Bücher

Journal Mittwoch, 1. November 2023 – Allerheiligen überm Tegernsee

Donnerstag, 2. November 2023

Yep, das war zu viel Alkohol am Vorabend gewesen, ich wachte trotz reichlich begleitendem Wasser mit Kopfweh und Kater auf. Und das wird wieder passieren: Wenn ich dann mal wirklich Lust auf Alkohol habe und die Gelegenheit, viele spannende Weine kennenzulernen, dann möchte ich das auch nutzen.

Für gestern hatten Herr Kaltmamsell und ich eine Wanderung geplant, weil erstens beide Zeit (das ist bei einem Vollzeit arbeitendem Lehrer an einem Feiertag nicht selbstverständlich), zweitens schönes Wetter angekündigt. Ausgesucht hatte ich den südlichen Tegernseer Höhenweg, weil der nicht allzu lang ist und wir ihn noch nicht im Herbst gegangen waren.

Wir nahmen einen Zug nach Tegernsee um elf, der sehr gut gefüllt war, manche mussten stehen. In Tegernsee ließen wir den Strom an Wanderer*innen vor, setzten uns erst noch auf einen Cappuccino in ein Café. Der tat mir wirklich gut: Nach starker Müdigkeit auf der Fahrt (der Kater) wurde ich jetzt munter. Die Landschaft war in diesem Licht und zu dieser Jahreszeit ein Genuss.

Blick nach Bad Wiessee und auf die Klinik, die mich nach der Hüft-TEP Reha-versorgt hatte.

Blick nach Rottach-Egern.

Eine Herde kleiner, sehr langzotteliger Rinder mit langen Hörnern, von denen einige die Hörner aneinander ausprobierten.

Kurz nach zwei Brotzeit in Rottach-Egern auf einem Bankerl an der Rottach: Ein Apfel und die Quarktasche, die ich frisch am Bahnhof gekauft hatte. Obwohl die erste Mahlzeit des Tages, war das zu viel gewesen, ich fühlte mich überfressen.

Gut zwölf Kilometer in gut drei Stunden.

Der Zug zurück nach München war schon 15 Minuten vor Abfahrt knallvoll, wir waren froh um bequeme und stabile Stehplätze. Doch ich hatte ja meine aktuelle Lektüre dabei, Achtsam morden von Karsten Dusse, und freute mich über die Gelegenheit, darin länger am Stück zu lesen. Ich bin immer noch ausgesprochen angetan, bei dieser Art Humor hätte man noch vor wenigen Jahren anerkennend gefragt: “Der ist doch bei Twitter!” Weil zumindest in meiner Timeline diese (vorgebliche) Weltsicht und Scherze typisch waren.

Daheim Häuslichkeiten und eine Runde Yoga-Gymnastik. Als Nachtmahl servierte Herr Kaltmamsell auf meinen Wunsch LINSEN, diesmal Beluga-Linsen mit Pasta.

Ganz köstlich. Nachtisch mit Herzen-Sterne-Brezen – die gehen ja nur in Dreier-Einheiten.

§

Mayim Bialik versucht zu vermitteln, wie sie sich als Jüdin seit dem 7. Oktober fühlt, wie sich wahrscheinlich sehr viele Juden in den USA (und auf der ganzen Welt) fühlen, die erleben müssen, dass nach dem Hamas-Massaker Tausende Menschen in ihrer Heimat und an ihren Heimat-Universitäten die Auslöschung des jüdischen Volks fordern. Ich mag mir nicht ansatzweise vorstellen, wie das ist.
Hier ihr Video auf instagram.

via @eliyahhavemann

Vom Gastgeben

Sonntag, 29. Oktober 2023

Angestoßen hat das Erinnern an mein Gastgeben der Roman Kochen im falschen Jahrhundert von Teresa Präauer. Darin hat ein Hetero-Paar jenseits der 40 in einer österreichischen Großstadt zum ersten Mal Gäste zum Abendessen. Das wird in mehreren Versionen erzählt, in einer Mischung von personalem und auktorialem Erzähler, mit unterschiedlicher zeitlicher Abfolge. Immer wieder fragt diese Erzählstimme “Erinnerst du dich daran” – und das mag mein Erinnern ausgelöst haben.

Die Gäste des Romans bleiben in allen Versionen gleich, das sind immer ein Ehepaar mit recht frischem Baby und ein Schweizer Freund. Es wird schnell klar: Das soll keine realistische Schilderung sein, sondern ein Sittengemälde mit bestimmten gesellschaftlichen Typen (es gibt keine einzige wirklich charakterisierte Figur, sie haben nicht einmal Namen). Das allerdings in meinen Augen nur offene Türen einrennt, die Instagramisierung des Lebens samt Hashtags, zeitgenössische Distinktion mit Statussymbolen und Markennamen etc. etc. (Warum sich die Gastgeberin “im falschen Jahrhundert” dabei fühlt, wurde mir allerdings nicht klar, dazu hätte sie eine Persönlichkeit gebraucht.) Daniela Strigl nennt den Roman in der FAZ “ein Stück Popliteratur und dessen satirische Verfremdung”, damit trifft sie am ehesten.

Doch selbst für Freude an der Satire muss ich die Prämissen nachvollziehen können, muss ich einen Bezug zum Satirisierten haben. Der fehlt mir in diesem Fall völlig, ich kenne die Umstände, die verzerrt werden, nur aus zweiter Hand, nämlich aus der Fiktion und aus Feuilleton-Essays darüber. Möglicherweise erklärt sich eine Minderheit, die zufällig besonders häufig Was Mit Medien arbeitet, für repräsentativ – und ist es in Wirklichkeit gar nicht?

Das beginnt mit dem Umstand, dass jemand jenseits der 40 zum ersten Mal Abendessensgäste hat, das erwähnte ich bereits. Oder die Haltung: Den guten Crémant trinkt das einladende Paar voher selbst, die Gäste bekommen den aus dem Supermarkt.

Auf die Gefahr, kitschig zu klingen (ich gehöre zu den von Max Scharnigg geschmähten Münchner Hausmeisterinnen, unten im Text): Ich kenne das halt anders herum. Wenn man etwas besonders Gutes hat, lädt man sich dazu Gäste ein, eine besonders edle Flasche oder aus dem Urlaub mitgebrachte, ferne Spezialitäten lässt man Freunde mitkosten. So kenne ich es von daheim, so kennt es Herr Kaltmamsell.

Hier also mein Gastgeben – das sich sicher ebenso satirisieren lässt, nur kommen darin keine für den Pop-Roman so essenziellen Markennamen vor.

Zum Attrakivsten an der eigenen Wohnung gehörte bei meinem Auszug aus dem Elternhaus mit 19 Jahren: Leute einladen zu können.

Unter anderem lud ich schon als Volontärin die drei Kolleg*innen und den Chef der Lokalredaktion in die mitbenutzte Wohnküche meine Dachkämmerchens in Eichstätt ein. Ich kochte zum ersten Mal selbst spanischen Cocido und erinnere mich vage an ein furchtbares Gemetzel mit dem gekochten Huhn, da ich a) noch keine Geflügelschere besaß und b) sehr wahrscheinlich noch nie Geflügel zerteilt hatte.

Es kamen ja alle auf meine Einladung – wie hätte ich denn herausfinden sollen, dass daran irgendwas nicht angemessen war? Wie überhaupt praktisch immer fast alle kamen, die ich einlud. Rückblickend wird mir klar, wie unkonventionell so manche meiner Einladungen gewesen sein muss. Doch dann geriet ich mit 25 Jahren auch noch an einen Partner (den heutigen Herrn Kaltmamsell), der mich darin unterstützte und eine ähnliche Auffassung vom Gastgeben hat. Auch lernte ich sehr spät, dass es unter Erwachsenen wohl eine Gesamtrechnung an Einladung und Gegen-Einladung gab, die zumindest mittelfristig ausgeglichen sein musste, sonst schlechtes Benehmen. Ich wäre nie auf die Idee gekommen, dass meine Gäste von einer Verpflichtung zur Gegeneinladung ausgehen könnten. (Dass ich auch in vieler anderer Hinsicht überhaupt kein Gespür für Menschliches habe, wurde mir erst Jahrzehnte später klar.)

Selbst rückblickend irrelevant waren solche Mechanismen zu Studienzeiten: Ich lud immer wieder Freunde und Freundinnen zu mir zum Essen ein – bei welcher Gelegenheit hätte ich sonst spannende neue Rezepte ausprobieren sollen? Oder mich mal an einen ganzen großen frischen Fisch wagen? (Den man mir am Augsburger Stadtmarkt ungeschuppt verkauft hatte, was ich erst nach dem Garen merkte, es war ein sehr fieseliges und anstrengendes Essen.)

Dazu kamen ausgedehnte und reichhaltige Frühstücke, Essenkochen für und mit Übernachtungsbesuch, Partys. Ich lehnte jedes Angebot ab, Speisen beizusteuern – war das doch wieder eine Gelegenheit, ganz Vieles auszuprobieren oder thematische Buffets zu gestalten, ich erinnere mich an ein rotes Buffet zum Roten Fest und an eines, für das ich ein neu erworbenes israelisches Kochbuch durchkochte. Zu anderer Leut’ Partys brachte ich aber gerne etwas mit, wenn gewünscht.

Und zwischendurch zum Geburtstag open house, das ich einmal wegen akuten Geldmangels mit großen Mengen frisch gekochter Maiskolben bestritt – es wurden alle satt. Wie ich ohnehin seit Auszug von Elterns meine Vorratshaltung in erster Linie daran bemaß, dass ich vier Überraschungsgäste damit satt bekam. Inklusive Wein und Saft.

Meine wilde Studienzeit (war überhaupt nicht wild und) fand nicht in Kneipen und Discos statt (oder hießen die schon damals Clubs?), sondern in den Wohnungen meiner Freundinnen und Freunde. Von Frank lernte ich die westerwälder Küche seiner Großmutter, Gisi konnte besonders gut Fleischgerichte und servierte köstliches Boeuf Bourguignon und Chili con carne (Fleisch in winzigen Stücken, mit Schokolade abgeschmeckt), bei Lisa (Eltern mit Gemüsegarten) aß ich meine erste Kürbissuppe und stellte fest, dass ich Rhabarber wirklich, wirklich scheußlich finde, bei Max machte ich erste Bekanntschaft mit Fenchel, Andrea brachte mir nach ihrem Thailand-Urlaub Tom Kha Gai bei, in Annes Lindenstraßen-WG wurde Besuch immer herzlich mitverköstigt (u.a. mit Sahne-Chicoree mit Kartoffeln). So sah meine kulinarische Bildung vor Einstieg ins Berufsleben aus. Wir trafen uns natürlich nicht nur zum Essen, sondern auch zum Filmschauen, Spielespielen – oder einfach so. Unter anderem, weil wir alle wenig Geld hatten und Ausgehen teuer war.

Ich bekam schon mit, dass manche nie zu sich einluden, doch ich ging davon aus, dass das denen halt nicht so viel Spaß machte wie mir oder sie nicht autark genug wohnten.

Zuletzt lebte ich solch einen großen und wohl unkonventionellen Einladungs-Impuls aus, als ich 2007 einen Job in der Zentrale eines Dax-Unternehmens antrat und mich dort sofort sehr wohl fühlte: Ich lud alle ca. 20 Kolleginnen und Kollegen der Abteilung samt Chef zu mir zum Essen ein, stückelte einen großen Esstisch zusammen, lieh mir bei Nachbarn Stühle aus, es gab mit großer Unterstützung von Herrn Kaltmamsell Spanisches in mehreren Gängen, über Tage vorbereitet.

Was ich bei aller Blindheit für Menschliches nur wenig zu spät bemerkte: Manche Gäste fühlten sich durch den Aufwand eingeschüchtert, in den ich mich gerne für Einladungen warf – nach Eintritt in die freie Wirtschaft gesteigert durch neue finanzielle Freiräume. Mangels Talent versuchte ich mich zwar nie an Tisch-Deko, doch anständig gedeckt war die Tafel bei mir auch zu Studienzeiten (frische und gleiche Teller für jeden Gang, passendes Besteck, passende Gläser, Servietten), und besonders elaborierte Speisenfolgen schrieb ich schon auch mal auf Karten für den Tisch. Um dann einmal besonders deutlich zu merken, wie zwei erstmalige Gäste völlig verschüchtert und steif auf ihren Stühlen saßen. Großen Aufwand gibt es seither nur für vertrautere Gäste und mit deren vorherigem Einverständnis.

Aber spätestens seit der Lektüre von Kochen im falschen Jahrhundert bin ich auf der Hut: Vielleicht ist, was ich für Gastfreundschaft hielt, ja doch nur Habitus und Distinktion und ich vergesse lediglich, die Hersteller von Geschirr und Tischwäsche zu nennen.

Illustrierende Fotos habe ich in meinen Alben nur zwei gefunden. Damals wurde halt fast nie fotografiert – ich kann das nicht besser finden als den heutigen Foto-Schatz, der mir zu praktisch jeder Erinnerung zur Verfügung steht, aus mir wird nie eine Feuilletonistin.

Das Album vermerkt lediglich:
“November ’92
Essen bei mir”
Das im Vordergrund bin ich, das um mich herum ist meine geliebte Wohnung am Augsburger Elias-Holl-Platz, im Hintergrund das Fenster zur Küche, die wohl einst eine Räucherkammer war.

Israelisches Buffet zu meiner riesigen Geburtstagsfeier 1995, für die ich eine Schnitzeljagd durch Augsburg organisiert hatte. Das Foto ist praktisch der Gegenschuss zum vorherigen, es zeigt eben diese Küche. (Und ich bin sehr froh darüber, erinnere mich dadurch an viele längst vergessene Ausstattungsdetails und Werkzeuge.)

Journal Samstag, 28. Oktober 2023 – Sonne, Olympiabad, Brot

Sonntag, 29. Oktober 2023

Nach einer guten Nacht wachte ich noch vor sieben auf. Eigentlich hätte ich gerne noch weitergeschlafen, doch dann wäre es für meine Pläne des Tages knapp geworden.

Also beschloss ich munter zu sein, zog mein Bett ab und startete eine Maschine Wäsche, knetete den Teig für das Brot des Tages: Geiersthaler Sonne (doppelte Menge für einen Laib zum Verschenken, außerdem mit Butter- statt Schweineschmalz). Die Sonne ging zu einem freundlichen Tag auf.

Brotbacken hat für mich immer noch was von Zauberei.

Zum Schwimmen steuerte ich jetzt wieder das Olympiabad an, die Wintersaison ist endgültig eröffnet. Beim Hinradeln brauchte ich trotz Sonne noch Handschuhe, nutzte vorher im Fahrradkeller (eigentlich: offizielle Radl-Unterstell-Möglichkeit in der Gerätekammer des Hausmeisterdienstes) die große Luftpumpe, auf die mich eine Nachbarin hingewiesen hatte: Die habe sie für alle Nachbarinnen und Nachbarn dort abgestellt, sei doch praktischer so. <3

Im Olympiabad ich freute mich über die Wassertemperatur, kam auf meinen 3.000 Metern nicht mal ins Frösteln. Ein Hoch auf die laut Bundenetzagentur wohl gefüllten Gasvorräte.

Doch ich wunderte mich über die offensichtlich gelockerte Kleiderordnung: Auf meiner Bahn schwamm jemand in Jeans-Shorts und langärmeligem Baumwoll-Shirt, mit wechselndem Schwimm-Spielzeug. Ich war bislang von Schwimmkleidungspflicht ausgegangen, aber ich bin ja so alt, dass ich mich noch an Taucherflossenverbote erinnere. Spätere Recherche ergab: “Die Entscheidung, ob eine Badebekleidung den Anforderungen entspricht, obliegt dem Personal.”
Haus- und Badeordnung für die Badeanlagen (HuBO) der Stadtwerke München GmbH (SWM)

Ich finde es immer noch wunderschön.

Frühstück um zwei: Rote-Bete-Salat aus Ernteanteil, zwei Scheiben frisch gebackenes Brot. Eine davon mit Butter und Ernteanteil-Tomate, eine mit Wabenhonig.

Ge-imkert von Vater einer Kollegin, mein erster Wabenhonig, die Wabe einfach aufs Brot gestrichen – schmeckte sehr gut!

Ich nahm eine U-Bahn nach Neuhausen, um ein Probiererl SoLawi-Olivenöl aus Lesbos und eines der Brote abzugeben und ein Treffen zu vereinbaren, spazierte von dort unter langsam zuziehendem Himmel zu Fuß nach Hause und genoss die Wärme.

Lektüre der Wochenend-Süddeutschen, dann machte ich aus dem Ernteanteil-Weißkraut Krautsalat. Ich turnte die vorletzte Folge des 30-Tage-Programms Yoga Camp, bin froh, wenn ich es durch habe.

Zum Abendessen bereitete ich die mächtige Fenchelknolle aus Ernteanteil zu, schlicht gedünstet mit Butter, wie zu Studentinnentagen (damals allerdings nicht mit Butter, weil ich ja Kalorien zählte, sondern höchstens mit einem Schuss Sahne). Davor ein wenig Rote-Bete-Salat, danach Süßigkeiten.

Leider dann doch kein Blick auf die partielle Mondfinsternis, die Wolken hielten sich nicht an die Wettervorhersage von Freitag.

Im Bett Start einer neuen Lektüre aus der Münchner Stadtbibliothek: Karsten Dusse, Achtsam morden. Ließ sich sehr gut an; ich hatte erwartbare Launigkeit befürchtet, doch ich bekam eine wirklich originelle Stimme.

§

Jajaja, confirmation bias (bei mir).
Eine Studie hat untersucht, wie sich gestrichene Parkplätze vor Geschäften aufs Geschäft auswirken.
“Parkplätze vor der Ladentür sind schlecht fürs Geschäft”.

Journal Samstag, 14. Oktober 2023 – Wetterergrauung, fesselnder Corona-Podcast, Helen Rebanks, The Farmer’s Wife

Sonntag, 15. Oktober 2023

Gut und lang geschlafen, der Zauber mit dem herabgelassenen Rollladen um fünf wirkte. Ich zog ihn zu düsterem und windigen Wetter hoch, doch mild war es noch immer.

Die Erkältung klang weiter ab, doch meine Augen waren immer noch gerötet und verschleimt.

Gemütlicher Vormittag. Als Sporteinheit absolvierte ich nach Langem mal wieder richtiges Krafttraining inklusive Hanteln mit einer Folge Fitnessblender; anders als bei Kraftaufbau durch Yoga kam ich hier ordentlich ins Schwitzen (hatte aber keine Schwierigkeiten mit Durchhalten). Bei den Criss Cross Crunches rumpeln meine Lendenwirbel inzwischen so laut, als werkle gerade die Müllabfuhr vorm Haus. (Das geht wohl nicht mehr weg.)

Im milden Wind machte ich mich auf eine Erledigungs- und Spazierrunde durch die Fußgängerzone.

Den edlen irischen Tweed-Rock brachte ich dann doch in eine Änderungsschneiderei, um ihn passend machen zu lassen und damit ich nicht wieder einen Winter lang einen dicken Pulli in den Bund stopfen muss. Von Plakaten und aus Tweets der Stadt München wusste ich, dass sich gestern die verschiedenen Bereiche der Stadtverwaltung auf und um den Marienplatz präsentierten: Durch diese Stände schlenderte ich, informierte mich durch Blicke auf Plakate vor allem über die Verantwortlichkeiten der Referate. Das Angebot wurde gut angenommen, gerade Spiele und Quizes waren frequentiert, am großen Stand des Sozialreferats nutzten viele die Beratungsangebote.

Es blinzelte sogar ein wenig die Sonne durch, meine Jacke steckte ich bald ein.

Daheim frühstückte ich um zwei Äpfel, außerdem aufgetautes selbstgebackenes Brot mit Parmaschinken.
Nächster Programmpunkt: Bügelberg abtragen.

Als Unterhaltung hatte ich das Coronavirus-Update von NDR Info – Folge 118 eingemerkt:
“Empowerment: Mit dem Virus leben lernen”.

Redakteurin Korinna Hennig unterhält sich mit Immunologin Christine Falk unter anderem darüber, wie man sein Covid-Risiko am besten selbst einschätzen kann und welche Bedeutung die Impfung für Langzeitfolgen hat.

Über eine Stunde hörte ich gefesselt zu, lernte viel über die Mechanismen unseres Immunsystems (unter anderem wie ein Immunsystem altert) und was das mit der Weiterentwicklung des Corona-Virus zu tun hat. Zur Fesselung trug die fachliche Leidenschaft von Prof. Dr. Falk bei (“Die Schwangerschaft ist immunologisch ein total spannender Zustand.” – Sie riss dann nur kurz den Hintergrund an: Beitragendes Immunsystem des Vaters / der Körper der Mutter müsste eigentlich den Fremdkörper Foetus abstoßen.), die sehr pragmatische Bilder zur Erklärung verwendete. Es ging auch um methodische Probleme bei der Forschung an Long Covid (u.a.: keine Vergleichsgruppe) und überhaupt an SARS-CoV-2 – das kündigte Korinna Henning als Thema der nächsten Folge an.

Ich war sehr froh, dass ich die Zeit zum Anhören gefunden hatte, Empfehlung.

Allerdings war mit Ende des Podcasts noch nicht das Tal des Bügelbergs erreicht. Was ein Glück hatte ich mir eine Folge “Denk ich an Deutschland” des Deutschlandfunks eingemerkt, nämlich die mit Comicautor Flix:
“Deutschland hat so tolle Fenster”.

Es ging weiter mit Gemütlichkeit, ich las Helen Rebanks, The Farmer’s Wife: My Life in Days aus.

Ich lernte in Helen Rebanks’ Autobiografie eine deutlich andere Frau kennen, als ich sie aus ihrem instagram-Auftritt konstruiert hatte. Sie gehört einer Kultur an, die ich in den vergangenen Jahrzehnten häufig antraf, immer wieder neu erstaunt und verständnislos, die ich aber mit der Erkenntnis “Menschen sind verschieden” anzunehmen lernte.

Ein bekanntes Muster dieser Kultur: Frau wünscht sich als Lebensziel Kinder, Ehemann, Haus, erwartet aber, dass dieser Ehemann für die Kosten aufkommt (“Ich bekomme doch nicht Kinder, damit jemand anders sie aufzieht.” taucht wörtlich mehrfach im Buch auf – das habe ich nicht nur von einer Frau auch in Echt gehört und mich jedesmal gefragt: “Aber der Vater schon?”). In diesem Fall umfasst das vom Ehemann zu finanzierende Lebensziel auch innerhalb weniger Jahre immer wieder neue Häuser samt komplettem Umbau und teurer Einrichtung. Rebanks berichtet von regelmäßigem Streit mit ihrem Mann ums Geld.

Was ich mittlerweile ebenfalls als Bestandteil dieser Kultur kenne: Frau mit leidenschaftlichem Kinderwunsch stellt nach erster Niederkunft (nach eigenen Aussagen) überrascht fest, dass Mutterschaft komplette Fremdbestimmung bedeutet, Dauerbeschallung durch Babygebrüll, Schlafentzug, keine Sekunde für sich selbst, sie ist bis ins Mark erschöpft und ausgelaugt. Findet das aber so erstrebenswert (Helen Rebanks betont mehrfach, dass sie sich das schließlich selbst ausgesucht hat), dass sie weitere Kinder bekommt.

Doch The Farmer’s Wife hat ein Happy End: In der Gegenwart bewirtschaftet Helen Rebanks mit ihrem Mann einen Hof und lebt auch dort (die Kombination ist hart erarbeitet, vorher pendelte James zum Hof), jetzt kann sie ihre Vorstellung von 100 Prozent Mutterschaft mit vier Kindern umsetzen und gleichzeitig zum Lebensunterhalt der Familie beitragen.

Interessant fand ich auch, wie Helen Rebanks schildert, sie habe sich als junge Frau auf dem Land mit ihren Lebenswünschen Kinder, Ehemann, Haus immer als Außenseiterin gefühlt: Alle Altersgenossinnen hätten Autarkie und finanzielle Unabhängigkeit priorisiert, zum Beispiel durch eigenes Einkommen und Bankkonto auch in der Partnerschaft. Denn mir ging es umgekehrt in der Stadt: Ich fühlte mich als junge Frau mit meinem Autarkie-Wunsch in der Minderheit, als meine Alters-Kohorte (zumindest in der Geburtsstadt) Hausbauen, Baumpflanzen, Kinderkriegen priorisierte.

Sehr nachvollziehbar und berührend waren für mich Helens Kindheits-Erinnerungen: Schon als Kind nimmt sie einen Teil des Familienlebens in die eigene Hand, sorgt dafür, dass es statt Fertiggerichten und Tütenessen von ihr gekochte richtige Mahlzeiten gibt – das gibt ihr das Gefühl, schon als Kind ein wenig selbst über ihr Leben zu bestimmen. Rezepte ziehen sich durch das ganze Buch (allerdings mit den für mich haarsträubenden typisch englischen Mengenangaben in Hohlmaßen, bis hin zu krummen “2 cups plus 2 tablespoons” – wieg’s halt ab!), eingebettet in Geschichten, und es gibt einen Anhang mit Alltagstipps für Mütter von einem Leitfaden für Vorratshaltung bis Rezept-Kategorien wie “Creative lunchbox ideas”, “Easy ways to feed little ones”, “Meals for when I’m in survival mode”.

Zurück zu unserem gestrigen Essen: Herr Kaltmamsell verwandelte den grünschaligen Hokkaido-Kürbis aus Ernteanteil in einen meiner Lieblingssalate. Vorher machte er aus dem restlichen Kakao-Gin Martinis, zum Essen öffnete ich einen Chardonnay, den ich eventuell mal zu Lamm servieren wollte (werde ich nicht, den hatte ich ganz anders in Erinnerung – womöglich meine ich aber auch einen anderen Chardonnay vom Paul Achs im Burgenland).

Eigentlich war ich zu voll für Nachtisch, doch dann ging noch erstaunlich viel Schokolade.

Im Bett Start einer neuen Lektüre, schon lang auf meiner Leseliste: Paula Hawkins, The Girl on the Train.

§

Schönes Interview mit einer Ikone im Guardian:
“Dolly Parton on style, stardom and sexists: ‘I know how to push men off and get the hell away’”.

Dolly Parton gehört zu dem Menschen, die mir Toleranz und Freude an Vielfalt beigebracht haben. Und so kann ich mich heute an den langen Glitzernägeln der Kassendame eines Supermarkts freuen, ihr ein Kompliment dafür machen – und mir aufgeregt Details dazu erzählen lassen. (Es gibt in mir noch genug restliche Vorurteile, Gehässigkeiten und Gemeinheit, an denen ich arbeite.)

Parton has always been sure of her look, even when she was young, a look – as she has said before – modelled on the “town tramp”, a local woman who wore high heels and tight skirts, who Parton would look out for on trips into town. “She was flamboyant. She had bright red lipstick, long red fingernails. She had high-heeled shoes, little floating plastic goldfish in the heels of them, short skirts, low-cut tops, and I just thought she was beautiful. When people would say, ‘She ain’t nothing but trash,’ I would always say, ‘Well, that’s what I’m gonna be when I grow up.’”

Journal Freitag, 6. Oktober 2023 – Erste Begegnung mit § 177 StGB, Muttergeburtstag am asiatischen Buffet

Samstag, 7. Oktober 2023

Wieder ein Tag, der sich stressig anfühlte: Abends war ich schon seit vielen Wochen zum Geburtstagfeiern meiner Mutter verabredet, doch dann hatte sich ein Einsatz als Schöffin von nächster Woche auf gestern vorgeschoben – noch dazu ab 13 Uhr, ich konnte nur hoffen, dass die Verhandlung sich nicht lang hinziehen würde.

Der Wecker klingelte nach unruhiger Nacht, in der sich die leichte Erkältung mit Schluckbeschwerden bemerkbar gemacht hatte und ich mich mehrfach selbst durch Schnarchen weckte (oh nein: es wird doch nicht die Lebensphase starten, in der ich wegen altersbedingt erschlaffendem Rachengewebe schnarche und als extrem empfindlich auf Schnarchgeräusche reagierende nie wieder richtig schlafen werde?). Derzeit lieber mal wieder täglicher Corona-Test.

Wegen des Gerichtstermins nahm ich das Radl in die Arbeit, Schal, Mütze, Handschuhe brauchte es morgens unbedingt.

Bürokleidung war gestern Kaschmirpulli über Bluse und dicke Turnschuhe zu Jeans. Kalte Hände hatte ich trotzdem, zum Warmwerden musste ich rausgehen – ich beginne mich wieder vor dem Winter zu fürchten.

Als ich meiner Mutter telefonisch zum Geburtstag gratulierte, überraschte sie mich mit der Information, sie richte gerade die Übernachtungsgelegenheit für Herrn Kaltmamsell her, der werde ja Samstag an einer Veranstaltung in Ingolstadt teilnehmen. Gleich korrigierte ich sie, das müsse sich um ein Missverständnis handeln. Rückfrage bei Herrn Kaltmamsell ergab aber: Doch, genau so war es vereinbart, er hatte es mir lediglich nicht erzählt. Als lang zusammenlebendes Paar vergisst man manchmal, dass der/die andere Informationen nicht osmotisch aufnimmt (ist mir selbst oft genug passiert).

Frühe Mittagspause (Äpfel, selbstgebackenes Butterbrot), um rechtzeitig zum Justizzentrum am Stiglmaierplatz zu radeln. Mittlerweise war es mild geworden, ich brauchte nur meine Jacke.

Der Fall, der verhandelt wurde, brachte mich erstmals in Kontakt mit dem 2016 geschärften Vergewaltigungsparagraphen 177 StGB („nein heißt nein“). Das nahm mich zum einen (wie jede andere Verhandlung auch mehr oder weniger) emotional mit, es bereicherte mich aber auch wieder intellektuell, Jurist*innen bei der Arbeit damit zu beobachten. Wir kamen nicht bis zu einem Urteil: Nach zwei Stunden wurde die Sitzung unterbrochen, es wird mindestens einen weiteren Termin geben.

So konnte ich nochmal an meinen Arbeitsplatz zurückkehren, schaffte ein wenig weg.

Zum Bahnhof nahm ich die U-Bahn – völlig unbelastet von Menschen auf dem Weg zum Oktoberfest, das war schön. Herr Kaltmamsell stieß dazu, wir nahmen eine knallvolle Regionalbahn nach Ingolstadt; meine Eltern holten uns ab, wir fuhren gemeinsam ins Gewerbegebiet zu einem großen asiatischen Restaurant und trafen dort auf den größten Teil der Bruderfamilie.

Weiteres erstes Mal: All-you-can-eat am Asia-Buffet. Ich probierte mich durch Sushi, ein wenig Salate, live gebratene Meeresfrüchte, chinesisch zubereitete Fleisch-, Tofu- und Gemüsegerichte, durchs Nachspeisenbuffet mit Schokobrunnen. Leider fühlte ich mich recht durch, freute mich aber sehr über Urlaubs- und Studiumsstartgeschichten, werde allerdings ein hoffentlich baldiges weiteres Treffen benötigen, um mich auf den aktuellen Stand der Familie zu bringen.

Meine Eltern fuhren mich zum Bahnhof, ich erwischte gerade einen verspäteten Zug, der mir längeres Warten ersparte. Neue Lektüre unterwegs und später im Bett: Helen Rebanks, The Farmer’s Wife: My Life in Days, hatte ich als eBook gekauft, weil ich es so gerne jetzt schon lesen wollte.

§

Martin Gommel hat für Krautreporter ein Interview zur Coachingmode geführt, mit dem eigenen “inneren Kind” zu arbeiten. Eckhard Roediger ist Neurologe, Psychiater und Arzt für psychotherapeutische Medizin und nimmt das Konzept auseinander, argumentiert dabei vor allem neurologisch:
“Es gibt kein inneres Kind”.
(Als Krautreporter-Zahlerin darf ich Ihnen diesen Artikel schenken.)

Da schiebt sich eine Vergangenheit in die Gegenwart. Und das kann nicht funktionieren. Was die Patienten lernen können, ist: „Was du jetzt fühlst, sind eingefrorene Tiefkühlerbsen. Sie sehen zwar neu aus, aber die sind steinalt. Öffne dich für den Gegenwartsmoment. Was kannst du jetzt als erwachsene Person machen, um mit der aktuellen Verlassenheitssituation klarzukommen?“

Journal MittwochDonnerstag, 5. Oktober 2023 – Zwei Feierabendtermine

Freitag, 6. Oktober 2023

Diese Woche fühlt sich gehetzt an, dabei habe ich lediglich an drei Abenden hintereinander etwas vor. Das ist ungewöhnlich und löst bei mir Stress aus. Zumal der Sonntag durch Wahlhelfen ausgefüllt ist.

Unruhiger Abschluss der Nacht, meine (selbstverständlich komplett unbegründeten) Sorgen kreisten um die Pläne nach Feierabend.

In einem frischen Morgen marschierte ich in die Arbeit, fühlte mich unausgeschlafen.

Mittags ging ich auf den Markt auf dem Georg-Freundsdorfer-Platz, kaufte heimischen Honig und heimische Äpfel.

Mittagessen im Büro: Apfel (köstliche Rubinette), Linsen vom Vorabend, Hüttenkäse, selbst gemachtes Shortbread (Kolleginnengeschenk).

Noch hat die Heizungszeit in der Arbeit nicht begonnen, und ich bin schon gespannt auf die Raumtemperatur diesen Winter. Im Moment trage ich langärmliges Oberteil und Strickjacke – und fröstle dennoch. Ich werde wohl auf dicke Pullis hochrüsten.

Nach emsigem Arbeitstag machte ich pünktlich Feierabend: Herr Kaltmamsell war verhindert, ich musste unseren Ernteanteil abholen. Diesen brachte ich heim, stellte fest, dass der als Abendbrot geplante Salat nicht satt machen würde: Es gab nur einen kleinen Kopf Blätter, sonst nichts Salatiges. Also holte ich ein letztes Stück selbstgebackenes Brot aus der Gefriere und brach früher als geplant zu meinem Haarschneidetermin auf, um noch Käse zu besorgen. (Vielleicht merke ich mir das endlich, wenn ich es hier festhalte: Der Vinzenz Murr in der Sendlinger Straße ist keine Metzgerei, sondern ein reiner Brotzeit-Laden.)

Ein Stündchen beim Friseur.

Ich war zufrieden mit dem Haarschnitt.

Zum Nachtmahl gab’s Salat mit klassischer Vinaigrette, Brot und Käse, zum Nachtisch Marzipan und Schokolade.

Was ich Ihnen bislang verheimlicht habe: Neben meiner Kleinen Hexe (wird besser!) zeigt derselbe Körper zur selben Zeit (!) ein paar Erkältungssymptome, aber auch diese klein und überschaubar. Wie praktisch, dass ich wegen Lumbago eh Ibu nehme, gestern ergänzte ich Halstabletten.

Im Bett Fatma Aydemir, Dschinns ausgelesen – ich finde großartig, wie vielfältig deutsche Migrations-Literatur in den vergangenen ca. 15 Jahren geworden ist (kann es sein, dass Wie der Soldat das Grammophon reparierte von Saša Stanišic als Türöffner der Gattung in die Verlage fungierte?).

§

Novemberregen findet die richtigen Worte, Folge dreistellig, diesmal über Wege zu einem Frieden für die Ukraine.
“4. Oktober 2023”.

Ich hole aus: ich war früher, so zu Schulzeiten, davon überzeugt, dass Militär scheiße ist. Dass man zu Kriegen definitiv nicht hingeht. Dass man alle retten kann. Dass es immer eine richtige Lösung gibt und dass alle die verstehen, wenn man mal vernünftig mit ihnen redet. Dass es immer eine gute Entscheidung gibt.

Das war der Luxus eines noch nicht so viel gelebten Lebens und eines relativ geringen Erfahrungsschatzes und dieser Luxus steht mir heute nicht mehr zur Verfügung.

(Mein endgültiger Abschied von der Haltung, die novemberregen eingangs beschreibt, war Srebrenica 1993: Die letzten Reste meines Pazifismus’ lösten sich in Luft auf, als ich dringend wollte, dass UNO-Soldaten das Massaker verhindert hätten, und zwar mit Waffengewalt.)

Journal Sonntag, 24. September 2023 – Zurück in München, Sigrid Nunez, A Feather on the Breath of God

Montag, 25. September 2023

Eher gute Nacht, diesmal hatte ich vor dem Lichtaus (nach Anti-Brumm-Einsprühen) nach der Quelle des Mosquito-Summens gesucht und mindestens eine erschlagen. Nur einmal von einem weiteren Summen direkt an meinem Ohr wach geworden.

Gepackt hatte ich schon am Abend davor, jetzt brachte ich die Ferienwohnung auf Ankunftszustand zurück, hinterließ im Küchenschrank Salz, Zucker, Roibuschtee.

Als ich in der Morgensonne vor die Tür trat, war es noch sehr frisch, ich genoss die strahlenden zehn Minuten Weg zum Bahnhof.

Abschied vom Wanderurlaub.

Die Zugfahrt (Umsteigen nur in Hof) verlief komplett reibungslos, ab Regensburg stiegen wie erwartet junge Bayern-Cosplayer*innen mit Bierflaschen in der Hand zu. Wir erreichten München pünktlich kurz vor halb zwei. Am Bahnhof besorgte ich Frühstück.

Herzen und Küssen des vermissten Herrn Kaltmamsell, Kofferauspacken, Wäschewaschen. Um halb drei gab es Frühstück.

Butterbreze, die Oktoberfest-Version. Zu meiner Überraschung passte sogar noch eine Zwetschgennudel dahinter, die Herr Kaltmamsell von einem Besuch bei seinen Eltern mitgebracht hatte.

Ruhiger Nachmittag mit Räumen und Lektüre. Unter anderem las ich meine Oktoberfestflucht vor fünf Jahren nach, beginnend mit der Anreise in den Westerwald. Bei einigen Posts erinnerte ich mich deutlich daran, was ich alles nicht geschrieben hatte – vor allem Menschliches, weil das zwar echt gute Geschichten waren, die Beteiligten aber erkennbar.

Heikles Thema Ferienwohnungbewertungen: Ich versuche ja für andere Interessenten hilfreiche Informationen einzubauen, ohne negativ zu klingen (gelernt beim Schreiben von Arbeitszeugnissen). Zum Beispiel 2022 über das Frieren in der Wohnung in San Sebastián: “Vermieterin stellte reichlich Decken für niedrige Temperaturen zur Verfügung” (Fingerzeig: die Heizung ließ sich nicht anschalten). Und jetzt über die Wanderwohnung: “Alle Räume der Wohnung supersauber bis in den letzten Winkel und mit Raumdüften versehen”. Ich hoffe, so nachfolgenden Mieter*innen die Möglichkeit zu geben, um Entfernung der Düfte zu bitten.

Abends eine Einheit Yoga-Gymnastik, sehr ruhig.

Herr Kaltmamsell sorgte für Abendessen: Gegrillte Maiskolben – hatten wir schon ewig nicht mehr gehabt. Und ein Stück Entrecôte. Ich mixte davor als Aperitif Negroni spagliato, aber mit mehr Prosecco – schmeckte mir besser.

Zum Essen machte ich einen spanischen Wein aus Navarra auf, Domaine Lupier, El Terroir 2017 – der schlecht geworden sein musste. Was auch immer damit passiert war (ich zog einen einwandfreien Naturkorken): Er schmeckte durchdringend nach Plastik, konnte man nicht wirklich trinken.

Nachtisch gab es auch: Herr Kaltmamsell hatte ein vor Monaten eingefrorenes Pastinaken-Püree in einen Parsnip Pie verwandelt.

Serviert mit Clotted Cream und Golden Sirup, schmeckte sehr nach Pastinake.

§

Sigrid Nunez, A Feather on the Breath of God behauptet nicht mal, “a novel” zu sein, ein Roman. Wieder eine autobiografische Geschichte, aber erzählt auf literarisch sehr hohem Niveau und mit einer ganz besonderen Stimme, zudem einer besonders präsenten Erzählstimme. Das brachte mich auf neue Gedanken über autofiktionales Erzählen: Es heißt ja, dass gute Geschichten nur denen passieren, die sie erzählen können; das bedeutet aber auch zu erkennen, was überhaupt eine gute Geschichte ist. Und wenn jemand Autorin ist, Schreiberin, Erzählerin – sieht sie es natürlich, wenn ihre eigene Biografie oder ihr eigener familiärer Hintergrund eine gute Geschichte ist. Wie im Fall eines Vaters mit chinesisch-panamaischen Wurzeln, als Kind mit der chinesischen Familienseite in die Vereinigten Staaten eingewandert, der als GI und Teil der Besatzungsmacht in Deutschland nach dem zweiten Weltkrieg an eine deutsche Frau geriet, mit ihr Kinder hatte und sie mit in die Vereinigten Staaten nahm.

Nunez erzählt diese Geschichte ihrer Familie in vier inhaltlich miteinander verwobenen Kapiteln, die jeweils als eigene Geschichten tragen; die ersten beiden, “Chang” über ihren Vater (der nie richtig Englisch lernte, mit zwei Jobs nie zu Hause war, dessen Hintergrund sie erst nach seinem frühen Tod erfragte), “Christa” über ihre Mutter (die sich sehr über ihr Deutschtum definierte, kreuzunglücklich in den USA und in ihrer Ehe war), erschienen zunächst auch als eigenständige Werke. Das dritte Kapitel “A Feather on the Breath of God” dreht sich dann um die Kindheit der Erzählerin, darin im Mittelpunkt ihre Zeit mit Ballettleidenschaft. Im vierten Kapitel “Immigrant Love” beschreibt Nunez ihr Verhältnis zu Männern am Beispiel der Affäre mit einem ihrer erwachsenen Englischschüler, einem verheirateten Russen, sehr weit weg von ihren sonstigen Lebensumständen.

Meine Ausgabe beginnt mit einer “Introduction” von Susan Choi, die ich wohlweislich erst nach der restlichen Lektüre las – eine gute Idee, denn sie ist auch erst danach sinnvoll. Choi schreibt unter anderem über ihr Leseerlebnis und wie wichtig es für sie war, jemanden mit ähnlicher Herkunft literarisch zu erleben.

Womit ich mich wiederum indentifizierte, war die Freiheit des Nirgends-dazugehören-müssens, die aus der Erzählstimme spricht: Eine vielfältig bunte Herkunft, in Nunez’ Fall beim Vater sogar ein wenig unklar, bietet die Möglichkeit, alle Community-Angebote abzulehnen. Während sonst das Gefühl, nirgends richtig dazuzugehören, fast immer als Schmerz, Mangel, Sehnsucht beschrieben wird, kenne ich es seit meiner Kindheit als etwas Positives, als Erleichterung – die ich hier bei Nunez zum ersten Mal auch literarisch reflektiert lese.


Durch die weitere Nutzung der Seite stimmst du der Verwendung von Cookies zu. Weitere Informationen

Die Cookie-Einstellungen auf dieser Website sind auf "Cookies zulassen" eingestellt, um das beste Surferlebnis zu ermöglichen. Wenn du diese Website ohne Änderung der Cookie-Einstellungen verwendest oder auf "Akzeptieren" klickst, erklärst du sich damit einverstanden.

Schließen