Der Familienjuchzer

Samstag, 3. Dezember 2005 um 16:00

Wenn meine Mutter erschrickt, macht sie einen Juchzer. Er klingt wie der Laut, den man gern aus bewegungsreichen Volksfest-Karussells in weiblicher Stimmlage hört. Das ist eigentlich seltsam, denn normalerweise atmet der Mensch beim Erschrecken doch ein, nicht aus. Es ist möglicherweise das ruckartige Hochziehen der Schultern, das im Fall meiner Mutter die Luft hinauspresst, und weil das durch die Stimmritze hindurch passiert, juchzt sie. Hoch und laut. Schon als Kind lernte ich, dass dieser Juchzer nicht etwa bedeutete, dass sie sich verletzt hatte. Selbst Sachschaden indizierte er nur, wenn ihm wüste bayrische Flüche folgten.

Zu vernehmen war der Schreckensjuchzer auch, wenn die Familie sich im Winter Samstag- und Sonntagmorgen zum Skisportgucken vor dem Fernseher einfand und heftig mitfieberte: Die meisten gefährlichen Situation erschreckten meine Mutter zum Juchzen. Das nervte mich ziemlich, da ich über ihren Juchzer erheblich mehr erschrak als über einen gerade noch mal nicht gestürzten Ingemar Stenmark.

Nur: Vor ein paar Jahren ist auch mir dieser Juchzer gewachsen. Seit etwa sieben Jahren reagiere ich auf viele Schrecken (seltsamerweise nicht alle) mit exakt dem durchdringenden Laut, der mich an meiner Mutter so genervt hat. Ich kann nichts dagegen tun. Der Mitbewohner, der mich juchzerlos kennen lernte, war zunächst bei jedem Juchzer, den er – meist aus der Küche – hörte, in großer Sorge und eilte mir zu Hilfe. Ich musste ihm erst beibringen, die dem Juchzer folgenden Geräusche abzuwarten: Ein Scheppern, Klirren, Platschen oder Hilferuf bedeuteten tatsächliches Unglück, das sein Eingreifen erforderte. Ansonsten war ich einfach nur erschrocken. Sehr peinlich.

Zum Beispiel heute. Mit strömendem Regen als Test für die Authentizität meiner Bewegungslust hatte ich gerechnet – nicht aber mit Eisregen in der vorhergehenden Nacht. Es war heute Morgen scheißglatt auf den Uferwegen der Isar. Diesmal hatte ich überhaupt nichts von den schönen Ausblicken, denn mehr als die paar Meter vor meinen Füßen schaute ich lieber nicht an. Dennoch verlor ich mehrfach den Halt – und musste juchzen. Fünfmal erschallte heute der Kaltmamsell’sche Familienjuchzer durch die Isarauen, einmal davon laut genug, eine Läuferin vor mir zum besorgten Umdrehen zu bewegen. Ich rief beruhigend „nix passiert!“, vermutlich hält sie mich für überkandidelt und wünscht mich in eine Aerobic-Halle.

die Kaltmamsell

4 Kommentare zu „Der Familienjuchzer“

  1. pepa meint:

    Ach liebe Kaltmamsell, Du hast eine so warme, ausgebildete und chorerprobte Stimme – Dein Juchzer ist sicher Balsam für die Ohren.

    (((Hier läuft gerade die “Arie der Königin der Nacht”….
    ……gesungen von Florence Foster Jenkins…..
    Meine Kinder finden so etwas momentan sehr sehr komisch – meine Ohren weniger! *waaaaahhhh!*)))

  2. die Kaltmamsell meint:

    Ahhh, meine Freundin Florence! Auch wenn ich sie sehr liebe, mehr als eine halbe Nummer am Stück ertrage ich nicht. Genau wie ein Ton aus ihrer abgehackten Königin-der-Nacht-Koloratur klingt dieser Familienjuchzer, ehrlich.

  3. Tanja meint:

    Das ist wieder einmal kaltmamsell’sche Kunst: Illustration von Familienbanden durch Beschreibung von Familienlauten. Wunderbar.

  4. eria meint:

    gott, musste ich grad lachen… ich hab auch so was ähnliches vererbt bekommen und ich bin sowas von froh, nicht allein auf dieser welt zu sein.

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