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Journal Samstag, 18. März 2023 – Körpertüchtigkeit in Frühlingssonne

Sonntag, 19. März 2023

Mittelgute Nacht mit einer überraschenden Krampf-Unterbrechung (linke Wade, als ich den Fuß dagegen hochzog, gleich Fußsohle und Zehen, Aufstehen und Yoga-Vorbeuge halfen), aber Schlaf bis sieben.

Gemütlicher Morgen, ich konnte den Tag frei planen. Als Wetter war ein schönes angekündigt, das tatsächlich eintrat. Doch als ich mich vormittags per Rad zum Olympiabad aufmachte, brauchte ich noch leichte Mütze und Handschuhe.

Nach dem nächtlichen Krampf hatte ich auch Waden- und Zehenkrämpfe im Becken befürchtet, doch ich blieb verschont, konnte im nicht zu kalten Wasser bei wenig Belegung kraftvoll und ruhig meine 3.000 Meter durchziehen.

Schon früh ließ ich beim Wenden eine Schwimmerin vor, die ein wenig schneller war als ich – und ich weiß doch, wie nervig das sein kann, weil nur wenig langsamere Schwimmerinnen so schwer zu überholen sind. Beim kurzen freundlichen Austausch (“Mögen’S vor?” “Ach, das ist nett.”) sah ich, dass sie deutlich älter war als ich. In Kombination mit dem Neid auf die flotte Wander-Rentnerin am Freitag wurde mir klar: Mir (!) ist wirklich scheißwurscht, wie alt ich aussehe – solange mein Körper tüchtig ist. Meintwegen halten mich die Leute mit 65 für 80, solange ich gehen, wandern, schwimmen, treppensteigen, mich drehen und wenden kann, auf- und niedersetzen.

Ich hatte ja schon während meiner ersten Reha vor vier Jahren festgestellt, wie sehr ich mich über meine Körpertüchtgkeit definiere, dass es mir an die Substanz geht, wenn sie fehlt. Und während andere sich plastisch operieren lassen, damit sie ihrem Schönheitsbild entsprechen, habe ich mein kaputtes Hüftgelenk durch ein künstliches ersetzen lassen, um mir Beweglichkeit zurückzuholen (na gut, und gegen schlimmen Dauerschmerz sowie für Nachtschlaf). Ich hoffe auf einen so langsamen Verlust dieser Körpertüchtigkeit durchs Altern, dass ich damit umgehen kann. (Habe meine Mutter im Ohr, die irgendwann von einem Wanderurlaub in Südtirol zurückkam: “Oiso woaßt, jetzt ham’s die Berge einfach höher gemacht! Desmoi war’s viel anstrengender hochzukommen und hat auch viel länger ‘dauert.” Das wär’s.)

Als ich wieder auf mein Rad stieg, dominierten im Olympiapark bereits die kurzen Ärmel.

Größte Gefahr im gestrigen Radelverkehr: Fußgänger, die ohne zu schauen plötzlich auf Radweg oder Straße ausscherten. Und wie bei jeder Nutzung ärgerte ich mich über die Verkehrsführung am Stiglmaierplatz, die an der roten Ampel wartende Radler*innen so auf dem Radweg platziert, dass die Grün habenden nicht vorbeikommen oder in anfahrenden Radverkehr crashen. Hier ist der Missstand so tief strukturell, dass er sich halt nicht mit Farbe auf dem Boden korrigieren lässt.

Daheim öffnete ich erst mal Balkontüren und Fenster, um Sonne und warme Frühlingsluft hereinzulassen. Draußen sah ich sogar Sommerkleidchen. Frühstück um zwei: Zwei weiche Eier, zwei Dim-Sum-Dampfnudeln vom Vorabend.

Fürs Abendessen benötigte Herr Kaltmamsell noch ein paar wenige Zutaten, Anlass für Verlassen des Hauses. Ich spazierte zum Vollcorner und mit einer großen Schleife über die Theresienwiese (viele Leute, die spazierten, sportelten, sich in Gruppen trafen) zurück. In einem Hinterhof an der Beethovenstraße wurde sogar gegrillt.

Der faszinierende Herr ist an der Lessingstraße zu finden und gehört zur Medizinischen Lesehalle – die, wie ich jetzt weiß, ursprünglich als Kunstgalerie erbaut wurde, das erklärt auch die Medizin-fernen Skulpturen und Reliefe drumrum.

Den Nachmittag verbrachte ich mit Lesen: Jana Thieles Gebrauchsanweisung für den Harz, eine Leihgabe des dorthin ausgewanderten Freunds, bereitete mich auf den ersten Teil meines Urlaubs vor, auf ein paar Tage in Goslar. Sehr charmant und in dem subjektiven Blog-Tonfall geschrieben, den ich an Reiseliteratur schätze; nur an der fehlenden Erwähnung des Klimawandels merkte ich, dass es nicht ganz aktuell ist (veröffentlicht 2014).

Ein Stündchen Lektüre der Wochenend-Süddeutschen, eine Runde Yoga-Gymnastik mit “Restorative” im Titel – war mir sogar für das Ziel Dehnen ein wenig zu langsam.

Herr Kaltmamsell servierte tex-mex Nachtmahl:

Ofenkartoffeln (Ernteanteil) mit Käse und Sauerrahm, besonders gute Guacamole (Corwdfarming-Avocados), schwarze Bohnen mit Tomate – alles köstlich. Davor gab es von meinen Eltern hergstellten Schlehenlikör Pacharán auf Eis, danach Süßigkeiten.

Als Abendunterhaltung schaffte ich endlich die Doku von 2020 über die Frauen im westdeutschen Bundestag, die sich als erste dort politische Macht holten.
“Die Unbeugsamen”.

Gut und sorgfältig gemacht, beeindruckende Menschen. Einige davon erzählten als alte bis greise Frauen in der Rückschau von ihrem Weg, durch Bewegungen wie #metoo ermutigt auch von sexuellen Übergriffen (inklusive der Erkenntnis: Hätten wir früher darüber gesprochen, wäre das nicht so lange durchgegangen.). Noch bis 7. Mai in der Mediathek, Empfehlung.

Im Bett (seit sehr Langem mal wieder leichter Chlorschnupfen) nahm ich mir meine nächste Lektüre vor: In der Münchner Stadtbibliothek hatte ich meine Vorbestellung nach zwei Wochen Warten herunterladen können, Theresa Hannig, Pantopia. (Mit dieser zweiten Onleihe dort haben sich meine 20 Euro Jahrebeitrag bereits amortisiert.)

§

Hintergrundberichte zum Beruf anderer finde ich immer hochgradig spannend. Hier erzählt die Chefin einer Flugzeug-Kabinenbesatzung in einer ersten Folge, woraus ihr Job bis zum Betreten des Flugzeugs besteht.
“Workday – Teil 1”.

Journal Samstag, 4. März 2023 – Backerfolg, Schwimmgereiztheit

Sonntag, 5. März 2023

Nach mittelguter Nacht mit düsterem Herzen aufgewacht. Beim Ausräumen der Geschirrspülmaschine trotz korrekter Spültab-Funktion auf viel schmutziges Geschirr gestoßen, ich musste von Hand nachspülen. Bei dieser Gelegenheit reinigte ich das Filtersieb, das aber nicht auffallend verschmutzt war.

Nach dem Bloggen buk ich den geplanten gestürzten Apfelkuchen aus verschiedenen Sorten Heimgarten-Lageräpfeln – in kleinerer Form, weil weniger Äpfel zur Verfügung standen. Vom Rührteig bereitete ich die ganze Portion zu, verwendete lediglich nicht allen für den Kuchen, sondern zweigte zwei Extra-Muffins ab.

Nach meinen spektakulären Back-Fiaskos der jüngeren Zeit war ich beruhigt: Ich kann’s noch.
Rechts das handgeschriebene Backbuch, in dem ich ab Teenagerjahren bis zum Ende meiner Dreißiger Rezepte notierte, Kuchen, Torten, Kleingebäck, Nachspeisen, von der anderen Richtung auch herzhafte Gerichte – dann übernahm diese Funktion mein Blog ganz.

Durchs Kuchenbacken kam ich eher spät zum Schwimmen los. Gut, dass ich erst noch rausging, um Fahrradreifen aufzupumpen: Der Sonnenschein hatte mich die Temperatur überschätzen lassen.

Im Schwimmbecken (mittel besetzt) kam ich leider nicht zur Ruhe und in den Fluss. Zum einen war ich gereizt und dadurch bereit, selbst Kleinigkeiten doof zu finden (z.B. den stark gemusterten Schwimmanzug einer anderen Schwimmerin, der mich sowas von gar nichts anging), zum anderen wollten meine Beine krampfen, taten’s dann auf den letzten 600 von 3.000 Metern auch: Zehen nach oben, Zehen eingerollt, untere Wade. Hörte immer wieder von selbst auf, verhinderte aber Spaß.

In der Dusche rubbelte ich mich mit meinem Peeling-Handschuh ab, ein wenig melancholisch, weil mir kein Fotomotiv für #swimstagram eingefallen war. Bis ich den Blick hob.

(Für die Aufnahme hastete ich ins Handtuch gewickelt an meinen Spind, holte das Smartphone raus, sperrte wieder zu, nahm das Foto auf.)

Sonniges Heimradeln mit Extrarunde fürs Semmelholen: Die zunächst angesteuerte Bäckerei Wünsche hatte vier Minuten vor meiner Ankunft geschlossen, also wurde es ein Wimmer.

Frühstück um halb drei: Eine Semmel mit sehr guter Landleberwurst aus dem Glas, drei Stück Apfelkuchen.

Am Nachmittag unter anderem Handarbeiten: Einmal schloss ich ein Loch in der Ärmelnaht meines schwarzen Lieblingsoberteils seit 20 Jahren, unersetzlich. Und dann ein Rocksaum – einerseits bin froh, dass ich irgendwann Säumen gelernt habe (ist nicht schwer), andererseits verärgert, dass ich es bei einem Rock anwenden muss, den ich erst viermal getragen hatte.

Eine Runde Yoga, ich hatte mir nach dem mittäglichen Schwimmen eine halbe Stunde Dehnen mit Maddy Morrison rausgesucht.

Zum Nachtmahl bereitete Herr Kaltmamsell die Rote Bete aus Ernteanteil mit Schmand und frisch gemahlenen Gewürzen nach einem Rezept aus dem Klosterkochbuch zu (in der Version ohne Sauerkraut, schmeckte ausgezeichnet), und wir teilten uns ein Entrecôte.

Dazu öffnete ich eine Flasche Wein: Der Septentrion 2016 der Bodega Pagos de Obanos erwies sich als der erste navarreser Rotwein aus dem selbst zusammengestellten Probierpaket (und den in San Sebastián gekauften), der mir richtig schmeckte – unaufdringlich und wirklich trocken, Thymian, Nelke und Pfeffer am Gaumen. Nachtisch Schokolade.

Daneben ließen wir einen Bollywood-Film laufen, In guten wie in schweren Tagen, um sowas auch mal gesehen zu haben. Es gab erfreulich viele Tanzszenen!

Im Bett begann ich die Lektüre eines Romans, den Novemberregen auf Goodreads empfohlen hatte: Claire North, Notes from the Burning Age, ich hatte mal wieder Lust auf speculative fiction. Noch muss ich mich in der phantastischen Welt mit einigen erfundenen Begriffen zurechtfinden.

§

Roman Deiniger bereitet die Nation (und seine Kolleg*innen in den Redaktionen) auf den bayerischen Landtagswahlkampf vor, vor allem auf das Verhalten der CSU (€):
“Braucht es die überhaupt?”
(Die Überschrift der Print-Ausgabe lautet passender “Witz und Wahn”.)

Deiniger warnt davor, weiterhin auf die Taktik der CSU reinzufallen, durch möglichst abstruse Aussagen und Forderungen einerseits das Klischee der hinterwäldlerisch lächerlichen Bayern zu erfüllen, andererseits die Aufmerksamkeit in Form von Aufregung und/oder Amüsement hoch zu halten.

Wie umgehen mit der CSU? Das ist eine Problematik, mit der man sich im Jahr der bayerischen Landtagswahl rechtzeitig und präventiv befassen sollte, genau wie man nach Kräften Vorkehrungen für Starkwetterereignisse trifft. Denn Söders Wahlkampf wird unausweichlich über das Land hereinbrechen, und kein Nordlicht soll glauben, dass geografische Gnade es ihm oder ihr dann erspart, die Aschermittwochs-Hits bis zum Wahltag am 8. Oktober in heavy rotation zu hören.

(…)

Die erste Lektion einer Anleitung zur Wahrung der geistigen Gesundheit im bayerischen Wahljahr muss deshalb die Anerkenntnis der Tatsache sein, dass ein Söder sich, wo nötig, rhetorisch auch mal frei macht von den Fesseln der Logik, genau wie Generationen von CSU-Anführern sich nicht an all die Konventionen der öffentlichen Rede gebunden fühlten, die andere Politiker zu unterschiedsloser Mittelmäßigkeit zwingen. Es ist genau dieser libertäre Umgang mit Fakten und Kausalitäten, der es Söder in Passau erlaubte, ungeniert den “Ampel-Minions” Vorwürfe wie diesen zu machen: “Wie absurd ist es eigentlich, lange an der Maske im Zug festzuhalten, aber die Droge auf der Straße gut zu finden?”

Wer hier die Vernunft vermisst, der muss sich bewusst machen: Mit Vernunft hat Söder es wirklich lange genug versucht. Seiner Neuerfindung der CSU in der ökologischen Mitte fehlte einfach die Unterstützung – in der CSU.

(…)

Die CSU hat ihre Wählerinnen und Wähler über die Jahrzehnte so nachhaltig an Affären und Skandale gewöhnt, dass der gerechte Zorn, der manchmal – Söder würde sagen – “norddeutsche Redaktionsstuben” erfüllt, zwischen Spessart und Karwendel nicht im gleichen Maße geteilt wird. Wir Journalisten haben schon so manchen Tropfen als jenen auserkoren, der das Fass zum Überlaufen bringt (für die Älteren: #bayernlb); es war dann aber doch nur irgendein Tropfen in einem offenbar ziemlich großen Fass.

(…)

Wer diesen Mann [gemeint ist Söder] professionell oder gar aus privater Leidenschaft beobachtet, sollte das mit unbeugsamer Gelassenheit tun. Wir Journalisten haben alle korrekt analysiert, dass Söder und seine Partei derzeit bundespolitisch so was von abgemeldet sind. Das hindert uns freilich nicht daran, aus gefühlt jeder zweiten Söder-Kachel bei Instagram eine Geschichte zu machen. Söder, ein Freund der Tiere und kein Freund falscher Bescheidenheit, hat das mal so formuliert: “Eine schlanke Gazelle geht unbemerkt durch den Busch. Größere Tiere hinterlassen immer einen Pfad.”

Mal abgesehen davon, dass Söder im sechsten Lebensjahrzehnt in der Tat alles Gazellenhafte abgelegt hat: Die Aufmerksamkeit, die Söder im Netz zuteil wird, weil er Kamala Harris am Münchner Flughafen eine weiße Rose überreicht, bekäme Daniel Günther nicht, wenn er in Kiel in der Holstenstraße nackt Krabben pulen würde.

Das wird ein schweres Jahr für uns hier in Bayern.

Journal Mittwoch, 22. Februar 2023 – Zahnrüge

Donnerstag, 23. Februar 2023

Zackiger Morgen, denn ich musste früher als sonst los: Jahrestermin bei meiner Zahnärztin inklusive Zahnreinigung.

Ein herrlicher, strahlender Frühlingsmorgen, das Vogelkonzert immer dichter besetzt – allerdings sah ich von der U-Bahn aus nicht viel davon.

Zahnreinigung wie immer unangenehm, zudem holte ich mir diesmal nicht das gewohnte Lob für meine Mund-Hygiene ab, sondern wurde vorsichtig gefragt: “Sie benutzen aber schon Zahnseide?” Ja, täglich – aber anscheinend hat mich die Routine nachlässig gemacht und ich muss mich künftig stärker konzentrieren. Dann fand Frau Doktor auch noch ein Löchlein (und zeigte es mir über Zahnfernsehen), ich musste einen Folgetermin vereinbaren. Ist meine Zeit als berüchtigter Ruin jeder Zahnarztpraxis endgültig vorbei?

Später als gedacht kam ich an meinen Schreibtisch und machte mich über das E-Mail-Postfach her, das nach dem langen Wochenende gut gefüllt war.

Mittags ging ich raus in die herrliche Luft auf einen Cappuccino.

Am Schreibtisch gab zu essen Birchermuesli, Grapefruit, Mandarine.

Auch der Nachmittag voller hochkonzentrierter und eng getakteter Arbeit. Eigentlich war ich mit Herrn Kaltmamsell zum Abschluss unseres #Lindwurmessens verabredet, doch ich fühlte mich erkältungskränklich (bitte nicht wieder von vorn) und erschöpft. Also ging ich lediglich ein wenig Lebensmittel einkaufen und bat Herrn Kaltmamsell um Verabredungsverschiebung.

Statt dessen turnte ich die Abschlussfolge von Adrienes “Center”, in der 30. Folge gibt es keine Ansagen und Adriene ermutigt uns Mitturnerinnen, selbst eine Abfolge zusammenzustellen. Diesmal schaffte ich es zum ersten Mal das wirklich zu tun, die Bewegungen und Haltungen aneinanderzureihen, nach denen mir gerade war, sie so lange und so oft zu wiederholen, wie mir war – zumal Adrienes Zusammenstellung, die ich aus dem Augenwinkel auf dem Fernsehbildschirm sah, sehr schnell, zackig und eher wie ein Cardio-Traininig wirkte. Insgesamt war mir das diesjährige 30-Tage-Programm zu fad und zu wenig anregend, vermutlich bin ich über dieses Anfänger-Level hinaus.

Zum Abendessem war ja noch Linsen-Sellerie-Kartoffel-Eintopf da, außerdem hatte sich Herr Kaltmamsell an Hefeblätterteig versucht (Tierdoku-Sprecherstimme: “Doch das war kein Hefeblätterteig.”), und Schokolade gibt es immer.

Ich lese weiterhin gefesselt Franz Schiermeier, Beate Bidjanbeg (Hrsg.), Ludwigvorstadt. Reiseführer für Münchner von 2022, tief recherchiert, reich mit historischen Ansichten und Fotos bebildert, die Infos reichen bis ins Veröffentlichungsjahr. Was ich schon alles über mein Wohnviertel gelernt habe! Zum Beispiel dass das hier im 19. Jahrhundert das Münchner Künstlerviertel war, ein Atelier am anderen, dazwischen Künstlerwohnungen (die Schwanthalerstraße, einst Lerchenstraße, heißt heute so, weil Ludwig Schwanthaler, der mit der Bavaria, daran sein Atelier und Wohnhaus hatte). Dass hier der Schauplatz der bayerischen Revolution war, die zur Räterepublik führte. Oder über die Sonnenbaulehre von Christoph Faust, nach der die Sonnenstraße benannt ist (die dort aber nicht umgesetzt wurde).

Traurig macht mich nur, dass ich dieses spannende neue Wissen nicht an Besucher werde weitergeben können: Praktisch nichts von der vergangenen Herrlichkeit steht noch, das südliche Bahnhofsviertel war das im 2. Weltkrieg durch Bomben am schlimmsten zerstörte in München, zu 80 bis 90 Prozent. Und “hier war mal”, “schon Ende des 19. Jahrhunderts abgerissen wurde hier” oder “vor dem 2. Weltkrieg hätte man hier sehen können” ist bei Stadtspaziergängen erfahrungsgemäß nicht spannend. Aber dass mein Lieblings-Süpermarket Verdi dort steht, wo in der 2. Hälfte des 19. Jahrhundert das berühmteste Künstlerzentrum Schwabenburg war, gegründet vom Kunstmaler Anton Braith und seinem Lebenspartner Christian Mali, werde ich ab jetzt bei jedem Einkauf dort mitdenken. Und zumindest beim Besichtigen des Deutschen Theaters kann ich darauf hinweisen, dass hier 1918 der Bund sozialistischer Frauen gegründet wurde und 1918/19 der Münchner Arbeiterrat tagte.

Sehr früh sehr müde gewesen (Coronatest negativ, mir war danach).

Journal Dienstag, 21. Februar 2023 – Kehraus im Frühling, Granta 161, Sister, Brother

Mittwoch, 22. Februar 2023

Gut geschlafen, sogar nochmal ab halb sechs.

Der letzte meiner vier freien Tage am Stück, ich war eigentlich noch nicht fertig mit Freihaben.

Gestern ging ich schon vor Sport (Joggen) Semmelnholen, in manchen Gegenden sind Läden an Faschingsdienstag/Kehraus ab Mittag zu. Das Wetter wie vorhergesagt frühlingshaft herrlich.

Herrn Kaltmamsell verabschiedete sich nach Augsburg zu Elternbesuch und Freundetreffen, ich nahm das Rad zum Friedensengel.

Es war ein Isarlauf mit Kleidungsproblem: Ich trug mein langärmliges Laufoberteil, denn es war warm genug für den Plan, für die Anfahrt per Rad die Laufjacke als Windbreaker drüber zu tragen, diese dann für den eigentlichen Lauf um die Taille zu binden. Doch beim Anziehen des Oberteils ging der Reißverschluss kaputt (wieder einer dieser empörenden Fälle, dass ein gerade mal 15 Jahre benutztes Kleidungsstück den Geist aufgibt – geplante Obsoleszenz!). Das ignorierte ich auf der Anfahrt, doch beim Laufen öffnete sich dieser Reißverschluss immer weiter bis in die Mitte des Lauf-BHs. Der kann sich zwar durchaus sehen lassen, doch es war es mir dann doch zu frisch. Also schlüpfte ich wieder in die Jacke und schloss deren Reißverschluss bis zum Hals. Was schnell viel zu warm wurde. Die Lösung: Auf einem menschenleeren Teilstück zog ich Jacke und Oberteil aus, band mir das Oberteil um die Nieren, drüber die Jacke mit hochgezogenem Reißverschluss. Jetzt war’s gut.

Andere Laufabenteuer: Ein Grünspecht ließ sich sehen, ganz nah, außerdem flog ein Kormoran über mich hinweg, einen weiteren erspähte ich auf einer Kiesbank im Jugendkleid. Und! Alle mir bekannten Krokus-Hotspots waren in Betrieb! Auf Höhe Unterföhring kam mir ganz langsam ein Gartenbau-Transporter entgegen, ich sah sofort, dass wir zwischen den Büschen nicht beide Platz haben würden und lief zurück, bis ich auf eine Wiese ausweichen konnte. Der Herr am Steuer kurbelte extra sein Fenster runter, um mir hocherfreut und ausführlich dafür zu danken, ich wurde fast verlegen.

Nichts geht über antike Ikonografie.

Der kaputte Reißverschluss – ganz offen doch zu frisch. Außerdem hatte ich zwar das Gesicht sonnengecremt, nicht aber das Dekolleté.

Von der Kennedybrücke.

Genussvolles Heimradeln, zu Hause ausführliche Körperpflege.

Um halb drei zum Frühstück reichlich Semmeln.

Den Nachmittag über schrieb und las ich, schälte Mandeln, wusch Wäsche – immer wieder mit offenen Fenstern. Mein Schlafzimmer roch deutlich nach dem Sonnenschein, der es über den Tag gewärmt hatte.

Zusätzlicher Zeitvertreib: Nachbarn jagen. Das DHL-Paket, für das ich “vor die Tür stellen” angekreuzelt hatte, wurde (wohl in den anderthalb Stunden des Tages, in denen wirklich niemand zu Hause war) bei Nachbarn abgegeben. Auch beim vierten Klingeln waren sie nicht daheim. Zahlt den Paket-Ausfahrenden endlich genug für gute Arbeit, zefix.

In Abwesenheit von Herrn Kaltmamsell bereitete ich das Nachtmahl selbst zu. Ich räumte den restlichen Ernteanteil auf und kochte aus Sellerie, Zwiebel, Kartoffeln mit Belugalinsen einen Eintopf. Der schmeckte deutlich besser, als er aussah – und es ist noch genug für Mittwoch übrig. Nachtisch Schokolade.

§

Granta 161, Sister, Brother

Das Thema Geschwister finde ich hochspannend, meiner Wahrnehmung nach wird es literarisch im Vergleich zu seiner Bedeutung nur wenig thematisiert. Umso mehr freute ich mich über eine Ausgabe Granta dazu – und sie hat meine Erwartungen erfüllt.

Am wenigsten interessiert mich allerdings die Perspektive der klassischen Psychoanalyse – mit der ich ohnehin ein Wissenschaftlichkeitsproblem habe, weil Psychoanalyse aus Thesen und Theorien besteht, die nicht falsifizierbar sind. Adler habe ich zwar nur auf Lexikon-Niveau gelesen, keine seiner Schriften selbst, doch der Verallgemeinerung seiner Beobachtungen zur Rolle von Geschwisterposition misstraue ich. Viel erhellender finde ich da Hazel Bruggers Bezeichnung von Geschwistern als “Übungsmenschen für echte Menschen”. Selbst übte ich an meinem sechs Jahre jüngeren Bruder, der in meiner Erinnerung als kleines Kind ständig meine Nähe suchte und mir damit auf die Nerven fiel: Ich lernte, die mir so liebe und dringend nötige Einzelzeit zu schaffen, durchaus auch mal mit Gewalt. (Diese Gewalt tut mir heute sehr leid und ich setze sie zum Abstandschaffen nicht mehr ein, 1a Übungserfolg.)

Auffallenderweise kommt die psychoanalytische Perspektive auch nur in einem der Texte vor: Der Lyriker Will Harris erzählt in “Speaking Brother”, dass er in einigen Gedichten einen Bruder erfunden hat, und denkt über den Grund nach. (Fragen jetzt schon Autoren “Was wollte der Autor damit sagen? – und das auch noch bei den eigenen Gedichten?!)

Doch die anderen Texte und Geschichten (fiction und non-fiction) erzählen zum Beispiel vom Tod eines Bruders (John Niven, “Brother”), von einer Teenager-Mutter, die sich ihren immer mehr Kindern gegenüber wie eine Schwester verhält (Lauren John Joseph, “Plastic Mothers”), von Kindheitserinnerungen an einen jüngeren Bruder (“Brother, to be your sister is to confront the possibility of having been other than I am.” Vanessa Onwuemezi, “Brother”), von Patchwork-Familien mit unentwirrbaren Geschwisterbeziehungen (Karolina Ramqviyst, Sasika Vogel – Übers., “Siblings”), vom engen Zusammen-Aufwachsen als Zwilling und Verlust jedes Kontakts zur Schwester als Erwachsene (Taiye Selasi, “Betwixt and betwin”), von der Kindheit als Autistin in einer Familie mit unzähligen und ständig wechselnden Pflegegeschwistern (Viktoria Lloyd-Barlow, “These stolen twins”), das Leben dreier Schwestern von den 1920ern bis in die Gegenwart (Sara Baume, “Ray & Her Sisters”).
Ben Pester erfindet in seiner surrealen Geschichte “The Durhams” das Wort “Sibspace” für die Welt, die manche Geschwister als Kinder teilen.

Journal Samstag, 18. Februar 2023 – Brotdesaster am ersten Faschingserholungstag

Sonntag, 19. Februar 2023

Eine schlechte Nacht: Ich schwitzte viel, wachte immer wieder auf, weil meine Nase zugeschwollen war.

Wieder erst mal Nasenspülung. Ich rotze immer noch so, dass mein Hirn als Soundtrack “Es grünt so grün, wenn Spaniens Blüten blühen” aus My fair lady unterlegt, und warum arbeiten Künstler*innen mit allen möglichen Körperausscheidungsfarben von Kot bis Menstruationsblut, doch mir ist noch nichts zum Farbenspektrum des bakteriellen Erkältungsrotzes untergekommen?
Auch interessant: Der nachvollziehbare Zusammenhang Schmerz-Rotzfarbe.

Dem Brotteig gab ich 13 Stunden: Lektüre der Kommentare und Tipps unterm Post ließen mich eine deutliche Vermehrung der Teigmenge abwarten. (Sehen Sie: Dazu sind Kommentare unter Blogrezepten gedacht, nicht für komplett nutzloses “oh das sieht klasse aus” oder “muss ich unbedingt mal nachbacken”.)

Es misslang trotzdem: Nach dem Falten zur Stückgare rührte sich der Teig nicht, im Ofen blieb er flach – vielleicht sollte ich im Winter wirklich kein Weizenbrot versuchen.

Zur Erinnerung: Dieses Brot war das angestrebte Ziel gewesen.

Noch ein Glück war das Ergebnis nicht komplett sulzig, man konnte es essen – und hier wird nichts Essbares weggeworfen.

Im Briefkasten wieder keine Zeitung, ich lieh mir ausnahmsweise den beruflichen Online-Zugang von Herrn Kaltmamsell für Lektüre der Digital-Ausgabe aus.

Für Sport fühlte ich mich fit genug: Ein halbes Stündchen zum Aufwärmen Lindy Hop mit Herrn Kaltmamsell, dann eine Runde Krafttraining mit Hanteln, anstrengend, aber gut machbar, ich schwitzte.

Nach dem Duschen gab es gegen zwei Frühstück: Misslungenes Brot mit Fleischresten vom Vorabend (köstlich), dann Blutorangen mit Joghurt.

Ungewohnte Geräuschkulisse draußen: Sicherheitskonferenz am Faschingswochenende machte es mir Innenstadtbewohnerin wirklich schwer, Gruppen-Draußenlärm einzuordnen.

Bettschwer vom Frühstück legte ich mich zu einem Stündchen Siesta hin, nach der schlechten Nacht tat sie mir gut. Am späten Nachmittag zog mich die milde Luft unter gemischten Wolken nach draußen, ich spazierte durch die Innenstadt zum Isartor, in der Abenddämmerung übers Gärtnerplatzviertel zurück.

Sendlinger Straße mit Rathausturm im Hintergrund.

Patentamt.

Der Gruppenlärm draußen stellte sich als zahlreiche Demos anlässlich der Sicherheitskonferenz heraus, in München gibt’s keinen Faschingslärm. Wieder waren zahlreiche Polizist*innen aus anderen Bundesländern zur Verstärkung angereist, in der Theatinerstraße sah ich vor allem das Hamburger Wappen an den Uniformen. Ich fragte mich, wo all die Zusatz-Polizeibeamt*innen wohl übernachteten. Ja wohl kaum im Madarin Oriental. (Diese Frage stellte ich auch auf Mastodon und erfuhr, dass die Polizei-Transporter unter anderem vor günstigen Hotels am Frankfurter Ring stünden.)

Herr Kaltmamsell hatte während meines Spaziergangs Abendessen gekocht: Es gab nach Langem mal wieder meine geliebte Kürbis-Lasagne – mit zugekauftem Hokkaido-Kürbis, der Lagerbestand unserer Kartoffelkombinats-Gärtnerei ist längst geleert.

Als Apritif gab es Bellini aus der Flasche (trinkt sich immer noch weg wie Limo), zum Kürbis ein Gläschen restlichen Chardonnay vom Vorabend, der sehr gut passte. Nachtisch Schokolade.

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Das Techniktagebuch gibt es jetzt seit neun Jahren (falls Sie sich auch beruflich dafür interessieren, wie ein Online-Gemeinschaftsprojekt so lange bestehen kann, wenden Sie sich bitte an die Redaktion: Sie erklärt Ihnen das gerne). Auch dieses Jahr gibt es eine aktualisierte Gesamtausgabe.
“Es ist das beste Buch, das jemals geschrieben wurde und jeder sollte es haben: 9 Jahre Techniktagebuch”.

Diesmal angepriesen von einem Text, den das KI-Programm ChatGPT erstellt hat, ich bin mit dem Ergebnis sehr zufrieden. Der Titel aber ist handgemacht und gefällt mir ebenfalls sehr gut: Ich bin jetzt bereit, die anderen Probleme auszuprobieren.

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Mit bezahltem Digital-Abo gibt es in der Süddeutschen einen spannenden Text zu lesen:
“Dolmetscherin in Brüssel
Die Frau auf Kanal 1”.

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Fans des Münchner Olympiastadions hier? Sie könnten einen original Strahler aus dem Stadion kaufen: 30 kg, Durchmesser 86 cm, für einen guten Zweck. (Selbst in unserer wirklich großen Wohnung fällt mir leider kein Platz dafür ein.)
“SWM Azubi-Projekt ‘100für100’
100 originale Olympiastadion-Strahler zu vergeben”.

Journal Donnerstag, 16. Februar 2023 – Wovon leben Sie?

Freitag, 17. Februar 2023

Während Herr Kaltmamsell der Meinung war, das gehöre so, fand ich Hendlhaut und Pommes frittes im Lindwurmstüberl deutlich zu salzig. Auf jeden Fall schafften sie etwas, was ich als Vieltrinkerin seit Jahren nicht mehr hatte: dass ich nachts mit Durst aufwachte und ein großes Glas Wasser runterkippte.

Zu früh aufgewacht mit tobenden Nebenhöhlen, erst mal die Nasendusche genutzt – sie wirkte und löste viel schlimmen Rotz. Den Tag über plagten mich aber weiterhin Nebenhöhlenschmerzen, außerdem programmgemäß schmerzhaft ausfransende Nasenlochränder.

Kein Nebel, statt dessen ein wundervoll klarer und Raureif-frostiger Morgen.

Diesmal hatten meine Temperaturprognosen gestimmt: Sonnenschein wärmte mein Büro, Jacket über Bluse reichte, damit ich nicht fror. Mittagessen Birchermuesli.

Gestern war Abschied-vom-Nasenspray-Tag, freies Nasenatmen zum Glück kein Problem trotz konsequentem Rotzen.

Pünktlicher Feierabend, denn ich wollte schon mal für Freitagabend einkaufen. Dazu marschierte ich in die Innenstadt, vorbei an ein wenig Faschingstrubel auf dem Marienplatz zur Hofbräuhausmühle für Mehleinkäufe. (Nachtrag der Chronik wegen: Ums benachbarte Luxushotel Mandarin Oriental viel Betrieb: Sehr edle Autos mit Diplomatenkennzeichen in Warteposition, drumrum Anzugmänner mit Kärtchen an roten Bändeln um den Hals – ich nehme an, das gehörte zur Sicherheitskonferenz an diesem Wochenende.) Dann suchte ich mir in der Metzgerzeile am Viktualienmarkt ein mächtiges Stück Rindfleisch aus: Côte de Boeuf. Auf dem Heimweg besorgte ich am Obststandl noch saisonale Blutorangen (es hätte aber auch schon Erdbeeren gegeben). Die Luft war mild und wundervoll, ich roch ganz eindeutig Frühlingsanfang.

Daheim nochmal die Yogafolge vom Mittwoch, mit noch mehr Spaß.

Nachtmahl war zum einen Portulak aus Ernteanteil mit Zitronen-Tahini-Dressing von mir, zum anderen chinesisches Pfannenbrot, das Herr Kaltmamsell zubereitete. Beides schmeckte hervorragend.

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“Wovon lebst du?” ist eine Frage, die unserer Gesellschaft/Kultur nicht gestellt wird. Das fiel mir wieder auf, als Micha hier die Erklärung zu meiner Altersvorsorge beeindruckend offen fand. Möglicherweise finden andere ja wirklich interessanter, was ihre Mitmenschen beruflich machen, wie viel sie dabei verdienen, wohin sie in den Urlaub fahren, wo sie ihre Kleidung kaufen – und würden sie gerne fragen, wie und wie oft sie Sex haben, aber über dieses Tabu sind sich alle einig. Doch mich interessiert wirklich sehr, wie erwachsene Menschen ihren Lebensunterhalt bestreiten. Was leider keine akzeptable Frage ist:
“Wovon leben Sie?”
– Von Rente?
– Vom Einkommen Ihres Partners / Ihrer Partnerin?
– Zum Teil von eigenem Gehalt, zum Teil von Mieteinnahmen einer geerbten Eigentumswohnung?
– Von Gewinnen aus Investitionen, immer neuen?
– Von freiberuflichen Einsätzen als Trainerin auf Honorarbasis?
– Von Unterhaltszahlungen des vermögenden Ex-Manns, solange die gemeinsamen drei Kinder noch nicht volljährig sind, plus zufälligen Einnahmen aus einer liebhaberischen Nebentätigkeit?
– Ausschließlich vom eigenen Gehalt als Pflegekraft?
– Oder vom Geschäftsführerinnengehalt der eigenen kleinen Kreativfirma, die allerdings so defizitär arbeitet, dass der Unternehmensberater-Vater regelmäßig die Verluste ausgleicht?
– Vom Teilzeitjob fest angestellt in einer Firma plus zwei Abenden in der Gastronomie?
– Und selbst bei der 40-jährigen Künstlerin mit zwei Kindern, von der geraunt wird, da gebe es reiche Eltern im Hintergrund, interessieren mich die Details: Bekommt sie das Geld von den Eltern anlassbezogen (Urlaub/Ateliermiete/Kinder brauchen neue Kleidung) oder als monatliche feste Überweisung?

Das sind sehr unterschiedliche Quellen des Lebensunterhalts, und ich bin überzeugt, dass sie großen Einfluss auf Lebensgefühl und Lebensentscheidungen haben – natürlich in engem Wechselspiel mit den individuellen materiellen Ansprüchen: Der eine leidet, weil er sich keinen Ferrari leisten kann, der andere ist mit einem Fahrrad zufrieden. Die eine grämt sich, wenn sie kein Geld für Abende in schönen Restaurants hat, die andere ist zufrieden, wenn das Geld für Biogemüse reicht.

Selbst bestreite ich meinen Lebensunterhalt mit einem Angestellten-Gehalt als Sachbearbeiterin (TVöD) und Einnahmen über VG Wort für mein Blog, dazu kommen de facto Zuschüsse von Herrn Kaltmamsell, also meinem Ehepartner, der den größeren Mietanteil und auch sonst mehr als ich zu unseren gemeinsamen Lebenskosten beisteuert.

§

Schon am Wochenende hatte ich Zoë Beck, Das alte Kind ausgelesen, es hatte mir sehr gut gefallen (erschienen 2010). In dem Roman wechseln sich zwei Geschichten ab: Die eine beginnt 1978 in Berlin, als einer Mutter nach isolierender Krankheit ihr 6-monatiges Baby gebracht wird und sie bestreitet, dass das ihr Kind ist – es sei vertauscht worden. Sie wird für verrückt gehalten.
Die andere Geschichte beginnt im heutigen Edinburgh: Eine junge Frau erwacht in einer Badewanne mit aufgeschnittenen Pulsadern und ist überzeugt, dass jemand versucht hat, sie zu töten. Man glaubt ihr nicht.
Die Hauptspannung entsteht mit der Frage, wie diese beiden Geschichten wohl zusammenfinden. Das ist von Zoë Beck handwerklich sauberst erzählt. Kleineres Gemäkel habe ich an den divenhaft-dramatischen Gefühlsausbrüchen der beiden Protagonistinnen (auch wenn ich die Absicht dahinter erahne).
Dass die beiden Erzählstränge verschieden gesetzt sind (nicht-kursiv, kursiv), beleidigt mich ein bisschen: Hält mich der Verlag für doof?

§

Dass ich mein eigenes Schlafzimmer habe, ist für mich die Default-Einstellung, seit ich als Kind mein eigenes Zimmer hatte. Auch wenn ich die gesellschaftliche Konvention des gemeinsamen Schlafzimmers in der Ehe natürlich kenne, weigere ich mich weiterhin, von “getrennten Schlafzimmern” zu sprechen: Da wurde und ist nichts getrennt, wir haben halt jede*r ein eigenes. (Und gerade in den vergangenen Wochen mit abwechselnd erkälteten Ehepartnern will ich bitte nichts anderes gehabt haben.) Wenn Paare das anders bevorzugen: Prima, you do you! Aber offensichtlich ist dieser Kas noch lang net ‘bissn. In der New York Times:
“I Love You, but I Don’t Want to Sleep With You”.

Sex therapists and marriage counselors have their doubts. Katherine Hertlein, a professor in the couple and family therapy program at the University of Nevada Las Vegas, worries about the motivation behind the decision to slumber in separate quarters. Is it really because a partner tosses and turns too much? Or is that an excuse to avoid talking about bigger problems at home? Or a nonconfrontational way to escape an unhappy pairing? “What are you pretending not to know?” she said.

(…)

Take away the guaranteed together time, not to mention the easy opportunity for sex, found at the end of each day curled up in bed together, and lovers could morph into glorified roommates.

(…)

“We marry for love and therefore we want to be in the same bed and have sex with each other.”

Journal Donnerstag, 9. Februar 2023 – Laune, Arbeitstumult, Aufhellungen

Freitag, 10. Februar 2023

Sorgenvolles und unruhiges Aufwachen mit übler Laune, zumindest zudem mit der Erkenntnis, dass ich meine vordergründigste Arbeitssorge anders angehen muss.

Fußmarsch in die Arbeit unter klarem Morgenhimmel, zum Glück war genug Platz in meiner Laune, das zu genießen. Im Büro konnte ich dann gleich noch eine Zukunftssache klären (hoffentlich), bevor überdurchschnittlich eng getakteter Wahnsinn losbrach.

Dieser fesselte mich an meinen Schreibtisch, eigentlich auch über die Mittagspause, die ich für Käseeinkauf am Markt auf dem Georg-Freundorfer-Platz hatte nutzen wollen. An einem Punkt beschloss ich, dass 20 Minuten Abwesenheit drin sein mussten und schoss zu diesem Einkauf raus (Sonne! Milde!). Die Einschätzung erwies sich als richtig.

Spätes Mittagessen: Pumpernickel mit Frischkäse, echte Mandarinen und Blutorangen. Meine schlechte Laune war durch all die Aufregung mittlerweile in überdrehte Zittrigkeit umgeschlagen. Das prägte die Nachmittagsarbeit.

Als ich nach Feierabend das Haus verließ, wurde alles gut: Am leuchtenden Abendhimmel sah ich einen Falken auf den Büroturm zufliegen – ich hatte seinen Ruf gehört und mich nach ihm umgedreht. Eigentlich ist es so einfach, mich für ein paar Minuten glücklich zu machen.

Kurzbesuch bei meiner Bank für Bargeld, dann weiter zum Hauptbahnhof, um mal wieder ein Automatenfoto für mein Langzeitprojekt aufzunehmen.

Und wenn ich schon in der Gegend war: Gründlicher Einkauf im Lindt-Laden unterm Stachus.

Zu Hause Yoga. Zum Abendbrot gab’s den Käse vom Markt, Herr Kaltmamsell hatte aus den letzten Crowdfarming-Avocados Guacamole gemacht. Nachtisch Schokolade.

E-Books aus der Münchenr Stadtbibliothek: Ich sah einfach mal nach, wie viele von den 2022 gelesenen ich dort bekommen hätte. 17 von 32, ich war positiv überrascht (wenn auch nicht alle sofort, auf einige müsste ich warten, weil gerade verliehen). Meine nächste Lektüre, Zoë Beck, Das alte Kind, lieh ich gleich mal dort aus – unter Kneifen vor der Kindle-Umstellung erst mal aufs Smartphone per Onleihe-App. Las ich vor dem Schlafen im Bett, fing schon mal gut an. (Leider dabei klare Anzeichen, dass ich mir Herrn Kaltmamsells Erkältung eingefangen habe, noch setze ich auf milde Form.)

Vorher hatte ich ausgelesen:

Johanna Adorján, Ciao.

Nett, aber belanglos, nicht mal wirklich satirisch. Ihre journalistischen Texte sind um Längen origineller und bereichernder – unter anderem sprachlich: In Ciao “flucht” allen Ernstes jemand “wie ein Droschkenkutscher” (hat Adorján evtl. eine Wette verloren?). Wirklich charmant fand ich, dass Adorján die Rezeption ihrer Roman-Fingerübung in der eigenen Branche vorweg nimmt: Sie lässt einen Redakteur auftauchen, der ebenfalls einen Roman veröffentlicht hat – und die Hauptfigur, Redakteur im Feuilleton, hat den Roman des Kollegen zwar nicht gelesen, verbreitet aber, er finde ihn super. (Tatsächlich war Ciao rundum in den Feuilletons empfohlen worden, das hatte mich zur Lektüre verführt.)


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