Von gestern gibt es erfreulich wenig zu erzählen, es war Zeit für Ausruhen.
Nochmal eine gute Nacht, wieder grüßte morgens ein Halbmond über den Bäumen vorm Fenster, allerdings deutlich weiter links.
In aller Ruhe Morgenkaffee, nach Duschen und Anziehen ging es weiter mit Umzug: Das Kammerl in der alten Wohnung musste ausgeräumt, ein Platz für Putzmittel und -gerät gefunden werden, ebenso eine vorübergehende Heimat für meine Schuhe. Ich fegte ein wenig in der alten Wohnung herum, gründliches Saugen gibt es erst, wenn wirklich alles leer ist. Eine große Erleichterung für uns: Da die Wohnung grundsaniert wird, müssen wir keine Löcher in den Wänden verspachteln.
Ich ging raus und holte Frühstücksemmeln, es war kalt und trocken. Zwei Semmeln, Birne und Mandarine (ziemlich trocken, die Saison ist vorbei) zum Frühstück.
In der neuen Wohnung bestückte ich einen weiteren Schrank – vorläufig, der kommt bei verfügbarem Einbauschrank in meinem Zimmer woanders hin mit neuer Funktion. Dann war genug umgezogen für einen Sonntag, ich las die Wochenendzeitung auf einem Sessel am Fenster zwischen Bücherkisten.
Erste Möbel bestellt (neue Bücherschränke mit Glastüren fürs Wohnzimmer), Lieferzeit fünf bis sieben Wochen.
Ein Stündchen gebügelt; ich bin gespannt, wo sich in der dann eingerichteten Wohnung mein Bügelplatz ergeben wird. Liegengebliebene Zeitungen gelesen.
Nachtmahl wurde ein Kartoffelauflauf aus Ernteanteilkartoffeln, Zubereitung arbeitsgeteilt: Ich kochte und pellte die Kartoffeln, Herr Kaltmamsell stapelte, übergoss und buk (neuer Ofen noch verwirrend) sie zu Auflauf. Schmeckte in Ordnung, Nachtisch Schokolade.
§
Lange dachte ich, dass Meritokratie demokratisch sei, weil sie nach meiner Auffassung Aufstieg durch Anstrengung, Fleiß und Engagement bedeutete – mit dem Ergebnis, dass die Personen an die Spitze der Gesellschaft kamen, die sich besonders verdient gemacht hatten um die Gesellschaft. Ein Trugschluss, allein schon weil es keinen objektiven Maßstab für Leistung oder Verdienst gibt.
Ein Schlüsselmoment war, als ich eine besonders leistungsorientierte Frau aus gutem Hause sagen hörte, dass sie sich um ihr kleines Kind gar keine Sorgen mache: Selbst wenn es sich als faul und unbegabt erweisen sollte, hätte sie so gute Verbindungen, dass sie ihm sicher ein gutes Auskommen verschaffen könne. Herkunft schlägt (mit wenigen, dann oft erzählten Ausnahmen) Verdienste im Großen wie im Kleinen, an jedem Schritt im Leben.
In Republik macht sich Daniel Binswanger gründlichere Gedanken um Ursprung (eine Dystopie!) und Auswirkung des Konzepts Meritokratie und fasst die Überlegungen zusammen, die sich andere darum gemacht haben (Schreibung Schweizerisch):
“Gegen die Meritokratie”.
Was genau ist also Meritokratie? Es ist die Herrschaft derer, die es auch verdienen zu herrschen. Etwas technischer ausgedrückt: die Hierarchisierung der Gesellschaft gemäss dem objektiven Verdienst ihrer Mitglieder, gemäss ihren Fähigkeiten und Qualifikationen – oder eben ihren Meriten. Etymologisch leitet der Begriff sich ab vom lateinischen meritum, was Verdienst bedeutet. Praktisch bedeutet er etwas Simples: Die Hochqualifizierten und Kompetenten sollen oben in der Hierarchie stehen. Die Niedrigqualifizierten und nicht durch geistige Brillanz Auffallenden sollen sich mit einem Platz am unteren Ende begnügen. Moralisch bedeutet dieses einsichtige Organisationsprinzip jedoch noch etwas anderes: Wer oben steht in einer solchen Hierarchie, der hat es auch verdient.
(…)
Es ist grossartig, wenn Talent sich entfalten kann und wenn die Fähigen und Hochqualifizierten geschätzt, gefördert und mit allen Mitteln vor Diskriminierung geschützt werden. Aber eine Frage wird damit nicht beantwortet: Was geschieht mit den weniger hoch Qualifizierten und den weniger Fähigen? Mit denen, die die Mehrheit bilden? Sie sind in der Tat «moralisch nackt». Dass sie in der meritokratischen Hackordnung auf der Verliererseite stehen, haben sie sich selber zuzuschreiben. Die Gesellschaft teilt ihnen nicht nur ein bescheideneres Los zu, sie straft sie mit Verachtung. Worauf soll der Respekt auch gründen für Bürgerinnen, die aus eigener Schuld, in eigener Verantwortung und aller wohlmeinenden Förderung zum Trotz Herausragendes nicht leisten können?
(An diesem Problem kaue ich seit Jahren unter “Wohin mit unseren Deppen?”)
Eliteuniversitäten sind nicht das Sprungbrett für sozialen Aufstieg, sondern der Ort, an dem soziale Privilegien von einer Generation zur nächsten transferiert werden. Und das eigentliche Problem dabei ist, dass dies nicht hauptsächlich auf «gekaufte» Studienplätze zurückgeführt werden kann, sondern vielmehr darauf, dass die meritokratischen Selektionskriterien tatsächlich respektiert werden.
Die amerikanische Oberschicht ist nämlich dazu übergegangen, enorme Summen in die Ausbildung ihres Nachwuchses zu investieren. Das beschränkt sich nicht nur auf den Zugang zu Privatschulen, die ihren Abgängern einen Startvorteil verschaffen, sondern erstreckt sich auch auf das jahrelange Coaching für die College-Aufnahmeprüfungen, das mittlerweile noch teurer werden kann als das Studium selber.
(…)
«Der meritokratische Erfolg hat eine paradoxe moralische Psychologie», schreibt Sandel. «Kollektiv und im Rückblick betrachtet, erscheint sein Resultat, wenn man sich die erdrückende Dominanz von Kindern aus reichen Haushalten an Eliteuniversitäten ansieht, fast vorherbestimmt. Aber für diejenigen, die mitten im hyperkompetitiven Kampf um die Zulassung zum Studium stehen, ist es unmöglich, Erfolg als etwas anderes zu betrachten als das Ergebnis ihres ganz individuellen Efforts und ihrer ganz persönlichen Leistung.»
Es ist gewissermassen das Leitmotiv von Sandels Buch: Die Meritokratie erzeugt tatsächlich leistungsbereite und fähige Eliten, die aber selbstgerecht und überheblich werden. Sie ist eine permanente Aufforderung zur moralischen Hybris. Und das schafft politische Fakten.
Eine mögliche Konsequenz zieht John Rawls, der philosophischen Übervater des Linksliberalismus:
Es macht im Prinzip gar keinen Unterschied, ob soziale Hierarchien auf Klassenunterschieden oder auf der natürlichen Verteilung von Fähigkeiten beruhen: «Von einem moralischen Standpunkt aus betrachtet ist beides gleich arbiträr.» Deshalb gibt es für Rawls auch kein Argument dagegen, dem Tüchtigen einen Teil seines Einkommens wieder abzunehmen und es an die weniger Tüchtigen zu verteilen.
Wichtige Beobachtung vor allem wenn es um die Zukunft der Arbeit geht:
Thomas Frank, der schon 2004 ein wichtiges Buch über den heraufziehenden Rechtspopulismus publiziert hat und den Sandel ausführlich zitiert, fällt ein harsches Urteil über die linksliberale Bekämpfung der Ungleichheit durch Bildungspolitik: «Das ist im Grunde gar keine Antwort auf das Problem. Es ist ein blosses moralisches Urteil, gefällt von erfolgreichen Menschen vom Standpunkt ihres Erfolges aus. Die akademische Mittelschicht definiert sich durch ihre Ausbildungserfolge, und jedes Mal, wenn sie dem Land wieder erklärt, dass es mehr Bildung braucht, sagt sie im Grunde nur: Die Ungleichheit ist nicht der Fehler des Systems. Sie ist dein Fehler.»
§
Dieser Link ist ganz speziell für meinen Bruder, einst alias Libellchen. 
die Kaltmamsell