Journal Freitag, 9. November 2018 – Ein fleischiges Kochbuch vorgekocht
Samstag, 10. November 2018 um 10:07So viel beschäftigt und unterwegs war ich doch eigentlich nicht, und so wenig Schlaf war das wirklich nicht (halt die eine oder andere Nacht mit sieben statt knapp acht Stunden) – aber gestern fühlte mich derart bis in Knochen erschöpft, als hätte ich eine brutale Arbeitswoche plus durchfeierte Nächte hinter mir, mein Kopf war migränoid schmerzhaft und benommen. Wahrscheinlich dann doch irgendein Infekt, der weiterhin bekämpft wird. Auf dem Heimweg machte dann auch der Kreislauf Sperenzchen mit Schwindel und Schweißausbruch inklusive Frösteln, ich war sehr froh, dass ich mich vor dem Abendtermin noch ein halbes Stündchen hinlegen konnte – und auch sofort einschlief.
Den Abend hatte ich bereits vor vielen Wochen gebucht, denn:
Bei einem meiner seltenen Facebook-Besuche sah ich, dass Foodbloggerin Petra Hammerstein (Blog: Der Mut anderer) endlich ein Kochbuch veröffentlicht, und zwar zu ihrer Kernkompetenz Fleisch. Es heißt Zart und saftig, und darin schreibt Petra über die heutzutage selten verwendeten Fleischschnitte, inspiriert von den alten Kochbüchern ihres Antiquariats und der eigenen Familientradition. Es ist nach Tierarten aufgeteilt und enthält neben Rezepten Warenkunde und Einkaufstipps.
Nachdem Herr Kaltmamsell in den vergangenen Monaten vermehrt mit ausgefallenen Fleischstücken experimentiert hatte (sogar irgendwann fallen ließ, Teile wie Entrecôte finde er mittlerweile langweilig – mein entgeisterter Blick ließ ihn aber versichern, mir brate er selbstverständlich auch weiterhin eines), dachte ich bei dem Buch sofort an ihn. Und als ich entdeckte, dass Petra einige Rezepte daraus an einem Supper-Club-Abend servieren würde, buchte ich umgehend.
Die Location kannte ich bislang nicht, den Meatingraum im Westend. Und ich hatte mich durchaus gefragt, wo das denn sein soll, denn die Gollierstraße gehe ich auf meinem Heimweg von der Arbeit regelmäßig entlang. Doch der Raum ist mit seinen sicher sieben Metern Fensterfront abends durchaus sichtbar, nämlich wenn er erleuchtet ist.
Gestern Abend waren alle 22 Plätze besetzt, und es gab neben dem Menü, das Petra mit dem Meatingraum-Chef Marc Christian gekocht hatte, interessante Weinbegleitung: Kathrin Kohl vom Weinladen 225 Liter hatte Raritäten zusammengestellt, die sie beim Einschenken ausführlich erklärte.
Und so gab es gestern neben neuen Bekanntschaften am Tisch samt interessanten Gesprächen:
Als Aperitif einen PetNat “Ungezogen” vom Weingut Schnitt nach méthode ancestrale, der mir dann doch ein bissl zu bittersauermostig schmeckte.
VitelloNoTonnato: Sous-vide-Tafelspitz mit einer Soße aus bayrischem Räucherfisch, frittierte Kapernäpfel mit Limettenmayo und Habanerohauch – eine sehr schöne, leichtere Variante des Klassikers. Im Glas einen fränkischen Auxerrois, der mit etwas Wärme schön vielfältig passte.
Tryptichon von Ox und Alk: Consommé als Shot mit Sherry, Ragout mit Madeira auf Röstbrot, Portwein-Sülze – der Ochsenschwanz schmeckte so schön aromatisch, dass ich mir sofort Wiederkochen vornahm. Die Weinbegleitung war meine Entdeckung des Abends: Ein Winzerwermuth vom Silvaner, Vogel, Franken. Eher auf der süßen Seite passte er nicht nur hervorragend, sondern war die Variante, die mir in der neuen Wermuth-Bewegung bislang am besten schmeckte, weil am ungewöhnlichsten. (Vielleicht sollte ich erklären, dass ich aus einer Wermuth-Familie komme: Der spanische Einfluss durch meinen Madrider Vater machte bei uns daheim Wermuth zum Standard-Aperitiv.)
Versaut von Kopf bis Bauch: Bäckchen in Safran, Schmorzwiebeln, Graupenrisotto, Sous-vide-Bauch mit Orange und Miso – die Orangennote machte sich ganz ausgezeichnet. Im Glas ein Württemberger Lemberger, der wieder ganz schön rass war, den ich mir mit seiner starken Säure gut zu einem Rote-Bete-Gericht vorstellen konnte.
Hello China: Geschmorte Rinderwade aus Shanghai mit verprügelten Szechuan-Gurken, Koriander-Eier-Reis, Röstsesam – umgehender Nachkoch-Auftrag für das Fleisch an Herrn Kaltmamsell, die geprügelten Gurken kannte ich bereits vom Uiguren und genoss sie sehr, der Reisbrei war eine schöne Beilage. Beim Wein kam ich ganz auf meine Kosten: ein sardischer Musso, Vignaioli Contrà Soarda erinnerte mich daran, dass ich sardische Weine mit ihrer Kraft und der vulkanischen Note besonders mag.
Dessert: BEIDES!! Käse und WasSüßes, harmonisch vereint – Milder Ziegenkäse mit Thymian-Honig und Mandel-Chili-Krokant, Feigen-Apfel-Tarte mit Roquefort und Pflaumen-Zwiebel-Marmelade. Passte alles wunderbar zusammen, der süße Blaufränkisch Syss vom Neusiedler See war die Wucht.
Während mein Organismus wie immer auch bei Erschöpfung in abendlicher Gesellschaft nochmal alles zusammenkratzte, kämpfte Herr Kaltmamsell schon sehr mit seiner nicht minder großen Erschöpfung. Nach dem Essen plauderte ich noch ein wenig mit Petra, ließ mir ein Exemplar ihres Buches signieren, dann gingen wir eher schneller nach Hause.
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Weiteres Nachdenken über die Bürgerversammlung: Mir war aufgefallen, wie verschieden die Anliegen formuliert und präsentiert wurden, viele davon naturgemäß ganz unprofessionell, es handelte sich ja um ganz normale Mitbürger. Zum Beispiel mit offensichtlicher Leidenschaft – aber genau deshalb mit komplett irrelevanten Argumenten, die vom eigentlichen Anliegen nicht nur ablenkten, sondern manchmal sogar abschreckten. Oder weitschweifend in Klagestimme. Oder mit Nachtarock bei der Rückkehr zum Stuhl: “Oh, das habe ich noch vergessen!” Genau so muss das.
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9. November – man weiß gar nicht wohin vor lauter Gedenken. Für mich werden im Vordergrund immer die anti-jüdischen Pogrome von 1938 stehen. Zumal bis heute wir, die Täterseite, darauf beharren zu bestimmen, wie das Gedenken auszusehen hat.
Wie weit das geht, wurde mir erst kürzlich klarer, als ich nämlich im Blog von Richard C. Schneider las, dass die neue Synagoge in München, über die ich mich so gefreut hatte, keineswegs der Wunsch der jüdischen Gemeinde gewesen war: Sie hatte ein Gemeindezentrum gebraucht, das bekam sie nur in Kombination mit einer Synagoge. Und musste dafür den Gedenkstein am Platz der 1938 zerstörten Synagoge aufgeben:
“Die Funktion der Juden in Deutschland / Teil 2”.
Es lohnt sich anzusehen, wie die Opferseite der Shoah gedenkt, alljährlich:
In Israel heulen am Jom haScho’a im gesamten Land um 10 Uhr für zwei Minuten die Sirenen.
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Nach all der Erschöpfung und Aufregung ein wenig Soothing Eye Candy: Nach der Kür des sexiest man alive (Idris Elba, keine Einsprüche) suchte ein Twitter-Faden den
Sexiest Man Dead.
via @isabo_, eingeführt mit: “Gute Güte, was für ein Thread. Mein Riechsalz!”