist, was ein Vorspiegeln, Manipulation, Simulation – und ob die Antwort überhaupt relevant ist. (Das Konzept Multiverse, unter anderem in aktuellen Superheldengeschichten Standard, hat diese Fragen aufgegeben und setzt verschiedene, gleichberechtigte parallele Wirklichkeiten voraus.)

Verschiedene Wirklichkeitsebenen sind beliebtes Szenario in der Literatur, angefangen mit God games, in denen sich irgendwann der Protagonist als Spielfigur einer höheren Macht herausstellt, bis hin zur Science Fiction, die das Thema von Anfang an gerne aus vielerlei Perspektiven und mit vielerlei Erzähltechniken durchgespielt hat. Im Film kennt man das Setting zum Beispiel aus Total Recall, Matrix, Inception.

Jetzt ist es also auch in der Gattung Drama angekommen. Die Wirklichkeitsebenen in WoW – Word on Wirecard sind unter anderem:
– Ein Forschungslabor der frühen 1970er, in dem Wirklichkeitssimulationen programmiert wurden.
– Die Verfilmung einer Geschichte mit verschiedenen Wirklichkeits- und Simulationsebenen inklusive der Dreharbeiten.
– Der Wirecard-Skandal als schief gegangene Wirklichkeitssimulation – was ich besonders genial und witzig fand, weil das die erfundenen Wirklichkeiten des Geschäftsmodells und seiner Finanzierung ebenso erklären würde wie das Verschwinden des Protagonisten.

Die Erzähl- und Inszenierungstechniken für die Vermittlung unterschiedlicher Wirklichkeitsebenen:
– Dieselben Schauspieler*innen/Rollen in verschiedenen Kostümen/Maske,
– Film – auf der Bühne waren ständig zwei Kameras in Aktion, ihre Bilder und anderes Filmmaterial übertragen auf drei riesige, zusammenhängende Bildschirme über der Bühne,
– Räume auf der und hinter der Bühne, in denen mal die eine, mal die andere Wirklichkeit gespielt wurde,
– in der Pause die Einladung ans Publikum, auf die Bühne zu kommen und ein Glas Sekt zu trinken, mit den Darsteller*innen zu sprechen – Vermischung zweier weiterer Wirklichkeitsebenen.

Pausenbühne.

Das fand ich ungemein kreativ und hervorragend gemacht.

Zwei weitere Techniken aber führten mich zu der gestern bereits angerissenen Überlegung, wie viel körperlicher Schmerz am Publikum erzählerisch gerechtfertigt ist. Auf der Website zum Stück ist angekündigt “Stroboskop-Effekte, laute Musik”, am Einlass standen Ohrstöpsel bereit, an den Türen weitere Warnschilder.

Vor der Pause konnte ich mir meist rechtzeitig die Ohren zuhalten, wenn die Lautstärke der Musik über Lärm-Level anstieg und schmerzhaft wurde. Lichteffekte gab es in gewohntem Theater-Maß.

Doch direkt nach der Pause wurde das Stück mit über 20 Minuten Dauerbeschuss durch Höllenlärm und Lichtblitze ins Publikum fortgesetzt, die ich irgendwann nur noch in Flugzeugabsturz-Schutzhaltung durchstehen konnte, Finger fest in die eingeschobenen Ohrstöpsel gepresst. Stehen Licht- und Lärmfolter nicht auf Verbotslisten? Ist das mit “Überwältigungskunst” gemeint? Soll ganz, ganz sichergestellt werden, dass das Publikum irgendwas fühlt? Denn ich bin sicher: Auch ein paar Umdrehungen weniger und ohne Schmerz hätten Lichtgeflacker und Musik ihre erzählerische Wirkung erzielt.

Muss ich als nächstes mit Stromstößen im Sitz rechnen? Selbstverständlich mit Ankündigung und Warnung, am Eingang werden Gummimatten bereitgestellt, die man zum Schutz auf die Sitze legen kann?

Zumal solche Inszenierungen auch alles andere als inklusiv sind und beträchtliche Bevölkerungsgruppen vom Theaterbesuch ausschließen. An die Schauspieler*innen möchte ich gar nicht denken, ich verstehe jetzt besser, warum deutsche Bühnendarsteller*innen international den Ruf haben, die ließen alles mit sich machen.

Der Applaus war Mittwochabend groß, ich hörte Begeisterung – beobachtete aber, dass nicht nur ich völlig entkräftet von der Licht- und Lärmfolter lediglich zu mechanischem Klatschen in der Lage war und nur noch heim wollte.

Empfohlene Besprechung und Rezensionssammlung von Martin Jost bei Nachtkritik:
“Ein irrealer Betrugsfall”.

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Nach dem späten Vorabend bekam ich weniger Schlaf als sonst auf einen Arbeitsmorgen, doch der war gut.

Emsiger und konzentrierter Vormittag im Büro, vorm Fenster Leiserieselter, der auf dem Boden allerdings eher Matsch war. Schneller Mittagscappuccion bei Nachbars, erster Einsatz der Kapuze der neuen Winterjacke, funktionierte hervorragend.

Mittagessen eingeweichtes Muesli mit Joghurt, einen Orange.

Auch der Nachmittag emsig und konzentriert, ich musste mich nicht mit meinen inneren Schatten befassen.

Beim Verlassen des Büros zu Feierabend versuchte sich die Jahreszeit anzuwanzen.

Heimweg durch Schneefall, war ganz ok. Daheim Yoga-Gymnastik, Brotzeitvorbereitung, zum Nachtmahl den Ernteanteil-Zuckerhut mit Orangensaft-Erdnussbutter-Dressing (gut!) angemacht. Dann gab’s noch reichlich Käse und Süßigkeiten.

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Ach, Shane MacGowan… Jetzt können die beiden wieder Duett singen.

Aktivieren Sie JavaScript um das Video zu sehen.
https://youtu.be/qSkN4EXhBR8?si=8olf8tm9ndKzgOwk

Journal Mittwoch, 29. November 2023 – Sich nicht aussuchen können, worüber man sich aufregt

Donnerstag, 30. November 2023

Wieder sehr gut geschlafen, hätte gern mehr sein dürfen als bis Weckerklingeln.

Das Draußen wirkte beim Blick aus dem Wohnzimmerfenster trocken, der Himmel nur wenig bewölkt. Weg in die Arbeit mit kompletter hoher Körperspannung, denn die Wege waren Schnee- und Eis-glatt. Dazu höllische Stirnhöhlenschmerzen links, ich hatte die Ibu am Morgen vergessen.

Im Büro gleich die Ibu nachgeholt, Wirkung wunderbar. Auch mein Frier-Gemecker zeigte Wirkung: Gestern herrschte Zimmertemperatur.

Kurz vor Mittag “Dienstgang”: Besorgungen für Weihnachtsfeier. Die Deko wird sogar halbwegs geschmackvoll: Geschmacklos wirkt meiner Meinung nach nur in großer Menge, unter einer bestimmten Opulenzgrenze sieht es lediglich erbärmlich aus. Bei geschmackvoll kann man auf minimalistisch reduzieren.

(Nachtrag: Mittagessen der letzte Granatapfel mit Orange, ein Laugenzöpferl.)

Sehr früher Feierabend mit Unterstunden: Ich wollte abends mein Theaterabo wahrnehmen, dafür habe ich nur nach gekürzten Arbeitstagen genug Energie. Erstmal fuhr ich zu Geburtstagsgeschenkbesorgung.

Daheim Yoga-Gymnastik und Häuslichkeiten, fürs frühe Nachtmahl ging ich mit Herrn Kaltmamsell auf den Christkindlmarkt am Sendlinger Tor: BRATWURSCHT!

Erster Gang Rengschburger spezial. Die hat ja praktisch Gemüsebeilage.

Zweiter Gang eine weiße Bratwurscht – auch die endlich richtig gut, geschmacklich (Thymian, Majoran) und weil sie frisch, knusprig und durchgebraten war, das hatte ich schon sehr lang nicht mehr.

Auch die Temperatur fand ich perfekt: Kalt genug für dampfende Bratwurst, für Mütze und Handschuhe – aber auch nicht kälter. Nachtisch gebrannte Mandeln.

Daheim ruhte ich mich nur kurz aus, dann Abmarsch zur Therese-Giehse-Halle der Kammerspiele, dort WoW – Word on Wirecard.

Auf dem Weg Rathaus mit diesigem Gerade-mal-nicht-mehr-Vollmond.

Über den Theaterabend morgen mehr, der interessante Inhalt und die Erzähltechnik überschattet von der über die fast drei Stunden Stück immer dominantere Frage, wie weit körperliche Folter das Publikums bei Inszenierungen gehen darf.

Völlig erledigte Heimkehr kurz vor elf.

§

Eine Freundin erzählte kürzlich von ihrem mittelkleinen Sohn, den sie von klein auf nicht so leicht verstanden habe wie seinen älteren Bruder: Er kommuniziere viel weniger, ziehe sich immer wieder in sich zurück, wirke oft gereizt und schlecht gelaunt. Sie macht ihm das keineswegs zum Vorwurf (wenigstens mir gegenüber nicht), versucht ihn zu sehen, hat dafür auch schon professionelle Hilfe in Anspruch genommen. Als Beispiel für die inneren Vorgänge des Buben erzählte sie von einem Morgen vor der Schule, an dem dieser Sohn beim Frühstück besonders gereizt und unleidlich gewirkt habe. In einer ruhigen Minute habe sie versucht, mit ihm den Anlass herauszufinden. Und es erwies sich: Sie hatte versehentlich seine Lieblingstasse dem älteren Bruder vorgesetzt. Doch der Kleine hatte nicht protestiert, weil ihm klar gewesen sei, dass sein Unwille völlig übertrieben war, der Auslöser komplett lächerlich.

Und ich verstand den Buben zu hundert Prozent, mir wurde schlagartig klar: IT ME! Seit ich denken kann, störe und ärgere ich mich ständig an komplett Irrelevantem, muss mir von dieser Störung die Laune und die Situation verhageln lassen. Doch ich bitte nicht um Änderung oder Rücksicht darauf, weil ich doch selbst weiß, DASS DAS WIRKLICH IRRELEVANT UND KOMPLETT LÄCHERLICH IST! Das hat zwei existenzielle Folgen: Erstens trainierte ich mich schon früh darauf, die meisten meiner Impulse und Bedürfnisse zu ignorieren, denn es wäre viel zu aufwändig und zeitraubend, sie erstmal auf echte Relevanz zu checken, objektiv und subjektiv, dafür bin ich ein viel zu schnell getakteter Mensch. Zweitens erleichterte ich mir das Leben über die Jahre, indem ich mich immer weniger in die knifflichsten solchen Situationen brachte, nämlich die mit anderen Menschen, die mich mit diesem lächerlichen Ärger ertragen müssen. Daher auch mein Neid auf Menschen, die sich offensichtlich frei entscheiden können, was sie aufregt/ärgert und was nicht (“lohnt sich doch eh nicht”), ich hatte noch nie die Wahl.

Das erzähle ich zum einen, weil ich hier erzählen kann, was ich will, und mich das beschäfigt. Zum anderen um zu demonstrieren, in welchen inneren anstrengenden Zwickmühlen schon Neuronormale leben können – das lässt mich ahnen, wie viel schlimmer Neurodiverse kämpfen müssen, ein Beispiel bei Donnerhall(en).

Journal Mittwoch, 25. Oktober 2023 – Start in die Kammerspiel-Saison mit Im Menschen muss alles herrlich sein von Sasha Marianna Salzmann

Donnerstag, 26. Oktober 2023

Vom Wecker aus dem Schlaf gerissen worden, dabei war der bis dahin reichlich und gut gewesen. Ich stand müde auf (kommt selten vor), der Gedanke an den bevorstehenden langen Tag machte mich noch müder.

Der Regen hatte aufgehört, der Morgen wurde sogar sonnig und nahm diesen Sonnenschein in den Tag mit.

Nur eine kleine Alternativabzweigung auf meinem Weg in die Arbeit, und schon kam ich in der Ligsalzstraße im Westend an einem interessanten wegen Haus vorbei.

Auch dieses Jahr spendierte mein Arbeitgeber Grippe-Impf, und ich hatte mich schnell genug angemeldet. Diesmal hatte ich sogar an meinen Impfpass gedacht, seit gestern Vormittag ziert ihn ein frisches Einkleberchen.

Zu Mittag gab es Pumpernickel mit Butter, Kerne von zwei Crowdfarming-Granatäpfeln. Auch diesmal enthielt das Paket aus Spanien neben der bestellten Sorte zwei süße Granatäpfel; die kenne ich seit ein paar Jahren, habe sie damals auch gleich verkostet: Schmecken nur süßlich und nicht nach Granatapfel, meiner Meinung nach eine Fehlentwicklung. Für die gestrige Brotzeit mischte ich helle, süße Kerne unter die dunklen aromatischen.

Ich machte Feierabend mit Unterstunden, denn gestern Abend startete meine neue Kammerspiel-Saison – und ich weiß seit ein paar Jahren, dass ich mich nicht ins Theater aufraffe, wenn ich den Tag voll gearbeitet habe. In weiterhin schönem und mildem Wetter (bald legte ich mein Halstuch ab, kurz darauf öffnete ich den Mantel) spazierte ich für Besorgungen in die Fußgängerzone.

Die Sightseeing-Motive nicht den Auswärtigen überlassen.

Unter anderem im Kaufhaus (ich liebe Kaufäuser) eine Ein-Personen-Cafetera besorgt: Herr Kaltmamsell wird übers Wochenende verreisen, und die alte kleine Alu-Cafetera ist nicht Induktionsherd-tauglich, mit Zwischenboden kocht sie nicht verlässlich.

Daheim war noch Zeit für Yoga-Gymnastik (wieder zu lang), Brotzeit-Herrichten, dann servierte Herr Kaltmamsell Orecchiette mit Butter und Salbei, gleich darauf brach ich ins Theater auf. Wirkliche Vorfreude empfand ich nicht, allein schon weil die Stücklänge mit 3 Stunden 20 angekündigt war. Aber wieder machte ich mir klar, dass der Theaterbesuch mir gut tun würde, eine Bereicherung sein – so wie halt andere sich zum Sporttreiben überreden. (Ich erwähnte glaube ich schonmal, dass es neben Fitness- auch Kulturtracker geben sollte, die eine*n daran erinnern, wenn man auf diesem Gebiet zu wenig für sich getan hat.)

Da ich in hohen Schuhen unterwegs war, nahm ich die U-Bahn für eine Station Richtung Kammerspiele. Aufgeführt wurde Im Menschen muss alles herrlich sein nach einem Roman von Sasha Marianna Salzmann, Theaterfassung von Jan Bosse und Viola Hasselberg.

Und sieh an: Die fast dreieinhalb Stunden mit einer Pause wurden mir gar nicht lang. Denn nachdem ich mich in den vergangenen 20 Jahren daran gewöhnte, dass zeitgenössische Theateraufführungen bildende Kunst sind, keine erzählende, wurde mir gestern überraschenderweise eine Geschichte erzählt. In nur einem Bühnenbild (Bühne: Stéphane Laimé), eine Art Kneipenraum, das über den Abend nur wenig verändert wurde, erzählte mir der Abend am Leben zweier Frauen aus der Ukraine von den Umbrüchen durch die Auflösung der Sowjetunion, von Familien, in denen keine echten Gespräche stattfinden, vom Auswandern, von Freundschaften, Verlust, Liebe. Das interessierte mich, das wollte ich wirklich wissen.

Ich freute mich über Wiebke Puls in der Rolle einer dieser beiden Frauen, lernte begeistert Johanna Eiworth in der Rolle der anderen kennen. Die Töchter dieser beiden wurden mit beachtlicher Schauspiel- (und Sportleistung) von Edith Saldhana und Maren Solty gespielt.

Die Inszenierung enthielt viel Musik live auf der Bühne, ich befürchtete auf dem Heimweg, die drei Gitarrenakkorde, die praktisch durchgehend im Hintergrund gespielt wurden, nie wieder aus dem Hirn zu bekommen. Ebenfalls auf der Bühne fand Kostümwechsel statt (allerdings nicht jeder, Kostüme: Kathrin Plath), die Garderobenhaken an der Kneipenwand wurden genutzt.

In der Pause spazierte ich ein wenig durch die Foyers. Der Zuschauerraum war zu ca. 2/3 besetzt. (Mir als Theater-Abonnentin mit Provinz-Abstammung, die jetzt auf die 60 zugeht, müsste doch langsam eine silberne Häkelstola wachsen?)

Nach dem lang anhaltenden Schlussapplaus war ich nicht mal besonders müde, ich kürzte meinen Heimweg dennoch mit einer U-Bahnfahrt ab. Sehr spät ins Bett, ich freute mich darauf, am nächsten Tag Rezensionen zu dem eben gesehenen Stück zu recherchieren.