Journal Dienstag, 25. September 2018 – Münchens NS-Vergangenheit vor Käseverkostung
Mittwoch, 26. September 2018 um 9:28Urlaubsprogrammpunkt war das NS-Dokumentationszentrum.
Doch davor standen Ausschlafen, Morgenkaffee mit Bloggen, zwei Maschinen weiße Wäsche.
Dann war es schon Vormittag und ich hatte großen Frühstückshunger. Über den Josephsplatz (Bücher abholen) spazierte ich in knackig kalter Sonne in die Türkenstraße, um im verlässlichen Café Puck zu frühstücken – in dem ich an einem Wochentag bislang immer einen Tisch dafür bekommen habe.
Renovierung legte in der Schillerstraße Vergangenheit frei.
Käsefrühstück.
Es war immer noch wundervoll sonnig und immer noch wunderlich kalt, als ich die zehn Minuten hinüber ins NS-Dokumentationszentrum ging. Die letzten Jahre seiner Entstehung hatte ich aufmerksam mitverfolgt, die Diskussionen über Ort, Form, Architektur, Konzept. München hat schwer erträglich lang gebraucht, sich systematisch und kommunikativ mit seiner NS-Vergangenheit zu befassen. Bezeichnenderweise waren es Bürgerinitiativen, die das Thema vorantrieben. Aber jetzt steht es endlich da, eröffnet 2015, in meinen Augen am perfekten Ort, nämlich auf dem Platz der damaligen NSDAP-Zentrale, des “Braunen Hauses”.
Im Aufzug in den 4. Stock: Dort beginnt die Ausstellung.
Die fast drei Stunden, die ich in der Ausstellung verbrachte, drehten mich durch den Fleischwolf – vor allem durch die geschilderten gesellschaftlichen Mechanismen, die mir so gar nicht zeitgebunden und einmalig erschienen. Ich fragte mich immer wieder, wie die Forschenden es wohl schaffen, die erforderliche Distanz zu ihrem Forschungsthema zu bewahren. Dabei strebt die Ausstellung ganz offensichtlich Sachlichkeit und Nüchternheit an – auch bei der Behandlung der wichtigen Ebenen Emotion, Manipulation, Terror.
Was ich bereits wusste: Das hier ist kein Museum, ganz betont nicht. Also keine Exponate, keine Originalstücke, keine Szenerien – das hätte einen Pilgerort für Nazis erzeugt. Als ich mich kürzlich aus gegebenem Anlass erinnerte, wie oft und gründlich die Greuel der Nazi-Gesellschaft 1933-1945 in der Schule besprochen wurden, die Auswirkung von Rassismus und völkischem Denken, musste ich erkennen, dass dieser Unterricht wohl nicht bei allen ein “Nie wieder!” hervorgerufen hatte: Es mehren sich die Anzeichen, dass ein gewisser Anteil Schülerinnen und Schüler mit “Prima Idee” reagiert hatte.
Die zweisprachige Ausstellung auf vier Stockwerken, deutsch und englisch, besteht aus Stellwänden mit chronologischen Informationen, aufgehängt jeweils an einem großen Bild. Jede Stellwand besteht aus einem längeren Text und einer Bilderklärung. Auf weiteren Stellwänden laufen Filme oder Bildreihen, dazwischen stehen Tische mit thematischen Infos und Quellen. Ich holte mir auch den Audioguide, der die Stellwände mit Erklärungen und O-Tönen von Zeitzeugen ergänzt – eingeleitet von dem Hinweis, dass Einzelstimmen immer subjektiv gefärbt sind und Erinnerungen unzuverlässig.
Gleich am Anfang erlebte ich den architektonischen Kunstgriff, über den ich bereits gelesen hatte: Von innen ist das äußerlich so trutzig wirkende Bauwerk völlig durchlässig und öffnet sich aus jeder Perspektive nach außen. Die Dokumentation findet nicht in einem abgeschlossenen Raum statt, sondern als Teil Münchens, das man durch die Fenster sieht.
Es war dann wenig überraschend der Abschnitt über Zwangsarbeit während der NS-Zeit, der mich voll erwischte.
Erinnerungen an die Erzählungen meiner polnischen Großmutter, als junges Mädchen als Zwangsarbeiterin aus Südpolen verschleppt: Wie sie ein gelbes P auf jedes außen getragene Kleidungsstück hatte nähen müssen, wie sie sich heimlich im Wald mit anderen Zwangsarbeitern getroffen hatte, um gemeinsam zu singen, wie sie einem “bese Baure” (bösen Bauern) zugeteilt war, ihre Schwester zum Glück einem “gute Baure”, der sie mit durchfütterte. Meine Mutter wurde ihr wohl nur deshalb nicht gleich nach der Geburt weggenommen, weil eine gutherzige Einheimische sie als ihr Kind ausgab.
Wider besseres Wissen ertappte ich mich dabei, wie ich auf den Fotos der Ausstellung nach meiner Oma in jung Ausschau hielt – wider besseres Wissen, da sie ja nicht in München, sondern im schwäbischen Burlafingen eingesetzt worden war und obwohl die Zwangsarbeiterinnen auf den Fotos kein P, sondern einen Aufnäher “OST” für Ostarbeiter trugen. Was vielleicht in der Architektur fehlt: Ecken, in denen man ungestört weinen kann. Aber dafür gibt es ja viele Fenster zum scheinbaren Rausschauen.
Nein, ich schaffe es immer noch nicht, dem Leben dieser Großmutter systematisch hinterher zu recherchieren. Vor Jahren hatte mich ein Experte auf das NS-Zwangsarbeiter-Dokumentationszentrum in Berlin hingewiesen, doch alles in mir will nur wegrennen. Vielleicht ist die nächste Generation weit genug davon entfernt.
Ich war froh, dass daheim Bügelwäsche auf mich wartete und mir ein wenig Raum zur Verarbeitung bot. Zum Nachdenken, wie einfach es aus zeitlichem Abstand ist, einen roten Faden in historischen Abläufen zu finden, sie in Ursache und Wirkung zu strukturieren. Wie unmöglich das in der Gegenwart ist. Und darüber, dass mein schönes München für mich jetzt erst mal aus vergifteten Orten besteht: In der Innenstadt gibt es ja schier keine Ecke, die nicht belastet ist.
SCHNITT
Abends radelte ich mit Herrn Kaltmamsell zu einer lange gebuchten Veranstaltung in Neuhausen: Er hatte schon vergangenes Jahr eine Käseverkostung beim Tölzer Kasladen geschenkt bekommen, die nahmen wir jetzt wahr. Chefin Susanne Hofmann führte mit ungeheurer Kundigkeit durch Käse und Weine, ich lernte eine Menge. Brauchte allerdings eine Weile und ein Glas Wein, bis ich über das Gefühl der Frivolität nach den Erlebnissen des Nachmittags hinweg kam.
Wir hatten reizende Tischnachbarn, ich probierte 18 Käsesorten, habe neue Lieblinge, bin im Zusammenspiel mit Stinkekäse mit buttrig-holzigem Chardonnay (Pfalz, Borell-Diehl) versöhnt, habe Zweigelt als wunderbaren Begleiter von Hartkäse kennengelernt.
Nächtliches Heimradeln unter riesigem Mond in noch knackigerer Kälte.
Für einen Tag war das insgesamt ein wenig viel.