Bücher

Journal Freitag, 28. Juni 2024 – Bachmannpreislesen, Tag 2

Samstag, 29. Juni 2024

Gut geschlafen, erfrischt aufgewacht.

Nach Fertigbloggen und Milchkaffee spazierte ich in schönem Sonnenschein zum ORF-Theater.

Der Zuguckort Lendhafen war bereits gut besetzt. Ich platzierte mich wieder ins Studio. Gestern verliefen die Jury-Diskussionen kontroverser und turbulenter (Verdacht, dass ihnen das am Donnerstag selber zu fad wurde), ich bekam einen deutlichen Favoriten zu hören, und erstmals mischte sich eine Autorin in die Jury-Diskussion.

Moderator Peter Fässlacher stellte die Mitglieder der Jury wieder mit Zusammenfassungen ihrer bisherigen Aussagen vor, das hatte schwer was von Herzblatt (Verzeihung, ich bin alt).

Los ging der zweite Lesetag mit Sophie Stein und “Die Schakalin”. Der Text hatte mit einer eher jungen Frau und einem eher jungen Mann zu tun, die sich im Urlaub kennengelernt hatten und bald heimfahren würden – und er interessierte mich nicht besonders. Anders die Jury: Mithu Sanyal mochte die “unglaubliche Atmosphäre”, den magischen Anfang, sah im Mittelpunkt zwei Figuren, die sich gegenseitig korrigieren wollten. Thomas Strässle fand die Merkwürdigkeiten der Frauengestalt am Anfang übertrieben, im Lauf der Geschichte aber plausibel, mochte Stimmung und Natur, sah den Gegensatz Produktivität-Prokrastination – wurde in seinen Erwartungen aber am Ende enttäuscht. Klaus Kastberger berichtete, er habe sofort den Verdacht gehabt, der Text sei einem philosophischen oder naturwissenschaftlichen Seminar entsprungen: Er fand ihn angbeberisch, nach Nestroy “hat Sonntagsgwand an”, sei auf Ausdruck getrimmt und leide an “Adjektivitis”. Aus Mara Delius’ Sicht war der Text leicht zu unterschätzen, sie wies auf Mittel der phantastischen Literatur hin, aufs Erschauern, auf den Modus der Unsicherheit. Brigitte Schwens-Harrant1 mochte die Anlage mit dem Ort, der Zeichen des Übergangs setze – Fluss, schwarzes Meer (wo Ovid ja seine Metamorphosen geschrieben habe). Doch daraus mache der Text zu wenig.

Philipp Tingler hatte nichts gegen Angeberisches, ihm gefiel die Bewegung, die Determiniertheit. Doch er hatte ein Problem mit dem Verhältnis der Figuren zueinander: keine Bewegung, keine Dynamik. Laura de Weck konzentrierte sich auf die Korrekturen und die Frage, ob wir bereit wären, auf einen Teil unserer Kindheit zu verzichten, wenn wir dadurch von seinen Traumas befreit würden. Delius sah sehr wohl eine Entwicklung, die “Korrekturen” der Frau als utopisches Projekt zum Recht auf ein glückliches Leben. Kastberger kritisierte, dass der Text in jedem zweiten Satz etwas aus einer Theorie hole. Dann wurde es wirr, weil es mal um die Spannung zwischen den Figuren ging, dann wieder um den Realitätsgehalt von Inhalten, dann um Kastbergers unterstellte Entstehung des Texts – nach meiner Auffassung wurde viel aneinander vorbei geredet.

“Eine Treppe aus Papier” hieß der Text von Henrik Szánto, der mit einer langen Aufzählung begann – auf die ich mich nach kurzem Stutzen einließ, weil sich schon aus der Aneinanderreihung Atmosphäre und eine Geschichte ergaben. Dann setzten zunächst rätselhafte Bilder ein – doch bald wurde klar: Hier erzählte ein großes altes Wohnhaus in einer deutschen Stadt über die Bewohner*innen vieler Jahrzehnte – in ständigen zeitlichen, räumlichen, persönlichen Überlagerungen (“wie ein mehrfach belichteter Film”). Ich war hingerissen, hatte sehr deutlich Häuser in München Schwabing vor Augen. Nach der Lesung langer Applaus.

De Weck erzählte von ihrer Mühe, in den Text hineinzukommen, habe ihn dann aber gerne gelesen: Wieder Thema Vergangenheit und wie sie nachwirkt, in diesem Fall über konkrete Gestalten, bis hin zur Fliegerbombe in der Gegenwart, wegen der wieder die Bewohner das Haus verlassen müssten. Sanyal mochte die Perspektive der ersten Person Plural, sah aber das Problem, dass ein erzählendes Haus den Personen nicht sehr nahe kommen könne – sie fühlte sich an ein Ali-Mitgutsch-Wimmelbild erinnert. Kastberger nannte den Text “fulminant”, diese literarische Form sei ihm noch nie begegnet, sie mache deutlich, das Historisches nie vergangen ist. Der Text schiebe Dinge übereinander, eben nicht wie in einem Wimmelbild. Strässle fand ihn eindrücklich und originell. Tingler äußerte sich berührt durch die Offenheit des Textes, die Autonomie der Erinnerung. Wichtig sei das Thema Material, Substanz – zum Beispiel Papier als Material der Weitergabe von Erinnerungen; manches sei ihm aber “too much” gewesen.

Schwens-Harrant fand das Haus als Metapher mutig, war sofort im Text gefangen – rühmte das Medium Literatur, das ermögliche, dass alles gleichzeitig sein kann. Als Schwäche bezeichnete sie die Erklärungen, die sich “hineingeschummelt” hätten. Sanyal kritisierte die Zeichnung der negativen Figur: Sie fragte, was sie noch außer böse sei. Für Delius war das Konzept des Texts “Defiguration”, sie mochte auch die Ansprache des Publikums.

Denis Pfabe las “Die Möglichkeit einer Ordnung”. Der Text spielt in einem Baumarkt, das mochte ich, darin verbringt die Hauptfigur einen Tag. Doch schon als eher am Anfang die Rede war von Räumen des Eigenheims, die “nun doch leer bleiben würden”, schnappte der Topos (trope?) vergeblicher Kinderwunsch zu, und ich hörte alles Folgende aus dieser Perspektive. Schwens-Harrant beschrieb, wie der Text immer wieder während des Tags im Baumarkt ein Stück Information vermittle; wichtig sei das Setting Baumarkt – ein Ort, an dem Träume verkauft würden, die für ein bestimmtes Lebens- und Familienmodell stehen, für die Lebenslüge, wenn man sich nur genug anstrenge, könne man alles schaffen. Hier aber setze er eine “unheimliche Trauergeschichte in Gang”. Der Text überschreite Grenzen, wie die Hauptfigur am Ende hinter die Regale kriecht. Für Delius war das ein “absolut perfekter Text”, meisterhaft, wie er “Suspense” aufbaue, wie er komponiert sei. Aus ihrer Sicht gebe es möglicherweise das Haus gar nicht. Auch Strässle lobte ihn als hervorragenden Text, er bleibe bei der Möglichkeit. Er hatte nur spät begriffen, dass es sich um eine Verlustgeschichte handelte, das sei “extrem subtil” gemacht (wie bitte? nur wenn Baumarkt-Vorschlaghammer subtil sind). Alles gehe wunderbar auf, er fand nur die Farbsymbolik aufdringlich. Auch de Weck sprach von einem starken Text, vom Versuch einer Figur, etwas tief Emotionales mit Technischem zu lösen. Sanyal gab zu, der Text habe ihre Geduld strapaziert: Eigentlich müsse das Paar miteinander reden, doch die Hauptfigur rede statt dessen mit den Angestellten des Baumarkts.

Tingler, der die Geschichte auch mitgebracht hatte, lieferte mir den Schlüssel für einen gnädigeren Zugang: Das Surreale. Die Gespräch würden gar nicht wirklich geführt, nichts an dem Vordergrund sei verlässlich, schon gar nicht die Hauptfigur. (Damit löste sich auch mein Unwohlsein auf, dass die Hauptfigur den ganzen Tag, die ganze Geschichte hindurch weder Hunger hatte noch aufs Klo musste.) Für ihn war der Text eine Parabel des Bemühens. Kastberger fand den Text langweilig, Delius ordnete ihn als Krise der Männlichkeit ein. Kurzer abschließender Schlagabtausch zwischen Sanyal, die festhalten möchte, dass manche Texte halt manche Leser*innen nicht erreichen, das könne man aber nicht den Texten vorwerfen, und Tingler, der auf den Wert objektiver Kriterien pocht. (Ich stimmte schon wieder Tingler zu, mich interessiert aber die Wirkung dieser objektiven Kriterien auf den Rezeptionsprozess – siehe meine nie fertiggestellte Dissertation.)

Mittagspause, draußen war es sonnig und in der Sonne heiß. Für meinen Mittagscappuccino spazierte ich zur Hafenstadt – ein Bereich mit Locations, der erst nach meinem Besuch vor zwei Jahren eingerichtet wurde und mir sehr gefällt.

Schmeckte mir sehr gut!

Der Nachmittag begann mit Olivia Wenzel und “Hochleistung, Baby”: Erstmals tauchte Fußball auf, erstmals in diesem Bewerb gab es kleine Kinder. Sanyal schwärmte sofort, der Text habe sie umgeworfen mit seiner Verschränkung einer Quasi-Reportage eines Fußballer-Interviews und der Ich-Erzählung aus einer Gruppe Mütter. Er breche mit vielen Tabus (Milchstau), sei auch sehr lustig. Für Strässle war der Text vordergründig sehr attraktiv, spreche von Klasse, Gender, nutze eine Klaviatur von Effekten, sei raffiniert gemacht – und werfe mit dem Schluss als Traum rückblickend ein neues Licht auf alles. Kastberger freute sich über einen seltenen Text über Fußballer, war fasziniert von der Mischung Fußballerwelt und Frauenwelt, fand die journalistische Neugier spannend, fand die literarische Form hochinteressant, sah darin sogar eine altmodische Novelle. Delius sprach von einem Thesenstück, in dem alle Themen der Zeit vorkommen, in der Umsetzung sei es aber konservativ. Sie wies auf das merkwürdige Frauen-Kollektiv hin und die offensive Körperlichkeit – fand alles aber nicht gut genug miteinander verbunden.

Für Tingler war der Text “modische Literatur”, er arbeite mit einem modischen Begriff der Identitäten, dem sich der Fußballer aber widersetze. Ihn störte die kitschige Ozeanfantasie, die konventionelle Schilderung des Begehrens. Sanyal wiederum fand den Text radikal, unter anderem durch die reichliche Verwendung von Englisch. Für de Weck hatte der Text mehrere Ebenen, auch inhaltlich, er setze sich mit wirklich zeitgenössischen Themen auseinander, literarisch auf bestmögliche Weise verarbeitet. Schwens-Harrant sah den Schlüssel in Begehren und Körperlichkeit, ihr gefielen die “Wir”-Teile besonders gut. Die Gruppe der Frauen bestehe nicht aus Individuen, sie zeige Mütter als die eigentlichen Hochleistungssportler.

Und nun schaltete sich die Autorin Olivia Wenzel ein: Sie bat zum einen Delius darum, die Beschreibung “konservativ” genauer auszuführen, erklärte der Jury außerdem, ab wann und wie die Traumphase im Text einsetzte und dass er darum gehe, wie man aus zugeschriebenen Rollen ausbrechen kann. (Habe sofort die Mutter von Garp im Film vor Augen, gespielt von Glen Close, wie sie auf Garps Erklärung, was seine erste Kurzgeschichte bedeutet, strahlend sagt: “Wenn sie das bedeutet, mag ich sie!”) Die Autorin hatte ihre Chance doch bereits gehabt: Beim Schreiben des Texts. Delius erklärte aber bereitwillig, dass die Sprache mit ihren Bildern wenig mache, vieles sehr erwartbar sei.

Und Geschichte Nr. 5: Kaśka Bryla, “Der Kakerlakenschwarm”. Der Text erwies sich als Corona-Geschichte in einer Bauwagen-Umgebung, ich fand nichts daran, was mein Interesse gehalten hätte. De Weck aber hatte sie sehr gern gelesen, mochte die Atemlosigkeit und Direktheit. Nahezu ohne Punkt geschrieben, hätte sie von dieser Formalie allerdings einen Zusammenhang mit dem Inhalt erwartet – der nicht gekommen sei. Strässle wollte nicht mal wissen, wie die Reise weitergeht, konnte auch nichts mit den Metaphern anfangen. Viele Themen würden angetippt: Käfig als Transittraum, Geschlechtsdefinition. Sanyal hätte gerne die folgende Heilungsgeschichte gewusst. Schwens-Harrant las als Themen Schmerz auf verschiedenen Ebenen, Krankheit als Isolation, eine weitere Auseinandersetzung mit der Vergangenheit des Vaters, Nachgeborene mit dem Auftrag, die Geschichte aufzuschreiben. Sie konnte auch die Kakerlaken zuordnen.

Tingler störte sich an der Selbstbezüglichkeit ohne Transzendenzen, Kastberger fand die bisherigen Interpretationen der Jury interessanter als den Text selbst. Dann ging es ein wenig hin und her, ob das Celan-Zitat am Ende passte oder nicht.

Mein Plan war gestern, nach kurzen Einkäufen fürs Abendbrot zum Strandbad zu marschieren. Als ich aus dem ORF-Theater ins Freie trat, stutzte ich allerdings: Der Himmel war bedeckt. Erstmal frühstückte ich im Garten kurz nach drei Pumpernickel mit Fischkäse.

Bei meinen Einkäufen beschloss ich, es darauf ankommen zu lassen. In der Ferienwohnung sonnencremte ich mich also und schlüpfte in einen Bikini, warf ein Strandkleid über und marschierte los. Unterwegs wurde es immer sonniger und ich traf auf Erst-Schlachtenbummlerin Moni (@gedankenträger), die zum Strandbad radelte. Wir schlossen uns zusammen, schwammen, ratschten, sonnten uns. Sie zog aber bald schon wieder zu einer Veranstaltung ab.

Ich hörte Musik, behielt die Kopfhörer auch auf dem gut halbstündigen Weg zurück auf: Das mache ich sonst nie, ich ertappte mich dabei, wie ich immer wieder im Takt der Musik ging, manchmal fast tanzte.

Bach von Bäumen und Wiese gesäumt, daneben ein asphaltierter Weg, am Beginn ein Dreifach-Verkehrsschild absolutes Halteverbot, darunter Abschleppzone darunter Fuß- und Radweg

Mein Traum für Münchens Zentrum.

Brücke über Flüsschen, an deren Betonpfosten sich das Sonnenglitzern des Wassers spiegelt

Stamm eines riesigen alten Baums neben Pfad neben Bach

Hier am Lendkanal hat’s wirklich riesige Robinien.

Zurück in der Ferienwohnung lag noch das Verbloggen des ganzen Lesetags vor mir, ich machte mich dran. (Von Erholung war in Klagenfurt eh nie die Rede.) Um halb neun hatte ich dann aber argen Hunger, kochte also mit der weniger als mageren Ausstattung Nudeln, mischte sie mit gewürztem Joghurt, Käse, Tomaten (die einzige Schüssel hat Waschtrog-Format, kein Foto to protect the innocent). Zum Nachtisch gab’s Flachpfirsiche und sensationell aromatische Nektarinen. Es ist ein Elend, dass in der Saison importiertes Lidl-Obst verlässlich besser ist als das aus dem Bio-Supermarkt oder von Standln – ich möchte die Anbaubedingungen wirklich nicht unterstützen, liebe aber gutes Obst.

Nicht geschafft: Freitagszeitung lesen, auch nur eine Zeile meiner aktuellen Romanlektüre.

  1. Zefix behaupte nochmal jemand, ich hätte einen schwierigen Namen! Diesen muss ich auch nach Jahren #tddl fast jedesmal nachschauen – so heißt man nicht! []

Journal Donnerstag, 27. Juni 2024 – Bachmannpreislesen, Tag 1

Freitag, 28. Juni 2024

Das eine oder andere wendete sich gestern dann doch zum Guten.

Mittelgute Nacht, die missliche Unterkunft, vor allem das fehlende WLAN beunruhigte mich ziemlich. Kurz nach sechs beschloss ich, dass genug war.

Edelstahl-Küchenblock, im Vordergrund zwei Herdplatten, auf einer steht eine kleine Cafetera, auf der anderen ein Suppentopf mit ein wenig Milch

Milchkaffee mit mitgebrachter Cafetera – die Milch bodenbedeckend erhitzt im einzigen verfügbaren Topf. Beneiden Sie mich nicht zu früh um diesen Urlaubsluxus: An der Spüle gibt es kein warmes Wasser.

Wieder über Smartphone-Hotspot brachte ich meinen Laptop online und finalisierte Blogtext sowie Fotos. Ich war sehr gefasst darauf, dass es auch in der Dusche kein warmes Wasser geben würde – doch hier lief es problemlos! Man muss das Gesamtniveau einer Unterkunft nur genug absenken, dann löst sowas echte Begeisterung aus. Nach dem Duschen wurde mir auch der Sinn des bereitgestellten Abziehers in einer gemauerten Dusche mit Vorhang klar: Der Abfluss der Duschwanne liegt nicht am tiefsten Punkt, ich musste das Wasser hinschubsen, wenn es nicht stehen sollte.

Durch das frühe Aufstehen war ich sehr zeitig bereit für den Aufbruch und traf in Milde, aber unter bedecktem Himmel so früh am ORF-Theater ein, dass ich einen Sitzplatz im Studio bekam (es ist mir weiterhin das Liebste, live dabei zu sein; ich habe kein Bedürfnis, mich bereits während des Vorlesens und der Jury-Diskussion darüber auszutauschen).

Kleines Fernsehstudio vom Zuschauerbereich aus, unten Tische und Stühle noch unbesetzt, aber ein paar Zuschauerköpfe

Der Lesetag startete mit Sarah Elena Müller und ihrem Text “Wen ich hier seinetwegen vor mir selbst rette”. Ich hörte eine recht verrätselte Paar-/Drogen-Geschichte aus Ich-Perspektive mit sprechenden Gegenständen und inneren Stimmen, die zu Personen werden. Nicht so mein Geschmack, auch wenn ich das originelle Element Nähen mit Nähmaschine, Fäden, Stoffe schätzte.

Die Jury war sich überraschend einig in ihrem positivem Urteil (wie es eigentlich den ganzen Tag über keine tiefen Unterschiede in der Einordnungen der Texte gab): Mara Delius schätzte die Schwelle als Übergangsmarker, mochte viele der Bilder. Thomas Strässle nannte ihn einen “großartigen Text” und hob die doppelte Codierung von Stoff und Nadeln hervor. Auf Laura de Weck hatte die Handlung spannend wie ein Thriller gewirkt, Philipp Tingler sah im Vordergrund die Ambivalenz des Sorgens und Kümmerns, des sich selbst suspekten Inneren und war froh, dass der Text nicht mit einer Leseanweisung komme. Mithu Sanyal freute sich über das “produktive Rätsel”, dass viele Fragen offen bleiben, sich Ebenen überlagern. Brigitte Schwens-Harrant wies darauf hin, wie spät das “Ich” auftauche, dass der Text im Unklaren lasse, wer da locke, suche, wem eigentlich geholfen werden müsse.

Nur am Schluss bekannte der neue Vorsitzende der Jury, der vertraute Klaus Kastberger (nachdem er den vorherigen Punkten der Jury zugestimmt hatte): “Ich kann Texte nicht ausstehen, in denen Gegenstände sprechen.” Das gehöre für ihn in Kindergeschichten. Ah, geht also nicht nur mir so.

Zweiter Text des Bewerb-Tages: “Schwestern” von Ulrike Haidacher. Ein Standard beim Bachmannpreislesen: Die Begleitung eines sterbenden alten Menschen. In diesem Fall wird aus der Perspektive der Enkelin erzählt, die zusammen mit ihrer Mutter die letzten Stunden im Sterben der Großmutter erlebt; alle drei, so stellt sich heraus, sind gelernte Krankenpflegerinnen. Aus meiner Sicht sauber erzählt.

Sanyal gestand ihr anfänglichen Vorbehalte, weil der Text nach einer einfachen Erzählung ausgesehen habe, doch sie entdeckte einen neuen Blick auf Bekanntes: Es werde elegant viel mehr verhandelt (z.B. Grenzen). Kastberger wies darauf hin, dass letzte Momente in Klagenfurt oft thematisiert würden, hier aber in total neuer Weise. Er habe sehr viel gelernt (was ich halt 2018 aus dem ausführlichen und epochalen Artikel “Ganz am Ende” im SZ-Magazin über die Abläufe beim Sterben schon wusste). Strässle gestand dem Text Zartheit zu, sah darin Konflikte nur angerissen, nicht ausgetragen. Delius fand bemerkenswert, wie hier der Moments des Abschieds sprachlich verhandelt worden sei, Schwens-Harrant hielt es für mutig, wenn sich jemand überhaupt der ganz großen Themen wie Tod oder Liebe annehme. Tingler äußerte sich ein wenig enttäuscht, dass nach dem Vorstellungsfilm (Haidacher ist Kabarettistin und hatte von ihrer Begeisterung für Bühnenlautstärke gesprochen) ein so vorsichtiger Text gekommen sei. Und er werde seinen beiden Motiven Pflegeberufe und Generationenkonflikt nicht gerecht. De Weck bemängelte, dass alles auserzählt werde, die Sprache nur eine Ebene habe. Sanyal widersprach, aus ihrer Sicht war die Sprache nur scheinbar einfach: Es werde durchgespielt, wie eine einzelne Person mit der Situation umgehe.

Von Jurzcok kam als Nächstes “Das Katangakreuz”, eine konventionell erzählte Geschichte über ein Elternpaar aus der Sicht ihres Sohnes: Der Vater sammelt und bestimmt Münzen, doch sobald die Mutter eine Rolle spielt, wird klar, dass es um ihre typische unerzählte Geschichte geht.

Delius hob den scheinbar drögen Einstieg hervor, sah dann Heimatsuche, das Motiv Tausch, den Versuch des Sohns, seinen Vater zu fassen – doch dann die eigentliche Geschichte der Mutter. Sie fand “extrem interessant” mit welchen Mitteln der Text der Geschichte der Frau Raum gab. Raum nahm de Weck auf, ihr fehlte aber die Haltung des Kindes zu diesen Eltern. Sanyal sah die Perspektive des Kindes widergegeben, sah einen übermächtigen Vater, hinter dem ein zerbrechlicher Mann stehe, fand das elegant gemacht. Auch für Strässle steuerte der Text auf die Mutter zu; er erkannte typisch Schweizer Motive der Enge. Tingler kritisierte, dass viel zu viel expliziert werde, zu ausführlich geschildert, außerdem sei fragmentarische Erinnerung technisch ein wenig einfach. Schwens-Harrant wies auf Inkonsistenzen der Erzählweise hin: Mal sei es eine Kindersicht, dann wieder eine offensichtlich rückblickende. Kastberger fand den Text sprachlich sauber gearbeitet, aber auch, er habe zu wenig Raum gehabt, die vorgegebenen 25 Minuten nicht gut erfüllt; er wünschte sich mehr “erhellende Momente” wie die Autofahrt.

Mittagspause. Ich traf eine sehr spät angekommene Erst-Schlachtenbummlerin (die ich schon immer aus dem Internet kenne), die es am Vorabend wegen Bahnverspätung aus Berlin nur bis Salzburg geschafft hatte. Für meinen Mittagscappuccino ging ich unter überraschend blauem Himmel wenige hundert Meter Richtung Innenstadt; beim Zeittotschlagen am Vortag hatte ich die eine oder andere Stelle gesehen, die nach schnellen Cappuccino im Stehen aussah. Bekam einen, der ok schmeckte.

Für den Nachmittag setzte ich mich auf die andere Seite ins Publikum, die beiden anderen Frauen aus dem Internet, die ich kannte, neben mir.

Zuschauerbereich eines kleinen TV-Studios, an der Wand gezeichnete Portraits vor rotem Hintergrund

Studio-Deko sind diesmal Portraits aller Bachmannpreis-Gewinner*innen. Zwei davon kenne ich, Kathrin Passig hätte ich ohne Beschriftung allerdings nicht erkannt.

Zeichnung eines Frauenkopfs vor rotem Hintergrund, am oberen Rand "2006" unter der Zeichnung "Kathrin Passig"

Zeichnung eines Männerkopfs vor rotem Hintergrund, am oberen Rand "2014" unter der Zeichnung "Tex Rubinowitz"

Tijan Sila las seinen Text “Der Tag, an dem meine Mutter verrückt wurde”, in dem es genau darum ging: Wie seine Mutter, mit der und seinem Vater er vor “dem Krieg” geflohen war, kippt in Verfolgungswahn. Eine bedrückende und gleichzeitig lakonische Erzählung.

Kastberger wies gleich auf die Parallelen zum Text vor der Pause hin. Er lobte, wie hier überzeugend auf den Moment des Titels hingearbeitet werde. Hier fand er das 25-Minuten-Format hervorragend genutzt. Sanyal war “extrem beeindruckt”, wie hier darüber geschrieben werde: “Der Krieg ist vorbei, aber er ist nicht vorbei.” Delius nahm sich wieder die Form vor, sah einen autofiktionalen Text mit einzigartiger Erzählökonomie, de Weck lobte ihn dafür, dass die psychische Erkrankung gerade nicht analysiert werde, sondern einfach geschildert. Schwens-Harrant mochte den täuschenden Charakter des Titels, denn tatsächlich gehe es um ganz andere Verrücktheiten und um den Wunsch, alles reparieren zu können. Strässler sprach von einem außerordentlich guten Text, mochte vor allem die darin auftauchenden Gleichnisse. Tingler wiederum lobte die realistsiche Ambivalenz, die den Protagonisten sogar kurz verführt, mit in den Wahnsinn der Eltern einzusteigen. Sanyal wies auf die eingearbeitete Migrationsgeschichte hin. (Kurzer Zank in der Jury, ob die verweigerte Anerkennung der Doktortitel beider Elternteile rassistisch sei oder nicht.)

Der erste Lesetag endete mit “Nylfrance” von Christine Koschmieder. Innerhalb weniger Sätze waren wir bei einer Frauenfigur in der westdeutschen Nachkriegszeit, die als Unternehmerin das personalisierte Wirtschaftswunder abgab. Mir gefielen Setting und Geschichte, die Zeitmarkierungen (Atrix-Werbung, Vertriebene, Gardinen, Quick) waren mir ein paar zu viel.

Strässler mochte die Generalmetapher des Titels und das historische Kolorit, kritisierte aber die Figur des Ehemanns Harry als adrettes Abziehbild; die Hauptfigur habe eine besseren Gegenspieler verdient. Sanyal begeisterte sich an der sinnlich nachvollziehbaren Zeitkapsel, sah Harry im Gegenteil als eben besondere Figur, die kein Krieger sein wolle. Sie unterstrich die Geschichte, die eben nicht die eigene sei. Kastberger fand sie handwerklich hervorragend gemacht und faktisch gut hinterlegt, erinnerte daran, dass die 50er und 60er heute ja gerne eine Patina der Fröhlichkeit bekämen. Tingler mochte vor allem den Anfang und wie er einen Bogen zum Ende spanne, fand sie aber manchmal zu konventionell. (Ich war fast erschrocken, dass ich Tingler gestern in fast allem zustimmte. Ist er kaputt oder bin ich es?) Schwens-Harrant lobte die Ambivalenz der Frauenfigur und dass sie nicht gewertet werde, unterstrich die “Verformungsbereitschaft” als Motiv für Charakter, Deutschland, Gesellschaft. Auch de Weck fand gut, dass die Frau hier nicht als Opfer der Männergesellschaft geschildert werde, sondern vielschichtig und mit durchaus dunklen Stellen. Delius verwendete für die Stimmung des Textes den Begriff “BRD noir”. Nicht erklären konnte sich die Jury, warum die Hauptfigur nun ihren Mann verließ.

Draußen regnete es inzwischen; ich stellte mich unter und frühstückte um drei meinen mitgebrachten Pumpernickel mit Frischkäse. In den letzten Tropfen spazierte ich zur Ferienwohnung. Schon vormittags hatte mich eine Nachricht der Vermieterin erreicht: Sie schickte mir Zugangsdaten zu einem anderen WLAN. Beim Eintreffen in meinem Zimmer konnte ich verifizieren: Das klappte, hurra.

Also verbloggte ich den Lesetag, hatte aber bis zur Abendessensverabredung (weil ja kein Bürgermeisterempfang auf Maria Loretto, buhuhu!) noch reichlich Zeit zum Zeitunglesen.

Mit meiner Verabredung ging ich dann ein Lokal suchen, das ihrer Lust auf Lamm entgegen kam. Den Tipp dafür bekamen wir vom Wirt einer Osteria: Als wir vor der Tafel seiner Tageskarte standen, wies er darauf hin, dass er noch viele weitere Gerichte biete. Ich fragte nach Lamm: Das hatte er nicht, beriet sich aber mit einer Kollegin – und schickte uns zum Restaurant Oscar inklusive detaillierter Wegbeschreibung, ganz bezaubernd. Wir gingen ein paar Minuten unter vielstimmigem Mauersegler-Schrillen, und mir fiel wie heuer immer wieder auf, wie viele vielspurige Straßen man in Klagenfurt ständig kreuzt: Die Stadt ist so deutlich auf Autoverkehr ausgerichtet wie kaum eine.

Am empfohlenen Restaurant Oscar setzten wir uns auf die Außenterrasse und aßen ganz ausgezeichnet.

Weiß gedeckter Restauranttisch, darauf zwei weiße tiefe Teller, darin grüner Salat mit hellen Würfelchen und ein Ei in einer Kruste, außerdem Bestecl, eine kleine Etagere, ein Rotweinglas

Wir begannen beide mit dem Vogerlsalat, Speck, Kartoffeln, Kürbiskern, Landei: Hervorragend, das Ei in einer Brösel-Kräuter-Kruste gebacken. Davor hatte es schon frische Semmerl mit Butter und Salami gegeben. Dazu ließ ich mir einen Blaufränkisch aus dem Burgenland einschenken, hervorragend.

Gedeckter Restauranttisch, im Vordergrund ein Teller mit einer Fleischrolle auf Salat, im Hintergrund eine Fleischspeise mit dunkler Sauce

Gegenüber wurde mit Genuss das ersehnte Lamm gegessen, ich hatte mich für das Ochsen-Paillard auf gerührter weißer Polenta entschieden, ebenfalls ausgezeichnet – ein weiteres Achtel Blaufränkisch dazu. Die Begleitung bestellte noch Topfenknödel zum Dessert und Digestiv. Ich freute mich über diese Restaurant-Entdeckung für die Zukunft.

Spät, es war schon ganz dunkel, spazierten wir in wenig nächtlicher Frische in unsere respektiven Unterkünfte.

§

Sterben kann nicht so schlimm sein, sonst dadn’s net so viele machn.

Das ist nicht aus dem Text von Haidacher, sondern vom wunderbaren Fredl Fesl. Der jetzt gestorben ist. Er fehlt.
(Eine Bemerkung auf Mastodon erinnerte mich daran, dass die allererste Kassette in meiner Familie mit seiner ersten LP bespielt war und entsprechend oft gehört wurde. “Für Geld, da kann man Vieles kaufen, auch Leute, die dem Ball nachlaufen.”)

Journal Montag, 24. Juni 2024 – Ulrike Draesner, Die Verwandelten / Lerchenlauf

Dienstag, 25. Juni 2024

Ich war fast erschlagen von einem Kunstwerk dieser Dichte – das gleichzeitig eine Geschichte, mehrere Geschichten so spannend erzählt, dass ich an jedem Punkt wissen wollte, wie sie weitergehen. Und dass ich traurig war, dass ich das Ende von einigen nicht erfuhr. Wie halt im echten Leben (“was ist eigentlich aus Adele geworden?”).

Der Roman erzählt von verschiedenen Frauen, aber nicht linear; wir lernen sie kennen, wie man auch im Leben echte Menschen kennenlernt, ausschnittweise. Das ist ein realistischer Effekt einer eher nicht-realistischen Erzählweise. Wir lernen unter anderem kennen: In der Gegenwart eine deutsche Anwältin mit einem Adoptivkind, eine polnische Auswanderin und ihre Mutter in Breslau. In der Vergangenheit der 1930er bis weit in die 1940er: Eine deutsche Familie in Breslau, ihre Köchin, die Kinder von beiden.

Die erste Hälfte des Romans spielt vor allem in der Gegenwart in Deutschland und in Polen – immer wieder werden deutsche geflügelte Worte mit ihren polnischen Pendants abgeglichen. Die Kapitel und ihre Figuren werfen aber bereits Geschichts-Angeln aus in die Vergangheit während und nach dem Zweiten Weltkrieg. Größere Kapitel beginnen schon hier von Verstrickungen zu erzählen, die sich um einen Lebensborn-Standort ergaben.

In der zweiten Hälfte ist Krieg in Breslau, endet der Krieg, beginnt die direkte Nachkriegszeit – und die vorher poetisch angedeuteten Grauen brechen herein.

Ganze Kapitel beschreiben die letzten Tage von Breslau und die Flucht einiger Protagonistinnen vor den heranrückenden russischen Soldaten, in expressionistischen Eindrucks- und Gedankenfragmenten.

Viele dieser Fragmente bekommen erst im weiteren Erzähl- und Gedankenverlauf einen begreifbaren Kontext. Und selbst dann bleiben Unscharfes und Vages, gibt es wenig Schwarz-Weiß.

Jedes Kapitel des Romans wird mit einem Stück eingeleitet, das eher Gedichte ist (im ebook auch Grafik, nicht Text); die Striche darin erinnerten mich an eines der frühen Kapitel, in dem Frauen gemeinsam eine Tischdecke besticken: Die Länge der Stiche ein Bild für die Gewalt, die ihnen angetan wurde.

Draesner greift zu nicht-realistischem Erzählen für das Unerzählbare. Ich fühlte mich erinnert an Kurt Vonneguts Slaughterhouse Five, das für das Erzählen der Grauen von Dresdens Zerstörung ebenfalls zu nicht-realistischen Mitteln greift, wenn auch ganz anderen. Wichtig: Draesners Roman besteht nur aus Geschichten von Frauen, alles hat weibliche Perspektive, es gibt nur den weiblichen Blick.

In seiner Besprechung für die Süddeutsche analysiert Burkhard Müller, “Ulrike Draesner will das Schweigen von Frauen hörbar machen”. Das trifft es meiner Meinung nach sehr gut (in anderen Aspekten stimme ich ihm nicht zu).

Die schönsten, lebendigsten Bilder und Vergleiche aber gehören den Kapiteln, die in der Gegenwart spielen – in denen Draesner sich mehr erlauben kann vor einem zeitgenössischen Lesepublikum. Zum Beispiel in den Gedanken der polnische Auswanderin nach Deutschland Doro, die nach Langem wieder in Polen ist, in Warschau:

…während ich mich ins Polnische zurückstottere. Hybridautos schalten unmerklich um, mein Hirn hingegen, menschhybride, glich einem handbetriebenen Glockenspiel.

Gegen Ende erklärt sich der Titel des Romans: Ovids Metamorphosen tauchen auf, Doros Mutter hatte ihr als junges Mädchen das Buch mitgebracht.

Erst später entdeckte ich, dass der römische Autor in seinen Metamorphosen fast fünfzig Mal von einer Vergewaltigung erzählte.

Für mich eine Überraschung: Wie viele Saiten dieses Buch in mir anschlug, Saiten, die ich mir nur gespannt von meiner polnischen Großmutter erklären kann. (Draesners Vergleichkunst lädt zur Forführung ein.)

Lese-Empfehlung an alle, die mit Anstrengung bei Lektüre zurechtkommen, sowohl kognitiv als auch emotional.

§

Guter Schlaf bis kurz nach vier, als mich Angst nicht wieder ganz einschlafen ließ. Egal, ich hatte den Wecker eh sehr früh gestellt: Ich wollte hinaus auf einen Isarlauf, sonst würde ich wohl die ganze Woche nicht zu Sport kommen.

Ich verließ das Haus in einen herrlicher Morgen, doch schon nach kurzer Zeit bekam ich Bauchweh, meine Därme begannen Samba zu tanzen. So war ich sehr, sehr froh um das schicke Klohäusl bei Maria Einsiedel, das ich ansteuern konnte. Den Rückweg lief ich umso leichter.

Blick von Brücke aus Fluss, über dem die Sonne aufgeht

Ein Metallsteg ragt in einen Fluss hinein, über den Auen geht die Sonne auf

Blick von der Marienklausenbrücke Richtung Thalkirchen.

Fusslandschaft in goldener Morgensonne, rechts eine Hütte mit Grafitti bemalt

Über ein Steggelände Blick auf Flusslandschaft mit Kiesbänken in goldener Morgensonne

Holzsteg, rechts davon schäumendes Flusswasser

Gestern schäumte die Isar wieder mehr.

Pfad durch sonnendurchfluteten Laubwald

Allerdings kam ich durch diese Verzögerung deutlich später los in die Arbeit als geplant, weiterhin in herrlichstem Wetter. Im Büro schob sich erstmal die Technik in den Vordergrund, ich versuchte zwischen einem halben Dutzend erzwungener Neustarts die wichtigsten Infos zu erhaschen, weiterzugeben, an Online-Besprechungen teilzunehmen. Verfangerles-Gefühl. Den Rest des Arbeitstages klickte ich die Update-Versuche weg, zum Glück ging das (habe auch schon Anderes erlebt).

Mittagscappuccino bei Nachbars, allein die paar Schritte durch Sonne und Wind waren herrlich – echt kein Wetter zum Arbeiten. Ich roch, dass manche Linden in die Nachblühzeit gingen.

Mittagessen: Zwei wunderbare Kiwis (warum esse ich eigentlich so selten Kiwis? ach ja, weil ich sie im Verkauf nur knallhart antreffe), Hüttenkäse mit Leinsamenschrot.

Mit Kollegin “gebremste Mode” erfunden (slowed down fashion?): Wenn man den 50-Euro-Rock von Zara zehn Sommer lang trägt, inklusive einmal Ändernlassen.

Nach Feierabend war es immer noch sonnig und immer noch nicht heiß. Über Edeka-Einkäufe nach Hause.

Dort Gymnastik, Brotzeitvorbereitung, Erbeerschnippeln, Kopfsalat-Anmachen. Zu Letzterem hatte Herr Kaltmamsell spanische Tortillas aus Ernteanteil-Kartoffeln gebraten. Nachtisch Erdbeeren, dann Schokolade.

Im Bett fing ich neue Lektüre an: Dana von Suffrin, Otto.

Und hier lasse ich Sie an meiner Reiseplanung für Klagenfurt teilnehmen, genauer an der Bekleidungsplanung basierend auf Wettervorhersage (jedes Kleidungsstück, das ich ungetragen zurückbringe, ärgert mich).
Fahrten hin und zurück: Neues Kleid 2, weiße Jeansjacke
Donnerstag: blaue Hose, Tunika – abends neues Kleid 1 mit dunkelblauer Seidenjacke
Freitag: Neues Kleid 1
Samstag: Weiße Hose, gelbe Tunika
Schuhe: Sandalen weiß, Sandalen rot
(Turnschuhe? Socken?)
Laufkleidung
Badesachen
Schirm

Mittlerweile befasst sich auch der wenig steuerbare Teil meines Hirns mit dem anstehenden Bachmannpreislesen, zum Beispiel während des gestrigen Isarlaufs. Ob wohl wieder der eine Testosteron-Text dabei ist? Wird sich die Markt-Strömung Autofiktion niederschlagen? Auf der Website ist schonmal zu sehen, dass die diesjährige Tasche hell ist: Das kommt mir entgegen, zum einen weil meine graue Tasche von 2023 nach zahlreichen Einsätzen auf Reisen recht durch aussieht, zum anderen weil mir eine helle Transporttasche im Bestand fehlt. Vier der Jury-Mitglieder kenne ich schon, drei sind mir neu (eine davon, Mithu Sanyal – “Studium: nahezu alle Fächer der philosophischen Fakultät” – schreibt auch fürs Missy Magazine; ich hoffe auf massives Gegenhalten zu den angestrengten Zickereien von Philipp Tingler).

§

Die Deutsche Bahn hat’s in die New York Times geschafft!
“In Germany, a Tournament Runs Smoothly, but the Trains Do Not”.

§

Falk Steiner schreibt über Online-Shops mit ausgefallenem Sortiment. Für den Fall, dass Sie eine Insel oder ein Unternehmen shoppen wollen:
“Missing Link: Wie skurrile Marktplätze immer noch überleben”.
Den Kalauer mit “Lokangebot” konnte Falk natürlich nicht liegenlassen, ist ja auch nur ein Mensch.
(Wobei ich Crowdfarming oder Kauf-ne-Kuh überhaupt nicht skurril finde.)

Journal Donnerstag, 20. Juni 2024 – Erster Balkonkaffee

Freitag, 21. Juni 2024

Wieder gut geschlafen und kurz vor Weckerklingeln aufgewacht – das ist gerade angenehme Regelmäßigkeit, und ich genieße es sehr (Hormonersatztherapie FTW!). Auch wenn ich ein-, zweimal nachts aufwache, ist das nicht das typische Wechseljahr-ZACK!-KNALLWACH!, sondern langsames Hochrutschen in Schläfrigkeit.

Der Himmel war bedeckt und trübe, doch beim Auffüllen des Wasserschälchens für die Vögel stellte ich sehr milde Temperaturen fest: Endlich der erste Balkonkaffee des Jahres.

Holztisch auf Balkon, darauf zugeklappter Laptop, Kaffeetasse, Wasserglas, jenseits der Brüstung grüne Bäume

Emsiger Bürovormittag.
Mittagscappuccino bei Nachbars, es war weiter warm und bedeckt.
Später gab es zu Mittag Mango mit Sojajoghurt.

Geordneter Arbeitsnachmittag, doch es wollte sich einfach keine Munterkeit einstellen. Statt dessen immer düsterere innere Wolken.

Auf dem Heimweg Abstecher in einen dm-Markt: Bereits der zweite, in dem der Regalplatz für Wasserfilter leer stand. (Das wies in der Vergangenheit gerne mal auf ein neues Produkt- oder Verpackungsdesign hin, für das erstmal der Vorgänger gründlich wegverkauft sein sollte.)

Daheim gönnte ich mir nach Wäscheaufhängen eine Runde Gymnastik. Die Kombination aus Kräftigung, Mobilisierung und Dehnung tat gut, hellte mich aber nicht wirklich auf. Donnerstags-Nachtmahl Salat: Vinaigrette auf Zitronensaft-Basis für einen unerwartet kleinen Blattsalat, die erste Gurke der Saison, Frühlingszwiebeln – alles drei aus Ernteanteil, dazu gekochte Eier, restlicher Feta, Reste Wurzelbrot.

Große weiße Salatschlüssel mit den im Text aufgezählten Zutaten

Mittelfrüh ins Bett zum Lesen, der Himmel des Mittsommerabends noch ganz hell. Ulrike Draegers Roman Die Verwandelten beeindruckt mich weiterhin sehr mit seiner nicht-realistischen Erzähltechnik, doch auch mit ausgefeilten expressionistischen Mitteln sind die Themen sexualisierte Gewalt gegen Frauen, Ende des Zweiten Weltkriegs und Vertreibung aus Breslau kein Laune-Aufmunterer.

§

Constantin Seibt schreibt in republik.ch:
“Ein Kind meiner Zeit”.

Darum geht es:

Als Kind entdeckte ich die Frage meines Lebens: Was zum Teufel übersehen alle? Ein halbes Jahrhundert später fand ich die Antwort.

Ich finde den Text so schön aufgebaut, dass ich nichts durch Zitate vorwegnehmen möchte.
tl;dr Wir haben’s verkackt.

§

Ich begreife gerade mal so, was Large Language Models und Machine Learning sind, nicht mal genug, dass ich es jemand anderem erklären könnte. Wenn also ich geifere, man möge nicht von Künstliche Intelligenz sprechen, wenn es sich schlicht um ein besonders schnelles, Daten verarbeitendes Computerprogramm handelt – dann mögen Sie abwinken.

Hier aber geifert sehr detailliert und ausufernd ein Data Scientist:
“I Will Fucking Piledrive You If You Mention AI Again”.
via @chronotonflux

Look at us, resplendent in our pauper’s robes, stitched from corpulent greed and breathless credulity, spending half of the planet’s engineering efforts to add chatbot support to every application under the sun when half of the industry hasn’t worked out how to test database backups regularly.

(In der 2. Hälfte des Blogposts gibt’s auch Konstruktiveres über generative AI.)

§

Unser Kartoffelkombinat (am Sonntag übrigens Mitgliederversammlung) war im ZDF-Mittagsmagazin.
“Kartoffelkombinat aus München”.
So viel hübsches Gemüse!

Journal Freitag, 31. Mai 2024 – Kalter Dauerregen für den letzten Urlaubstag

Samstag, 1. Juni 2024

In der Nacht und am Morgen aufgewacht zum angekündigten Regenrauschen, bis auf Weiteres ist hier und in den meisten anderen Teilen Deutschlands Sauwetter inklusive Überschwemmungsgefahr, offizielle Bezeichnung “Dauerregen”. Bis zum Abend begann mich bereits das Geräusch zu nerven.

In der Nacht hatte ich einen interessanten Traum: In einer alternative history/biography lebte ich in Ingolstadt, und das Unternehmen Audi hatte sich Ende der 1970er nicht entschieden, auf das Premium-Segment des Pkw-Marktes zu zielen, sondern für etwas Vernünftiges, Gesellschaftsförderliches. Dann war ich allerdings bereits so wach, dass ich nachdachte, was das wohl gewesen sein könnte. Meine Träume haben NIVEAU!
Außerdem holte ich mir eine zweite Decke, nur mit Sommerbett fror ich bei offenem Fenster.

Eigentlich war gestern St. Brück, für mich allerdings vorerst letzter Urlaubstag. Ich plante eine Schwimmrunde, ging vorher aber unterm großen Schirm Einkaufen zum Vollcorner fürs Wochenende und das Bekochen von zwei Freunden am Samstagabend. Ein seltener Großeinkauf, sonst besorge ich ja immer nur Lebensmittel für ein, zwei Tage für zwei, mein Rucksack benötigte alle Kapazitäten, und ich schleppte zusätzlich eine volle Stofftasche.

Die Temperatur schaffte es gestern nicht über 11 Grad, beim Einkaufen begegnete ich Menschen in Wollmütze und Handschuhen.

Zum Olympiabad nahm ich die U-Bahn im Kapuzenmantel, es regnete gerade nur mittelstark. Das Bad war im Sommerbetrieb, das Wasser nicht mehr so sehr geheizt wie im Winter – und zum ersten Mal seit vielen Monaten fröstelte ich ab der Hälfte meiner 3.000 Meter. Künftig Schwimmen also im wärmeren Dantebad, egal bei welchem Wetter. Mein Körper machte gut mit, gegen Ende fühlte ich mich aber überraschend ausgepowert.

Frühstück um halb drei: Apfel, Kürbiskernsemmeln mit Butter und Marmelade. Die zweite geplante Einkaufsrunde (Viktualienmarkt und Obststandl) erübrigte sich: Das hatte alles schon Herr Kaltmamsell besorgt. Also las ich weiter Zeitung und Internet, stellte die Lieblings-Microblogposts zusammen, schaute ein bisschen in den Regen und auf die Knospen der Lindenblüten, die sich hoffentlich zum Duften nach dem Regen öffnen. Nochmal die Pilatesfolge vom Vortag, weil sie meinem Kreuz gar so gut getan hatte.

Für die Samstagabend-Einladung war die Maibowle bereits angesetzt: Ich hatte ein Bündel Waldmeister aus dem Garten meiner Eltern eingefroren und stellte jetzt durch Riechen und Recherche fest, dass das Einfrieren sogar das 24-stündige Welken ersetzt. Der aufgetaute Waldmeister füllte die ganze Wohnung mit seinem Duft, wir aromatisierten damit schon mal den Weißwein.

Nachtisch für Samstagabend zubereitet, dann mixte ich uns als Freitagabend-Drinks Manhattan perfects, während Herr Kaltmamsell das von mir gewünschte Nachtmahl kochte:

Gedeckter Tisch, im Vordergrund ein tiefer weißer Teller, darin Linsen mit Blattspinat vermischt, darüber schmelzende Stücke Ziegenkäse, vor dem Teller ein Glas mit goldenem Weißwein

Linsen mit Spinat und Ziegenkäse nach einem Rezept aus dem Guardian. Herr Kaltmamsell mokierte sich ein wenig über die Simpelheit des Rezepts (ist halt spanische Küche), doch es schmeckte wirklich gut. Den Sherryessig dafür hatte er übrigens in der Feinkostabteilung des Karstadts am Marienplatz erjagt.

Dazu öffnete ich einen Riesling Deidesheimer Gottesacker 2016 von Buhl: In der Nase gereifter Riesling, im Mund aber zunächst brutal sauer. Letzteres gab sich mit einer halben Stunde Luft, doch so richtig rund schmeckte er nicht.

Nachtisch Erdbeeren, dann Schokolade.

Kampf gegen eine mögliche Attacke Lippenherpes: Ich hatte mich während der Berlin-Tage immer wieder kurz krank gefühlt, aber beschlossen, dass mir das jetzt echt nicht reinpasste. Vielleicht sagt der Infekt: Na gut, wenn ich nicht ganz ausbrechen darf, dann zumindest nach gut zwei Jahren Pause mal wieder Lippenherpes. Deshalb habe ich Aciclovir o. Ä. immer in der Hausapotheke, in der Büro-Schublade und in meinen beiden wichtigsten Taschen. Zumindest beim Zu-Bett-Gehen (begleitet von heftigem Regenprasseln) war kein Bläschen ausgebrochen.

§

Buchhändlerin Alex Bachler hat ein Schaufenster mit Ladenhütern gestaltet und erklärt, was es damit auf sich hat: Ein Einblick in die Abläufe des Buchverkaufens.
“Babies als Ladenhüter”.

§

Warum die neue Google-Suche mit Text1 als Suchergebnis statt Links Google massiv schaden könnte:
“Google AI fails the taste test”.

Stark verkürzte Zusammenfassung auf Deutsch: Weil die Fehler, siehe Post vom 30.5., jetzt alle Google zugeschrieben werden, nicht mehr den verlinkten Websites, auf denen sie möglicherweise auftauchen.

§

Aber ja bin ich mit dem Schlager “Theo, wir fahr’n nach Lodz” aufgewachsen! Seit gestern kenne ich seinen unvermuteten Hintergrund:
“Schlager mit bewegter Geschichte”.

via @sinnundverstand

  1. Bitte nennen Sie die dahinter liegende Berechnung nicht KI. []

Journal Pfingstmontag, 20. Mai 2024 – Sonnige Maienwanderung nach Aying

Dienstag, 21. Mai 2024

Guter und langer Schlaf.

Eines der seltenen Male, dass mir Bloggen die Tagespläne durchkreuzt: Bis ich nach Spülmaschine-Ausräumen und Wäsche-Aufhängen den ausführlichen und viel bebilderten Blogpost fertiggestellt hatte, waren zwei Stunden vergangenen, es blieb keine Zeit mehr für die geplante Gymnastik vor Wanderung.

Denn wandern wollte ich in diesem herrlich sonnigen, aber bei Weitem nicht heißen Maienwetter mit Herrn Kaltmamsell von Kirchseeon nach Aying, das hatten wir schon ein paar Mal gemacht.

Anfahrt mit einmal Umsteigen in Trudering, an diesem Wochenende war wieder S-Bahn-Stammstrecke für den Bau der zweiten solchen gesperrt.

Weg in hohem Laubwald, durch den Sonne leuchtet

Von Kirchseeon aus bogen wir gegen zwölf gleich mal in wundervollen Wald. Doch bald stellten wir fest, dass wir schon hier falsch abgebogen sein mussten, wir waren nicht mehr auf dem GPS-markierten Weg. Nun gut, die ursprüngliche Wanderung aus dem Büchlein Wandern mit dem MVV hatte ja nie durchgehend geklappt, vor Schlacht mussten wir immer auf Straßen ausweichen. Herr Kaltmamsell lotste uns also in einem Bogen nach Moosach, dann folgten wir eine Weile der gewohnten Route, umgingen aber das Straßenstück weiträumig im Wald.

In einem sehr feuchten Waldstück war ich froh drum, dass seit einer besonders vermückten Wanderung das Schnackenschutzspray in meinem Wanderrucksack wohnt: Nach einer ersten Attacke besprühte ich mich damit rundum, bis ich glänzte – Schluss mit Stecherei.

Am Himmel immer wieder Bussarde, Milane, Falken. Auf dem Boden Kühe, ein Schaf.

Blauer Himmel über soniger Landschaft mit schmalem asphaltiertem Weg

Schöne, sonnige Landschaft mit Brise.

Wanderer von hinten, der auf einem schmalen Pfad durch eine schattige Wiese geht, davor ein sonniges Stück, dahinter Wald

Waldwege auch mal schmal.

Dorf aus Häusern mit roten Dächern unter knallblauem Himmel

Niederseeon.

Wald mit Wladweg, der eine einzige riesige Pfütze ist, links Wanderer

Manchmal kamen wir auch an unpassierbare Wege, schließlich hatte es in den vergangenen Tagen mehrfach geregnet. Nach zweieinhalb Stunden wollte ich Brotzeitpause machen, doch das einzige Bankerl, an dem wir vorbeikamen, war bereits besetzt – und die Herrschaften sahen aus, als hätten sie es sich gerade erst richtig gemütlich gemacht. Es wurden also drei Stunden und drei Uhr, bis wir in Kastenseeon an der Straße eine schattige Sitzgelegenheit fanden. Ich aß einen Apfel (aus Ernteanteil ein Granny Smith aus heimischem Bio-Anbau – ich war überrascht, dass die bei uns angebaut werden, und dann auch noch schmecken) und eine Breze – wollte nicht zu viel essen, um meinen Appetit beim abschließenden Einkehren zu erhalten.

Der gewohnte Weg von Lindach nach Aying war energisch gesperrt: Er sei wegen Wiederherstellungsarbeiten unpassierbar. Da wir dieses Stück durch den Wald gut kennen, beschlossen wir ihn dennoch zu gehen: Bei Unpassierbarkiet würden wir einfach in den Wald ausweichen. Doch der gesamte Weg war frei und fertig wiederhergestellt, keine Spur von Arbeiten; vielleicht hatte man vergessen, die Sperrung aufzuheben.

Straße, die zwischen Hecken auf eine Zwiebelturmkirche zuführt, rechts ein moderner Brauereiturm

Ankunft in Aying. Der Biergarten war auch kurz vor fünf gut besucht. Gestern sah das Brotzeitbrettl so aus.

Auf einem Tisch ein Holzbrett mit Wurst, auf beiden Seiten kleine weiße Teller mit Brot

Da schon beim letzten Mal kein Presssack dabei gewesen war, bestellten wir diesen einzeln.

Viereckiger weißer Teller, auf dem strahlenförmig halbe Scheiben weißer und roter Presssack liegen

Zum Vergleich: Das Brotzeitbrettl im selben Lokal 2018:

Und 2021:

Reibungslose Heimfahrt, diesmal direkt bis Stachus. Daheim noch zum Nachtisch Schokolade.

Joseph Roth, Hiob ausgelesen – hat mir sehr gut gefallen, mehr folgt.

Journal Dienstag, 14. Mai 2024 – Didier Eribon, Sonja Finck (Übers.), Eine Arbeiterin

Mittwoch, 15. Mai 2024

Wieder eine gute Nacht, doch wieder endete sie in einer unangenehmen Angstphase.

Nochmal Sonnen-Power draußen, ich marschierte in kurzen Ärmeln in die Arbeit (eine Jacke wäre wirklich angenehm gewesen, doch ich war wieder zu faul zum Heimschleppen).

Die Lösung meines Problems mit der Handyzahl-App (VIMPay übrigens, mit der meine Bank, die Sparda, zusammenarbeitet), von der eine erforderliche und angeblich abgeschickte TAN nie eintraf, nicht bei Dutzenden Versuchen und über mehrere Tage: Ich hatte am Sonntag an die Service-Adresse geschrieben, die am Montag zurückschrieb, “richte die PushTAN-Verbindung bitte nochmals anhand der folgenden Anleitung ein”. Stellte sich heraus: Ich hatte diese Funktion nie eingerichtet. Und wie ich bei neuerlichem Aufruf der App herausfand, ist sie auch gar nicht erforderlich, jetzt gab es eine Möglichkeit, auch ohne weiterzukommen. UX-Hölle in Lehrbuch-Qualität.

Emsiger Vormittag, aber ich hatte Zeit für einen Mittagscappuccino im Westend.

Cappuccinotasse auf einem Holztresen vor einem Fenster, durch das man eine sonnenbeschienene Straße und ein altes Haus sieht

Zu Mittag gab es einen Kanten selbstgebackenes Brot und Mango mit Sojajoghurt.

Der Nachmittag war zäh, doch ich schaffte Dinge weg (und fand nicht heraus, wie ich für Outlook-Besprechungen Agenda und Protokolle in OneNote bastle, die nicht nur zu meinem persönlichen OneNote führen). Außerdem plagten mich Schwäche und Schwindel – wie ich aus meinem Blog weiß, bekomme ich den besonders häufig im Mai.

Nach Feierabend nahm ich eine U-Bahn in die Innenstadt, ließ mir bei einer Ärztin ein Rezept auf die Krankenkassenkarte laden, kaufte ein wenig im Kaufhaus ein und im Drogeriemarkt, kurz vor daheim noch Erdbeeren am Standl.

Ernteanteil war aufgegessen, Herr Kaltmamsell hatte Nachtmahl beim (deutschen) Traditionschinesen Shanghai am Stachus beschlossen. Da gingen wir hin.

Restauranttisch am Fenster im 1. Stock, draußen ein Schild "Chiina Restaurant Shanghai", drinnen am Tisch liest ein Mann die Speisekarte

Eine weiße Schüssel mit gebratenen Auberginenstücken, rechts davon eine Servierplatte mit Grünem Stengelgemüse

Oben ein weißer Teller mit Tofustückem in roter Sauce, unten eine Schalte Reis

Wir teilten uns Wasserspinat mit Knoblauch, Aubergine mit wenig Hack, Mapu Tofu – sehr schön unterschiedlich und aromatisch.

Zurück daheim gab es noch reichlich Erdbeeren und ein wenig Schokolade.

Im Bett begann ich neue Lektüre: Joseph Roth, Hiob.

§

Didier Eribon, Sonja Finck (Übers.), Eine Arbeiterin.
Didier Eribon schreibt über die letzte Lebensphase seiner Mutter, der titelgebenden Arbeiterin. Diesmal belustigte es mich beinahe, wie Eribon zutiefst menschliche und zwischenmenschliche Dinge mit den Werkzeugen der Soziologie analysiert (das tat er ja schon in Rückkehr nach Reims, hier besprochen). Zum Beispiel seine Schilderung, wie seine Eltern, die einander nicht ausstehen konnten, all die Jahrzehnte ihrer Ehe ein Bett teilten: Das sei halt durch ihre Zugehörigkeit zur Arbeiterklassen bedingt, in der Alternativen undenkbar gewesen seien. (PurzelchenCherie: Die Alternative ist in praktisch allen Klassen undenkbar.)

Aber auch so bewegte es mich zutiefst, wie seine Mutter am Umzug ins Pflegeheim zerbricht. Ebenso wie Eribon damit hadert, ob das durch einen Umzug in ein offeneres Wohnen für Alte ein paar Jahre zuvor hätte verhindert werden können, den seine Mutter im letzten Moment verweigerte. Eribon erkennt, wie müßig diese Frage ist, denn seine Mutter wollte halt einfach nicht.

So vieles läuft darauf hinaus, dass Menschen nun mal auch im hohen Alter und mit schwindender Kontrolle über ihren Körper immer noch eigenverantwortliche und mündige Menschen sind. Selbst wenn ihre eigenen Entscheidungen ihnen schaden. So kommt es oft zu tragischen Situationen, in denen nicht abzusehen ist, was größeren Schaden anrichtet: Der selbstverantwortliche Beschluss, allein in der eigenen Wohnung zu bleiben (auch wenn die Selbstversorgung nicht mal mit externer Pflegehilfe gesichtert werden kann, auch wenn jede Erkrankung, jeder Sturz schwerwiegende Folgen haben kann). Oder der Umzug ins Seniorenheim unter dem noch so liebevollen Druck der Anghörigen (“Es ist besser für dich.”), der mit Aufgabe der Selbstbestimmung einher geht, mit komplettem Wechsel von Alltag, Kontakten, Gewohnheiten – dem Verlust der eigenen Welt.

Und dem ultimativen Verlust von Zukunftsaussichten: Ohne Zukunft gibt es kaum ein Konzept von Selbstwirksamkeit, in einem Pflegeheim ist die Zukunft zu Ende.

Die Zeit ist stehen geblieben. Es ist kein auf die Zukunft gerichteter Entwurf mehr möglich, nicht einmal auf die unmittelbare Zukunft.

Wichtig ist in meinen Augen Eribons Hinweis darauf, dass den Pflegeheim-Bewohnenden die Möglichkeit zur Gruppenbildung, Solidarität, zum Protest gegen das System genommen ist, sollten sie mit den Umständen unzufrieden sein: Immobil und aus dem Bett heraus, ohne selbstbestimmte Kontakte lässt sich keine Revolte anzetteln. (Oder müssen wir uns auf den ersten über WhatsApp organisierten Aufstand der Patient*innen im Pflegeheim gefasst machen?) Eribon schildert, wie seine Mutter ihm und seinen Brüdern aus dem Pflegeheim-Bett Nachrichten auf den Anrufbeantworter sprach:

Meine Mutter weinte und beschwerte sich, aber sie konnte nicht für sich selbst sprechen, konnte sich kein Gehör verschaffen, zumindest nicht öffentlich. Ihre Klage gelangte nicht aus ihrem Zimmer nach außen.

(…)

Wie sollen alte Menschen, vor allem, wenn sie ihre körperlichen und manchmal auch einen Teil ihrer geistigen Fähigkeiten verloren haben, sich versammeln, sich als Gruppe mobilisieren, sich als “Wir” begreifen, und sei es nur, indem sie ihre Interessen an eine Gewerkschaft oder Partei deligieren?

Und doch stolperte ich über die soziologische Analyse der Verbindung Eribons mit seiner Mutter:

Man darf die sozialen Beziehungen – einschließlich der sich im Lauf der Zeit verändernden innerfamiliären Beziehungen – nicht psychologisieren, sondern muss sie im Kontext von Klassenverhältnissen betrachten.

Mir scheint dieser Satz unvollständig: Wenn man was erreichen/erkennen will? Oder es fehlt: Sonst…
Da ich weder Psychologin bin noch Soziologin, kann ich mir die feuilletonistische Ansicht leisten, dass eine Mischung von beiden Erklärungssystemen den größten Erkenntnisgewinn verspricht.
Kann es sein, dass Eribon seine Trauer soziologisieren möchte und dabei herzzerbrechend scheitert?

Doch Eribon knöpft sich auch seine eigenen philosophischen Lehrmeister*innen vor (u.a. Sartre) und weist ihnen nach, dass viele ihrer gesellschaftlichen Konzepte, gar Forderungen alte Menschen als Protagonist*innen ausschließen, mit alten Menschen vor Augen einfach nicht mehr funktionieren. Er beschließt sein Buch mit einem leidenschaftlichen Appell, greise Menschen nicht zu übersehen und denen eine Stimme zu leihen, die sich in ihrer letzten Lebensphase nicht mehr selbst Gehör verschaffen können.