Von langer Hand hatte Herr Kaltmamsell einen Wochenendtag von Arbeit freigeschaufelt, damit wir endlich mal wieder wandern konnten. Ich bat um den Samstag, denn an Samstagen ist erfahrungsgemäß deutlich weniger auf den von München gut erreichbaren Wanderstrecken los als an Sonntagen. (Die Größe meiner Erleichterung, dass die Wanderhose mindestens so bequem saß wie vor einem halben Jahr, war mir peinlich, aber halt unausrottbar.)
Ich hatte länglich geschlafen, was auch deshalb gut war, weil mich Beinschmerzen lang nicht hatten einschlafen lassen. Benebelt fühlte ich mich dennoch.
Kurz vor zwölf nahmen wir eine S-Bahn hinaus nach Starnberg: Ich hatte eine Runde um Berg herausgesucht. Seit Oskar Maria Grafs Das Leben meiner Mutter hatte ich mir die Gegend ansehen wollten. Wegbeschreibung gab es keine, doch die GPS-Karte auf dem Smartphone reichte – wir waren ja nicht in Wildnis unterwegs.
In der Bahn frühstückten wir Laugenzopf und Nussschnecke, bei Ankunft war das Wetter sonnig, auch wenn über dem See Dunst hing. Mir fiel auf, dass ich noch nie am Bahnhof den Weg links um den See eingeschlagen hatte.
Wir kamen an vielen hübschen Häusern vorbei, an schönen Ortsnamen wie Percha und Leoni. Letzteres ist bereits ein Ortsteil von Berg; da der Name für die Gegend doch recht ungewöhnlich ist, recherchierte Herr Kaltmamsell dessen Ursprung. Und siehe da: Anfang des 19. Jahrhunderts hieß die Siedlung noch Assenbuch. An einer Stelle, an der das Ufer im Bogen in den See ragte (der damals noch Würmsee hieß), ließ Staatsrat Franz von Krenner ab 1810 eine Villa errichten, die er nach seinem frühen Tod dem verehrten Bassisten der königlichen Hofoper Giuseppe Leoni vermachte. Leoni baute die Villa in eine Pension mit Gasthaus um.
Leoni stellte sich als talentierter Gastwirt heraus und seine Frau Rosina war eine bemerkenswerte Köchin, der ihr Mann wohl die hohe Kunst der italienischen Küche beigebracht hatte. Bald kamen viele Gäste aus der Residenzstadt München angereist um am Starnberger See zu speisen.
Durch den technischen Fortschritt der Zeit (Kutschen erreichten Geschwindigkeiten von bis zu 4 Stundenkilometern!) war der Ort ja von München aus mittlerweile in gerade mal fünf Stunden zu erreichen.
Es verging nicht viel Zeit bis man im allgemeinen Sprachgebrauch nicht mehr in die Assenhausener Puech oder nach Assenbuch fuhr um erstklassig zu essen, sondern nach „Leonihausen“ oder einfach und kurz „Zum Leoni“. Beide Namen waren eine Ehrerbietung an das Wirtepaar und das hervorragende Essen, welches serviert wurde. Der Name „Zum Leoni“ setzte sich in den Köpfen der Gäste und der Einheimischen derart fest, dass der Ort viele Jahre später auch offiziell in Leoni umbenannt wurde. So wurde aus der Assenhausener Puech und Assenbuch Leoni.
Orte, die nach Wirtschaften benannt sind – das gefällt mir, siehe Münchner Stachus.
Essen planten wir erst am Schluss unserer Runde, am Ufer bis Leoni waren wir vor allem mit schönen Ausblicken und Mückenschwärmen beschäftigt. Wir erinnerten einander mehrfach daran, dass im derzeitigen Insektensterben jeder Mückenschwarm Grund zur Freude ist, mussten uns aber schon mit Anstrengung und viel Gefuchtel zu dieser Freude zwingen.
Wir wanderten vergnügt, besichtigten die Votivkapelle und die Stelle, an der König Ludwig II. 1886 tot aufgefunden wurde, den mächtigen Bismarckturm (?!) überm See, spazierten gemütlich durch Dörfer, grüßten Pferde, Laufenten, Stare, Spatzen, Reiher und viele, viele blühende Bäume. Die Temperaturen waren hoch genug für kurze Ärmel, nur auf windigen Anhöhen griff ich zur Jacke. Selbst lief ich locker und nur am Ende mit Schmerzen, Herrn Kaltmamsell, der nicht ganz so gut im Training ist wie ich, schnaufte an der einen oder anderen Stelle ein bisschen mehr.
Vergangenes Jahr hatte ich daran gedacht, dieses Jahr schon wieder nicht: Auch im April erzeugt Sonne Sonnenbrand. Ungecremt leuchtete die Haut abends im Ausschnitt rot.
Querfeldein-Radelnde kamen uns nur selten ins Gehege, das lag aber sehr wahrscheinlich an der Jahreszeit: Im Sommer würde ich die größten Teile der Runde eher nicht gehen wollen, sie sehen nach Radlerrennbahn aus.
Für die abschließende Brotzeit steuerten wir nach gemessenen 24 Kilometern und fünf Stunden Gehzeit mit zwei Pausen in Starnberg den Tutzinger Hof an, den wir in sehr guter Erinnerung hatten und den wir ob seiner vielfältigen Speisenkarte von vegan bis fleischig deftig und ob seiner aufmerksamen Umkümmerung wieder empfehlen können.

ÖPNV-Starren.



Mückenschwärme bedeuten wohl auch: Festmahl für die Spinnen in Leoni.

Votivkapelle St. Ludwig



Bismarckturm in Assenhausen. Jetzt weiß ich also, dass Bismarck in München eine riesige Fangemeinde hatte, zu der unter anderem Franz von Lenbach gehörte.

Pause in einer Kapelle hinter Aufhausen. Ihre Schradligkeit und Vernachlässigung erzählte mir mehr von Volksfrömmigkeit im Lauf der Zeiten, als es jede der vielen prächtig aufgerüschten Kapellen im Oberbayern könnten.




Klosteranlage Aufkirchen.

Oskar Maria Graf-Denkmal vor der Oskar Maria Graf-Volksschule in Aufkirchen.



Auf dem Borttzeitbrettl für zwei war die Sensation der Obatzte, den ich hiermit zum besten (für meinen Geschmack) jemals erkläre: Grob stückig ganz offensichtlich selbst gebatzt, frisch und fast schon leicht, fein abgeschmeckt. Neuigkeit seit unserem letzten Besuch hier: für jeden ein Minilaib frisch gebackenes Sauerteigbrot.
Am Nebentisch ein höchstwahrscheinlich erstes Date. Beide Parteien ausgesprochen wohlwollend auf der Suche nach einem gemeinsamen Thema. Begeisterte Erzählungen von Vorlieben bei Film und Fernsehen – die das Gegenüber jeweils nicht kannte, dennoch versuchte, die Begeisterung ernst zu nehmen und nachzuvollziehen. Austausch von Koordinaten wie Herkunft und Berufsweg. Ich habe sowas ja nie gemacht, nehme aber an, solche Dates sind immer so anstrengend?
Gemütliche Rückfahrt mit der S-Bahn und schönen Anblicken vor dem Fenster, daheim Wäscheaufhängen, Ansetzen von Brotteig, Internetlesen. 
die Kaltmamsell