Bücher

Journal Sonntag, 24. September 2023 – Zurück in München, Sigrid Nunez, A Feather on the Breath of God

Montag, 25. September 2023

Eher gute Nacht, diesmal hatte ich vor dem Lichtaus (nach Anti-Brumm-Einsprühen) nach der Quelle des Mosquito-Summens gesucht und mindestens eine erschlagen. Nur einmal von einem weiteren Summen direkt an meinem Ohr wach geworden.

Gepackt hatte ich schon am Abend davor, jetzt brachte ich die Ferienwohnung auf Ankunftszustand zurück, hinterließ im Küchenschrank Salz, Zucker, Roibuschtee.

Als ich in der Morgensonne vor die Tür trat, war es noch sehr frisch, ich genoss die strahlenden zehn Minuten Weg zum Bahnhof.

Abschied vom Wanderurlaub.

Die Zugfahrt (Umsteigen nur in Hof) verlief komplett reibungslos, ab Regensburg stiegen wie erwartet junge Bayern-Cosplayer*innen mit Bierflaschen in der Hand zu. Wir erreichten München pünktlich kurz vor halb zwei. Am Bahnhof besorgte ich Frühstück.

Herzen und Küssen des vermissten Herrn Kaltmamsell, Kofferauspacken, Wäschewaschen. Um halb drei gab es Frühstück.

Butterbreze, die Oktoberfest-Version. Zu meiner Überraschung passte sogar noch eine Zwetschgennudel dahinter, die Herr Kaltmamsell von einem Besuch bei seinen Eltern mitgebracht hatte.

Ruhiger Nachmittag mit Räumen und Lektüre. Unter anderem las ich meine Oktoberfestflucht vor fünf Jahren nach, beginnend mit der Anreise in den Westerwald. Bei einigen Posts erinnerte ich mich deutlich daran, was ich alles nicht geschrieben hatte – vor allem Menschliches, weil das zwar echt gute Geschichten waren, die Beteiligten aber erkennbar.

Heikles Thema Ferienwohnungbewertungen: Ich versuche ja für andere Interessenten hilfreiche Informationen einzubauen, ohne negativ zu klingen (gelernt beim Schreiben von Arbeitszeugnissen). Zum Beispiel 2022 über das Frieren in der Wohnung in San Sebastián: “Vermieterin stellte reichlich Decken für niedrige Temperaturen zur Verfügung” (Fingerzeig: die Heizung ließ sich nicht anschalten). Und jetzt über die Wanderwohnung: “Alle Räume der Wohnung supersauber bis in den letzten Winkel und mit Raumdüften versehen”. Ich hoffe, so nachfolgenden Mieter*innen die Möglichkeit zu geben, um Entfernung der Düfte zu bitten.

Abends eine Einheit Yoga-Gymnastik, sehr ruhig.

Herr Kaltmamsell sorgte für Abendessen: Gegrillte Maiskolben – hatten wir schon ewig nicht mehr gehabt. Und ein Stück Entrecôte. Ich mixte davor als Aperitif Negroni spagliato, aber mit mehr Prosecco – schmeckte mir besser.

Zum Essen machte ich einen spanischen Wein aus Navarra auf, Domaine Lupier, El Terroir 2017 – der schlecht geworden sein musste. Was auch immer damit passiert war (ich zog einen einwandfreien Naturkorken): Er schmeckte durchdringend nach Plastik, konnte man nicht wirklich trinken.

Nachtisch gab es auch: Herr Kaltmamsell hatte ein vor Monaten eingefrorenes Pastinaken-Püree in einen Parsip Pie verwandelt.

Serviert mit Clotted Cream und Golden Sirup, schmeckte sehr nach Pastinake.

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Sigrid Nunez, A Feather on the Breath of God behauptet nicht mal, “a novel” zu sein, ein Roman. Wieder eine autobiografische Geschichte, aber erzählt auf literarisch sehr hohem Niveau und mit einer ganz besonderen Stimme, zudem einer besonders präsenten Erzählstimme. Das brachte mich auf neue Gedanken über autofiktionales Erzählen: Es heißt ja, dass gute Geschichten nur denen passieren, die sie erzählen können; das bedeutet aber auch zu erkennen, was überhaupt eine gute Geschichte ist. Und wenn jemand Autorin ist, Schreiberin, Erzählerin – sieht sie es natürlich, wenn ihre eigene Biografie oder ihr eigener familiärer Hintergrund eine gute Geschichte ist. Wie im Fall eines Vaters mit chinesisch-panamaischen Wurzeln, als Kind mit der chinesischen Familienseite in die Vereinigten Staaten eingewandert, der als GI und Teil der Besatzungsmacht nach dem zweiten Weltkrieg an eine deutsche Frau geriet, mit ihr Kinder hatte und sie mit in die Vereinigten Staaten nahm.

Nunez erzählt diese Geschichte ihrer Familie in vier inhaltlich miteinander verwobenen Kapiteln, die jeweils als eigene Geschichten tragen; die ersten beiden, “Chang” über ihren Vater (der nie richtig Englisch lernte, mit zwei Jobs nie zu Hause war, dessen Hintergrund sie erst nach seinem frühen Tod erfragte), “Christa” über ihre Mutter (die sich sehr über ihr Deutschtum definierte, kreuzunglücklich in den USA und in ihrer Ehe war), erschienen zunächst auch als eigenständige Werke. Das dritte Kapitel “A Feather on the Breath of God” dreht sich dann um die Kindheit der Erzählerin, darin im Mittelpunkt ihre Zeit mit Ballettleidenschaft. Im vierten Kapitel “Immigrant Love” beschreibt Nunez ihr Verhältnis zu Männern am Beispiel der Affäre mit einem ihrer erwachsenen Englischschüler, einem verheirateten Russen, sehr weit weg von ihren sonstigen Lebensumständen.

Meine Ausgabe beginnt mit einer “Introduction” von Susan Choi, die ich wohlweislich erst nach der restlichen Lektüre las – eine gute Idee, denn sie ist auch erst danach sinnvoll. Choi schreibt unter anderem über ihr Leseerlebnis und wie wichtig es für sie war, jemanden mit ähnlicher Herkunft literarisch zu erleben.

Womit ich mich wiederum indentifizierte, war die Freiheit des Nirgends-dazugehören-müssens, die aus der Erzählstimme spricht: Eine vielfältig bunte Herkunft, in Nunez’ Fall beim Vater sogar ein wenig unklar, bietet die Möglichkeit, alle Community-Angebote abzulehnen. Während sonst das Gefühl, nirgends richtig dazuzugehören, fast immer als Schmerz, Mangel, Sehnsucht beschrieben wird, kenne ich es seit meiner Kindheit als etwas Positives, als Erleichterung – die ich hier bei Nunez zum ersten Mal auch literarisch reflektiert lese.

Journal Sonntag, 17. September 2023 – Vorm Trachtenumzug weggelaufen

Montag, 18. September 2023

Nach recht guter Nacht ein emisger Sonntagmorgen: Bettwäschewaschen, Frühstücksbrötchenbacken, ausführliches Bloggen von Null, Maniküre. Bis ich mich fertigmachen konnte für meinen Isarlauf, waren dreieinhalb Stunden seit Aufstehen vergangen.

Die Frühstücksbrötchen werden ich noch üben müssen, diesmal habe ich nicht sehr aktive Trockenhefe im Verdacht als Ursache für mäßiges Ergebnis.

Vor dem Radeln zum Tivoli checkte ich erst nochmal gründlich den Verlauf des Trachtenumzugs zum Oktoberfest. (Diesen Umzug würde ich München-Besuchenden übrigens jederzeit empfehlen, ist wirklich eine tolle Show in seiner Pracht und Vielfalt. Wobei ich vermute, dass man die ohne Tribünen- oder Fensterplatz an der Route am besten am Fernsehbildschirm mitbekommt.) Mit dem Radl durchs Glockenbachviertel an die Isar und dort Richtigung Norden müsste ich durchkommen.

Das schaffte ich nur beinahe. Ab der Museumbrücke nach Norden standen nämlich die Trachtler*innen mit ihren Wagen an für den Einsatz. Eine Polizistin, die ich um Rat fragte, versicherte mir zwar, auf dem Radweg komme man an denen vorbei, doch der Radweg war voll Trachtenvolk, und eine Dirndlträgerin mit Warnweste bat, Fahrräder zu schieben. (Tipp an die “Letzte Generation”: Mit Dirndl unter der Warnweste wird man offensichtlich nicht schon bei Sichtung festgenommen.) Ich schob eine Weile, sah jedoch vor mir nur belegten Radlweg, soweit das Auge reichte – und nahm dann doch den Kabelsteg auf die andere Seite der Isar, um dort zum Friedensengel zu fahren.

Leider musste ich mich nochmal ärgern: Immer noch sind ab Emmeramsbrücke alle Fuß- und Radlwege rechts und links der Isar auf beiden Seiten zur Föhringer Brücke und unten durch ohne Alternative gesperrt. Nicht nur ist kein Fortschritt der seit Monaten andauernden Bauarbeiten sichtbar, die Sperrung wird immer härter durchgezogen (unter einer Brücke, die weiterhin stabil genug für Autoverkehr drüber ist).

Das Laufen ging mittelgut, leichte Schmerzen wie von zu viel Sitzen an den Sitzbeinhöckern (als erste Online-Recherchen gleich mal “Ursache: Bewegungsmangel” ergaben, ließ ich sie bleiben). Das Licht war großartig, die Luft für die Jahreszeit deutlich zu warm, ich hätte nochmal in kurzen Hosen laufen können.

Beim Heimradeln waren alle oktoberfestlichen Hindernisse verschwunden.

Frühstück um zwei: Rest Linsen mit Ofen-Fenchel und -Karotten vom Freitagabend, ein halbschariges Frühstücksbrötchen, reichlich Zwetschgenstreuselkuchen.

Der Nachmittag verging mit Lesen auf dem Balkon, Bügeln, Herr-Kaltmamsell-Geburstagsgeschenk ein bisschen einpacken, Yoga-Gymnastik. Das Abendessen kam ausnahmsweise von mir: Ich wollte selbstgemachtes Zwetschgen- und Apfelmus aus letztjähriger Ernte (Geschenke) aufbrauchen und zwar mit Kaiserschmarrn. Was die Zubereitung spannend machte: Mittlerweile setzen auch die anderen beiden Induktionsherdplatten manchmal mit Fehlermeldung E aus. Gestern zumindest ließen sie sich durch Aus- und Wiederanschalten wieder in Gang setzen.

Früh in frisch überzogenes Bett (AAAAHHH!) zum Lesen, neue Lektüre ist Sigrid Nunez, A Feather on the Breath of God. Ich freute mich auf echt ehrlich Ausgedachtes aka Fiction – allerdings las sich bereits der Anfang nach einer weiteren autofiktionalen Familiengeschichte.

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Kluge Gedanken 1: Die kluge Marina Weisband nahm bei Anne Will die Taktik von Hubert Aiwanger als beispielhaft für populistisches Argumentieren auseinander, hier der Ausschnitt damit. Und sie hat einen Vorschlag, mit welcher Erzählung demokratische Kräfte in der Politik gegenhalten können.

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Kluge Dinge 2: @musevg erklärt in einem Thread den “hybriden Krieg, den Putin gegen uns und die anderen liberalen Demokratien Europas führt”, nämlich echte Probleme auszulösen und diese dann für Propaganda zu nutzen, von Syrien bis Ukraine-Krieg.

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Auch mal Musik hier: Hozier “Take me to church” kennen Sie vermutlich (wenn’s sogar ich kenne), aber hier als Auftritt in der U-Bahn.
via @DonnerBella

Journal Dienstag, 12. September 2023 – Sommerabschied mit Schwimmschlacht

Mittwoch, 13. September 2023

Gut und tief geschlafen, das ist so schön.

Morgens verabschiedete ich Herrn Kaltmamsell zur ersten Stunde in die Schule (Lehrer*innen treten nicht alle und nicht jeden Tag zur ersten Stunde an), ich konnte mich fast nicht mehr an den Morgenrhythmus dafür erinnern. Mit Schwimmzeug im Sportrucksack spazierte ich durch milde Luft in die Arbeit, begegnete vielen Schulkindern.

Im Büro musste ich mich auch erst wieder daran gewöhnen, dass Herr Kaltmamsell nicht mehr durchgehend erreichbar ist und ich ihm nicht schnell dazwischen Fragen oder Ideen rüberwerfen kann.

Arbeitsreicher und etwas durcheinanderer Vormittag, ich kam aber kurz raus auf einen guten Morgencappuccino in die Nachbar-Cafeteria. (Ich genieße diese Nachsommerstunden SO! Bald haben wir ja wieder die umgekehrte Lage, dass ich übers Frieren und die kurzen Tage jammere und alle Winterfreundinnen über die Kälte jubeln.)

Mittagessen war ein weiterer Versuch des Ausgleichs von Macht-lange-satt und Ist-leicht-verdaulich-und-stört-nicht-beim-Sport: Kleiner Eiweißriegel sowie Pfirsich und Feige mit Joghurt.

Das schien zumindest in zweiter Funktion das Richtige zu sein: Als ich mich kurz nach vier auf den Weg ins Dantebad machte, knurrte mein Magen leer.

Gestern war der erste Tag des Winterbetriebs im Dantebad (nur Stadionbecken und Sprudelschnecke geöffnet), umso erstaunter war ich über die lange Schlange an der Kasse, bestehend vor allem aus Familien in voller Freibad-Ausstattung (u.a. Schwimmnudeln, Aufblastiere). Mit meiner Dauerkarte kam ich schnell rein und sah, dass auch nur ein kleiner Bereich der Liegewiese freigegeben war: Ich nehme an, die Schlange stehenden Familien wussten das mit dem Winterbetrieb schlicht nicht.

Meine Schwimmrunde wurde dann leider zur Schlacht. Die Bahnen waren dicht beschwommen, darunter einige Geräteschwimmer*innen, vor allem aber rücksichtslose Turboschwimmer. Ich schluckte oft Wasser, erschrak mehrfach mit Juchzer, wurde aber irgendwann bockig und ließ mich nicht von meinen geplanten 3.000 Metern abhalten. Weitere Irritation: Diesmal zog nicht am gewohnten Ende Frittenfettdunst über die Schwimmbahn, sondern am gegenüberliegenden Steckerfischdunst – beim Schwimmen ebenso eklig.

Auch die Wassertemperatur war auf Winterbetrieb hochgeheizt, zum ersten Mal seit zwei Jahren war sogar mir das Wasser zu warm. Wie bereits seit Tagen angekündigt, zog der Himmel nach 17 Uhr langsam zu mit Wolken, in der Tram nach Hause sah die Abenddämmerung nach Gewitter aus.

Trotz Arbeitstag sorgte Herr Kaltmamsell für Abendessen in Form von warmem Zucchini-Garnelen-Salat mit Minze und Koriander. Nachtisch viel Schokolade.

Früh ins Bett zum Lesen, Eva Biringer, Unabhängig – Vom Trinken und Loslassen. Noch weiß ich nicht, wie sehr mich interessiert, dass eine hochfunktionale Multitoxlerin sich fragt, warum sie ausgerechnet vom Alkohol am schwersten loskommt. Durchaus originell geschrieben und berstend von Fußnoten mit Quellen zu weiterführendem Material, aber das ist halt schon sehr weit weg von meinem Leben und meiner Welt.

Journal Montag, 11. September 2023 – Sommerabend im Schnitzelgarten, Jenny Erpenbeck, Geschichte vom alten Kind

Dienstag, 12. September 2023

Gute Nacht, ich hätte gerne länger als bis Weckerklingeln geschlafen.

Die Nacht musste sehr mild gewesen sein, ich konnte nach Pflanzengießen und Wäscheabnehmen ohne dicke Socken nochmal meinen Morgenkaffee (den 23. der Saison) auf dem Balkon nehmen. Wahrscheinlich erreiche ich die Rekordzahl nicht nur wegen des Nachsommers, sondern weil es davor keine Wochenenden gab, an denen es mir bereits morgens zu heiß auf dem Balkon wurde.

Ich genoss den Weg in die Arbeit in einem schwingenden Röckerl.

Letztes Mal Gollierstraße ohne Schulkinder, am Dienstag beginnt auch in der Bayern der Unterricht des Schuljahrs 2023/24.

Als ich mich im Büro setzte, bekam ich vorm Fenster gleich mal eine Flugshow überm benachbarten Hochhaus zu sehen: Ein Dutzend Krähen und drei Falken umeinander.

Im Verlauf des Morgens stellte ich fest, dass sich meine Stinkphase fortsetzt: Seit ca. zwei Wochen riecht auch das leiseste Transpirieren (voll-desodoriert natürlich) unangenehm, wieder mal Hormone, schätze ich.

Außerdem hoher Fenistil-Verbrauch: Mein Schafzimmer scheint einer besonders aggressiven Stechmücke Obdach zu bieten, zwei riesige Stiche am linken Bein schmerzten unangehm, bei jedem Bitzeln auf der Haut befürchtete ich das Erscheinen eines weiteren.

Zwischen Terminen keine Zeit für externen Mittagscappuccino, es musste der schreckliche Automat herhalten. Aber ich hatte Zeit für Mittagspause, in der es eine übrige Semmel vom Sonntag sowie Mango mit Sojajoghurt gab.

Nachmittags Schwindel, brauchte auch kein Mensch. Dennoch marschierte ich nach der Arbeit über Lebensmitteleinkäufe in die Stadt für Besorgungen. Diese legte ich daheim nur kurz ab, denn ich war mit Herrn Kaltmamsell sommerlich nochmal im Schnitzelgarten verabredet. Wir saßen in milder Abendluft, keine Jacke nötig.

Zum alkoholfreien Weißbier ein Gorgonzola-Cordonbleu – ich aß alles davon, und mit Genuss (möglicherweise macht man hier meine liebsten Pommes). Um uns auffallend viele eher junge Touristen von anderen Kontinenten; wieder mal hatte ich den Verdacht, dass das versteckte Lokal in irgendeinem Reiseführer empfohlen wird (nicht aber von Influencern, sonst würde Schlange gestanden).

Daheim passte sogar noch Schokolade hinterher.

Im Bett neue Lektüre: Ich war meine Wunschliste danach durchgegangen, was gerade in der Stadtbibliothek zur Verfügung stand, und der erste Treffer war Eva Biringer, Unabhängig – Vom Trinken und Loslassen.

Gestern war übrigens der Tag, an dem ich von der Existenz von Gürtelmullen erfuhr, auf Englisch “pink fairy armadillos” – herzallerliebst!

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Jenny Erpenbecks Geschichte vom alten Kind wurde offensichtlich bei Erscheinen 1999 vor allem als Parabel rezipiert – ich kann nachvollziehen, dass die eigentümliche, naive, schlichte Sprache, die mich an Märchen erinnerte, dorthin führt.

Ich wiederum ließ mich ganz von diesem Sound der Geschichte fangen und genoss es, auf der Oberfläche zu lesen, Assoziationen und Stimmunge über mich fließen zu lassen, mich davon überraschen zu lassen, wie auch diese Schlichtheit witzige Pointen ermöglicht.

Inhaltlich bleibt viel offen. Wir sind beim Lesen meist ganz in nah an diesem titelgebenden Mädchen (namenlos und durchgehend “das Mädchen”), an seinem mächtigen Körper, seinem Mondgesicht, seinem Erinnerungs-losen Zurechtfinden im Heim und unter den anderen Kindern. In den nur gut hundert Seiten ohne Nebenhandlung und charakterisierte Nebenfiguren bleibt doch genug Platz für Wendungen und Überraschendes.

Wieder mal erwies sich als für mich genau richtig, dass ich vor der Lektüre keine Rezensionen kannte und auch nicht die Entstehungsgeschichte des Romans, die der Verlag offensichtlich zum Verkauf des Buchs verwendete: So konnte mich auch das Ende aus erster Hand mitnehmen (praktisch alle Rezensionen spoilern, WARUM). Mal wieder fühlte ich mich in meiner Haltung bestätigt, dass der Autor, die Autorin und die Genesis besser keine Rolle beim Lesen spielen.

Ein kleines Meisterwerk – dennoch würde ich es ob seiner Seltsamkeit nicht jedem und jeder empfehlen.

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Welch ein Verlust:
“Trauer um Musikkabarettistin Burgi Well von den ‘Wellküren'”.

Journal Donnerstag, 7. September 2023 – Nachgeholte Jugend (Versuch)

Freitag, 8. September 2023

Nach spätem Lichtaus (Buch wollte zu Ende gelesen werden) fast eine Stunde zu früh aufgewacht – ich konnte mir die resultierende Tagesmüdigkeit bereits ausmalen. Innen mehr düstere Wurschtigkeit – immer inklusive dem schlechten Gewissen, dass ich ja nicht allein lebe und automatisch den Mitwohner damit betreffe.

Wie angekündigt spannte sich mit Sonnenaufgang wieder strahlend blauer Himmel übers Draußen. Ich marschierte besonders zackig in die Arbeit: Da ich das Verhältnis der Grünphasen von Ampeln inzwischen kenne, versuchte ich alle bei Ankommen in Grün zu erwischen. So wurde mir trotz kurzer Ärmel und Sandalen warm. Ich musste auch nur zweimal ein bisschen rennen, was eigentlich in diesem Spiel als unelegant gilt. (Ich habe die Regeln nicht gemacht.) (Moment. Habe ich doch.)

Mittags schaffte ich es raus auf einen guten Cappuccino (herrliche milde Luft, wundervoller Sonnenschein – TRAUMWETTER), später gab es zurück im Büro Pumpernickel mit Butter, außerdem Trauben und eine Feige, die tatsächlich so saftig und reif war, wie ich beim Kauf erhofft hatte.

Mehr als emsige Arbeit (dazwischen ein höchst bereicherndes Gespräch über meine Japan-Ängste, japanische Kultur und japanische Emigrantinnen in München), das große Gähnen wegen zu wenig Nachtschlaf erfasste mich am frühen Nachmittag – als ich merkte, dass ich von der wirklich spannenden Info-Veranstaltung online nur profitierte, wenn ich nichts nebenher machte. Im Büro weiter Strickjackentemperatur.

Ich machte früh Feierabend, weil ich gestern beim Abholen des Ernteanteils einsprang, Herr Kaltmamsell war in Augsburg. Und jetzt war es draußen wirklich warm, allerdings immer noch nicht unangenehm in der Sonne.

Den Ernteanteil brachte ich nur schnell ins Kühle, den frühen Feierabend nutzte ich noch für einen Einkauf: Seit sich vergangenes Jahr abzeichnete, dass meine neue Kleidergröße nicht gleich wieder verschwinden würde, hatte ich mit dem Gedanken gespielt, ein Stück Jugend nachzuholen. Damals in den 1980ern war das ikonischste Jeans-Modell die Levis 501 (es gab, soweit ich weiß, nur ein Männermodell). Mit meiner Figur konnte ich sie nicht tragen – nicht dass mich das geschmerzt hätte: Zum einen fand ich Markenorientierung doof, zum anderen gab es genug andere schöne Kleidung und Jeans, in denen ich mir gefiel (die Jeans der Hersteller Edwin und Rosner zum Beispiel waren genau für meine damalige Figur geschnitten). Doch jetzt wollte ich gerne wissen, wie ich darin aussah.

Also spazierte ich in den Levis-Laden in der Sendlinger Straße und bat um eine 501 in Mittelblau, Herrenmodell. Die freundliche Angestellte schlüsselte das Größensystem für mich auf (ich lernte, dass nicht mal bei Jeans Männergrößen den Frauengrößen entsprechen). Ich probierte nur wenig herum und gefiel mir sehr gut in einer 501 – wollte zudem gar nicht mehr die Hände aus den rieeesigen Männerhosentaschen nehmen (die der Damenmodelle sind etwa ein Drittel so tief). Dazu kaufte ich gleich noch das in meinem Kopf ebenso ikonische weiße T-Shirt, selbstverständlich ebenfalls das Herrenmodell.

Zu meiner Überraschung gefiel mir das Outfit ohne Gürtel besser. Die neuen Turnschuhe waren am Mittwoch eingetroffen – fast hätte ich ein Stück Jugend wiederholt und die weißen Lederturnstiefel von Puma bestellt, die ich mit 16 nach nur wenigen Wochen Tragen in einem Hotel vergessen hatte.

Herr Kaltmamsell hing in einem Oberleitungsschaden fest (der es sogar in die 20-Uhr-Tagesschau schaffte), ich hatte noch gut Zeit für eine Maschine Wäsche und eine Runde Yoga-Gymnastik (noch eine Einheit mit Tim).

Als Herr Kaltmamsell heimkam, gab es Salat aus Ernteanteil-Ruccola und -Tomaten, dazu Reste vom Vorabend: Kohlrabi-Salat, Hummus, Käse. Nachtisch Schokolade.

Neue Lektüre: Am Mittwochabend war das Gespräch auf die Autorin Jenny Erpenbeck gekommen, ich erinnerte mich daran, dass eines ihrer Bücher auf meiner Merkliste stand. Es stellte sich heraus, dass ihr Geschichte vom alten Kind sogar das Buch war, das am längsten auf meiner Amazon-Wunschliste stand, auf der ich seit vielen Jahren meine Lesewünsche sammle. Das E-Book zu kaufen (die Stadtbibliothek führte es nicht) und damit von der Liste zu löschen, war sehr befriedigend.

Im Bett las ich die ersten Seiten und war gleich angetan von der nicht-realistischen Sprache und Erzählweise.

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Ansonsten rücke ich in diesen Tagen des Aiwangers schon wieder ein Stück nach links, ohne mich überhaupt bewegt zu haben.

Dabei lebt er noch nicht mal in Bayern. Das Gefühl, das Maximilian Buddenbohm in seinem gestrigen Blogpost beschrieb, habe ich seit ein paar Jahren: Dass mein schlichter Realismus (Ernstnehmen von wissenschaftlicher Bewertung der Klimakatastrophe) und konservativer Anstand (Festhalten an Rechtsstaatlichkeit und Menschenrechten) mich nach Linksextrem schiebt, ohne dass ich irgendwohin gehe.

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Jens Scholz ordnet auf Mastodon einen scheinbaren Widerspruch in rechtsextremer Grundeinstellung ein:

Journal Freitag, 1. September 2023 – Bov Bjerg, Der Vorweiner

Samstag, 2. September 2023

Ein seltsamer letzter Arbeitstag einer seltsamen Arbeitswoche. Die ersehnte Aufhellung des Wetters war beim frühen Aufstehen (nach Aufwachen kurz vor fünf nur Sorgenunruhe statt Schlaf) immer noch nicht eingetreten, nachts hatte Regen wieder die Straßen und Wege naß gemacht.

Also kein Kleid mit schwingendem Rock angezogen, sondern Hose, warme Schuhe, warme Jacke. Im Büro die Jacke erstmal anbehalten, zusätzliches Wärmen mit heißem Tee.

Kleinteilige Arbeit am Vormittag, doch ich fand Zeit für einen entfernteren Mittagscappuccino.

Mal wieder befürchte ich, ich könnte ein wenig schwierig sein.
Wo ich nur kurz meinen möglichst guten Cappuccino trinken möchte,
– nerven mich die Coffee Bro’s, die laut über Anbau, Röstung, Mahlen, Aufgießtemperaturen, Säuregehalt nerden,
– nerven mich die Nachbarschaftskuschler, die auf ein Gespräch aus sind,
– nerven mich die Business-Besprecher*innen mit ihrem schlechten Englisch,
– nerven mich die Business-Besprecher*innen mit unangenehm dröhnenden Stimmen,
– frage ich mich, warum die nicht einfach auch alle nur ein möglichst gutes Kaffeebohnen-basiertes Getränk einnehmen.
Andere Menschen sind nämlich keineswegs davon genervt, sondern feiern das als Community, siehe Lesetipp ganz unten.
Oder ich bin gar nicht schwierig? Sondern will einfach die Inhouse-Cafeteria zurück, in der ich mir meinen Mittagscappuccino zum Trinken am Schreibtisch holen konnte? (Weiter keine Aussicht auf Neubesetzung dort übrigens.)

Auf dem Rückweg schien meist die Sonne, und sie wärmte.

Am Schreibtisch empfing mich ein unvermuteter Tornado, ich wirbelte mit. Mittagessen zwischendrin: Eingeweichte Haferflocken mit Joghurt, Bananen.

Der Tornado machte den Nachmittag ein wenig angespannt. Ich gab meinen Plan für einen pünktlichen Feierabend auf, nahm schlussendlich den Arbeitsrechner mit heim. Unterwegs Lebensmitteleinkäufe im Vollcorner.

Ich kam so spät heim, dass ich das geplante Kuchenbacken auf Samstagmorgen verschob, nur den Ruccola aus Ernteanteil für Salat zum Nachtmahl vorbereitete (Kirschbalsamico-Walnussöl-Dressing, Blauschimmelkäse). Zum Anstoßen aufs Wochenende mixte ich uns unseren ersten Negroni spagliato. Es war warm genug für Aperitivo auf dem Balkon.

(Motiv entdeckt von Herrn Kaltmamsell)

Eigentlich hatten wir für den Abend eine Restaurantreservierung, aber wenige Tage nach Buchung festgestellt, dass wir gar keine Lust auf Ausgehen am Freitagabend hatten: Schon am Mittwoch storniert.

Statt dessen hatte Herr Kaltmamsell Entrecôte gebraten, ganz ausgezeichnetes Fleisch diesmal. Dazu gab es Kartoffelgratin und Ruccolasalat, ich machte eine Flasche roten KalkundKiesel auf, den ich auf einen Tipp der Weinhändlerin gekühlt hatte (nicht ganz so kalt schmeckt er mir besser, vor allem brauchte er ein wenig Luft).

Mühsamer Weg zu einem neuen Paar Schuhe: Seit Monaten möchte ich blaue Turnschuhe (“Sneaker” für die jüngeren), gestern sah ich an einer eleganten Passantin ein Modell, das mir besonders gut gefiel. Sauberes Branding machte die Online-Suche einfach, doch der Laden ließ mich nicht zahlen: Jede Zahlmöglichkeit erzeugte Fehlermeldungen, in drei verschiedenen Browsern, ich kam nicht an diese Schuhe. Fühlte mich an New-Economy-Zeiten erinnert, in denen Server-Crashs als Erfolgsbeweis galten. Zum Glück fand ich das Modell auf einer weiteren Plattform (wenn auch etwas teurer) und bestellte dort.

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Als sie nach dem kurzen Winter wieder auf Bartels Datsche hinauskutschierte, herrschte ein ganz formidables Wetter

Gleich der erste Satz des Haupttextes von Bov Bjergs Der Vorweiner machte mir klar, dass dieser Roman mit verstellter Stimme erzählt wird. Diese Kunstsprache, die auch Wörter immer wieder ganz knapp neben den gewohnten erfindet, macht das größte Lesevergnügen aus.

Speculative fiction ist in der deutschsprachigen Literatur eher selten (mir fällt noch Matthias Nawrat ein), selbst Science fiction und Utopien mit Gesellschaftsentwürfen begegne ich häufiger. Bov Bjerg hat diesmal richtig groß ausgeholt und ein Schelmenstück an Roman abgeliefert, durch das in meinen Augen viel von dem (politischen und gesellschaftskritischen) Schabernack scheint, der seinen kabarettistischen Jahresrückblick ausmacht – es sprüht vor Einfällen.

Die eigentliche und überschaubare Handlung ist weniger der Treiber des Romans: Sie spielt in einer unbestimmten nahen Zukunft, in der wohl die Klimakatastrophe weite Teile der Erde unbewohnbar gemacht hat. Die Gesellschaft hat sich in eine wohlhabende Elite und eine Dienstleisterschicht weiterentwickelt, Nachrichteninhalte sind von Tatsachen fast komplett entkoppelt. Die wohlhabende Hauptfigur “A wie Anna” zahlt viel Geld dafür, bei weniger Privilegierten Realität erleben zu dürfen, von Gärtnern bis Schlachten.

Doch es sind die Erzählmittel und die Sprache, die zum Weiterlesen treiben und Lesevergnügen bereiten. Den Kapiteln (das erste kommt erst an dritter Stelle) ist eine Zusammenfassung vorangestellt, die wie Lesewerbung formuliert wird, in der beschriebenen Welt ist alles aus der Gegenwart wiedererkennbar – und doch bis zur Satire verformt. Die Neologismen sind dabei so treffend, dass ich mir umgehende Einverleibung in die Gegenwartssprache wünsche. Meine Lieblinge unter den Wörtern anzuführen, die Bov für den Roman erfunden hat, kommt einem Spoiler gleich – ich lasse Sie die selbst entdecken. (Aber einen davon hat Herr Kaltmamsell einen halben Abend lang immer wieder mit einem Lächeln vor sich hin gemurmelt.)

Ich empfehle die ausführliche Rezension und Analyse von Carsten Otte für den SWR:
“Buchkritik
Bov Bjerg – Der Vorweiner”.

Ebenfalls erhellend die Besprechung von Herrn Rau, dessen populärliterarische Bildung sehr viele Anspielungen und Bezüge findet:
“Bov Bjerg, Der Vorweiner”.

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Schöne Geschichte über ein US-amerikanisches Café, das für Gabriel Yoran eine eigene Welt war:
“Sie haben jetzt auch Cold Brew in Berlin”.

(Selbst, das wissen Sie vielleicht, möchte ich bitte nicht im Café gekannt werden. Das durfte nur ein Lokal, Marietta im Westend, und das ab meinem ersten Besuch – ich weiß bis heute nicht, warum mein Eigenbrötlerinnentum bei ihr und Kellner Ricco eine Ausnahme machte. Meine Erinnerung profitiert natürlich davon, dass diese Zeit auf etwa drei Jahre begrenzt war, weil sie dann keine Lust mehr hatte und zumachte: Ich musste mit keinen Veränderungen fertig werden, die schöne Zeit dort kann in ihrer abschlossenen Kapsel strahlen.)

Journal Donnerstag, 31. August 2023 – Ewald Frie, Ein Hof und elf Geschwister

Freitag, 1. September 2023

Das war nur eine sehr kurze Vorschau auf Wetterbesserung, nachts hatte es wieder ordentlich geregnet.

Beim ersten Klogang bekam ich aber noch den Vollmond zu sehen.

Ich ging unter dunkeldüsterem Himmel und in warmer Jacke in die Arbeit, zumindest regnete es jetzt nicht.

Emsiger Vormittag, gegen die Bürokälte brauchte ich wieder Strickjacke über Pulli. Statt Mittagscappuccino huschte ich für Obstkäufe auf den Markt am Georg-Freunddorfer-Platz – wobei das Huschen an der Schlange am Gärtnerei-Stand jäh endete: Die drei Kundinnen vor mir hatte vielfältige Erzählungen, Wünsche, Anliegen, denen die Verläuferin sehr herzlich und sorgfältig entgegen kam. Mit dem Ergebnis, dass ich meinen Kauf auf ein Kilo Zwetschgen für Wochenend-Kuchen beschränkte, um meine Mittagspause nicht zu sehr zu überziehen.

Zu essen gab es am Schreibtisch einen Kanten selbst gebackenes Brot, außerdem Mango (aromatisch aber Strickprojekt-inspirierend fasrig) mit Sojajoghurt.

Mittel-geschäftiger Arbeits-Nachmittag. Auf dem Heimweg (kalt, aber trocken, am Himmel blaue Flecken) steuerte ich wie geplant einen Weinladen in der Westendstraße an (zufällig entdeckt beim vorbeilaufen, eine deutlich sichtbare Lieferung vom burgenländischen Weingut Pittnauer hatte damals die Ausrichtung des geschlossenen Geschäfts verraten): Wir 2 lieben Wein. In deren Sortiment hatte ich nämlich online sowohl den Pittnauer Dogma Rosé als auch den roten Preisinger KalkundKiesel entdeckt. Ich nahm je zwei Flaschen mit und traf dabei auf die namensgebenden 2, Sabine und Tina; eine erfreuliche Begegnung, ich komme wieder.

Daheim erstmal die schon wieder ausgefallene Süddeutsche auf der Website moniert (mache ich erst abends, wenn ich wirklich, wirklich sicher bin, dass sie nicht mehr kommt), mich noch mehr geärgert, als ich für die Reklamationssseite zustimmen musste, dass meine Daten für Werbezwecke verwendet werden, ohne Opt-out-Möglichkeit (gleich mal per Kontaktformular gemeckert).

Dann die Abschlussfolge Yoga-Gymnastik Adriene “Move” geturnt – ich hatte sie vom 30. auf den 31. August verschoben. Abendessen aus frisch geholtem Ernteanteil: Blattsalat, Tomaten, Gurke mit Haselnussmus-Dressing (ein großartiger Kniff). Zum Sattwerden noch gekochte Eier und ein wenig von der Schinkenkrakauer, die uns einer unserer beiden polnischen Putz-Herren mitgebracht hatte. Nachtisch Schokolade.

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Ewald Frie, Ein Hof und elf Geschwister, nach drei autofiktionalen “Romanen” dieses Jahr also die Familiengeschichte eines universitären Historikers, Fakten- und Quellen-basiert – sehr gerne gelesen.

Bei allem Historikertum schafft Frie erst einmal einen menschlichen, persönlichen Bezug: Er steigt mit den einzigen drei Familienfotos ein, von 1947, 1960 und 1969, inklusive Geschichte der Aufnahmesituation.

Seine Methodik macht Ewald Frie anfangs transparent:

Das ist ihm gelungen: Genau diese Mischung macht das Buch in meinen Augen so einzigartig und charmant.

Die Struktur, die Frie seiner Erzählung durch Großkapitel gibt:
– “Familie, Bauernschaft und Dorf”
– “Die Jahre meines Vaters” (der deutlich älter als die Mutter war)
– “Die Jahre meiner Mutter”
– “Auszug”
– “Nachwelten”

Vieles in den historischen Beschreibungen des Hof-Alltags sagte mir etwas, zum Beispiel die Fachsprache des Viehhandels – ich habe in meinen Lokalredaktionszeiten Ende der 1980er, Anfang der 1990er immer gerne die Landwirtschaftsspalte verantwortet.

Doch am spannendsten waren für mich die Unterschiede zu dem Wenigen, was ich an landwirtschaftlicher Struktur kenne: Bayern unterscheidet sich völlig von Westfalen. So konnte mich überraschen, dass es im Münsterland einen Unterschied zwischen Hof und Dorf gab: Die titelgebenden elf Kinder wuchsen auf einem von vielen alleinstehenden Höfen auf, kamen kaum in Kontakt mit anderen Familien, ins Dorf musste eigens gefahren werden, und das geschah nur zum Kirchgang am Sonntag. In meinem Bayern waren Landwirtschaft und Dorf deckungsgleich, eine Ansammlung von Höfen ergab ein Dorf, Einsiedlerhöfe waren eine so große Ausnahme, dass sie eine eigene Bezeichnung bekamen. Doch so wie ich das in der Vergangenheitsform schreibe (Dörfer bestehen auch in Bayern nur noch zu einem Bruchteil aus Landwirtschaft), beschreibt Frie eine vergangene Struktur: Schon die jüngeren der elf Geschwister (unter anderem er selbst) mussten dank technischem Fortschritt nicht mehr so viel auf dem Hof arbeiten und sein, engagierten sich in Gemeinde und Vereinen, hatten eine Gemeinschaft außerhalb der Familie. Auch war mir nicht bewusst, wie neu die Selbstorganisation der Jugend in Verbänden und Vereinen ist: Sie begann erst im Nachkriegs-Deutschland.

Frie beschreibt und analysiert die strukturellen wie die sozialen Veränderungen seiner Herkunftsgegend, ihre gesellschaftlichen und politischen Ursachen (u.a. hätte ohne die Einführung von BAföG Anfang der 1970er niemand von den elfen mehr als Volksschule und Ausbildung absolvieren können, keiner und keine studieren; ohne staatliche Förderprogramme gäbe es den Frie-Hof seit Jahrzehnten nicht mehr), aber auch die menschlichen und ganz individuellen Auswirkungen auf die Familienmitglieder.

Viel Raum nimmt die sich verändernde Rolle von Frauen auf dem Hof ein, die mir in diesen Details neu war. (Passt hervorragend zu dem Buch, das von Helen Rebanks gestern erschien: The Farmer’s Wife, und das ich seit Bekanntwerden auf meiner Leseliste habe.)

Im letzten Kapitel “Nachwelten” denkt Frie darüber nach, ob diese Bildungs-Entwicklung der Kinder einen “Aufstieg” darstellt – er bezweifelt das: Er besitze “kein Land, kein Haus, keine Tiere, keine Apfelbäume, keine Feuerstelle” wie seine Eltern. Und auch nicht das Fachwissen seines Vaters zu Vererbungsqualitäten von Bullen, nicht dessen Ansehen auf DLG-Schauen, könne nicht das Wetter aus dem Zug der Wolken und der Farbe des Sonnenuntergangs ablesen. Sein Vorschlag: “Umstieg statt Aufstieg?”

Ein zeitspezifisches Detail in der Danksagung:

Die Idee zu diesem Buch gab es schon lange. Die Zeit, es zu schreiben, gab es, als coronabedingte Reise-, Kontakt- und Archivbeschränkungen ein anderes, bereits auf dem Weg befindliches Forschungsprojekt stoppten.

Das ist dann das zweite mir bekannte Werk, das es nur wegen Corona gibt. Das andere ist der gestern erschienene Roman Prophet von Helen Macdonald und Sin Blaché, gemeinsam im Corona-Lockdown geschrieben. (Ebenfalls auf meiner Leseliste.)

§

Annette Dittert, Leiterin des ARD-Studios in London, fasst die aktuelle Lage Großbritanniens für Blätter für deutsche und internationale Politik zusammen, sachlich und belegt. Wieder keine Überraschung dabei, dennoch wichtig.
“Geisterschiff Großbritannien: Verdrängen ohne Ende”.


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