Die Nacht war wieder ein bisschen besser, ich arbeite mich an Normal heran.
Temperatur knapp über Null, dennoch vorsichtiger Arbeitsweg, weil genau bei diesem Wetter der Boden gerne mal mit Glätte überrascht. Abkürzung des letzten Wegstücks durch die U-Bahn-Unterführung Heimeranplatz.

Nachdem schon seit Wochen auf den Werbeflächen unten an den Gleisen nur Eigenanzeigen der Stadtwerke zu sehen waren (die Münchner Verkehrsgesellschaft MVG gehört zu den Stadtwerken), gibt jetzt auch niemand mehr Geld aus für die Großflächenplakate in den Gängen. Wieder ein bisschen apokalyptisch.
Der Tag blieb sehr düster, es regnete, wurde kälter und schneite einmal gründlich.
Aus dem Augenwinkel sah ich durchs Fenster immer wieder einen großen Krähenschwarm, der ein wenig murmurierte, sich dann wieder auf einem riesigen malerischen winterkahlen Baum niederließ.
In der Arbeit fühlte ich mich sehr wie eine siegreiche Kriegerin, als ich auf einer völlig überlasteten Website etwas Berufliches bestellte – mich Web-Oma konnte kein zerschossenes Layout abschrecken. Gleich drauf hätte ich mich für eine kleine Änderung in ein unbekanntes CMS eindenken müssen: Ich suchte statt dessen nach einer HTML-Ansicht, darin ging’s schnell und verlässlich. WIR HABEN UNSERE ERSTEN BLOGS JA NOCH MIT BINDFADEN UND HAMMER GEBAUT!
Mittags gab es ein Butterbrot und eine Kiwi, nachmittags eine Scheibe trocken Brot.
Heimweg über eine festgetretene Schneedecke, die an vielen Stellen verdächtig glänzte: Ich ging wieder vorsichtig und mit stabil angespanntem Rumpf. Einkaufsabstecher zum Vollcorner, ich arbeitete unsere Liste ab.
Herr Kaltmamsell hatte den ersten Ernteanteil des Jahres abgeholt. Nach einer Runde Yoga war daraus das Abendbrot Radicchio als Salat mit Balsamicodressing, außerdem Käse, Brot.
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China Miéville, The City and the City hatte ich am Wochenende ausgelesen. Ein Krimi in einen utopischen Set-up: Er spielt in einer Stadt, die aus zweien besteht, Besźel und Ul Qoma. Geografisch sind sie an exakt derselben Stelle, exisiteren aber in parallelen Wahrnehmungswelten. Die Menschen haben von klein auf gelernt, die jeweils andere Stadt zu ignorieren, to unsee, selbst wenn sie die Straße oder den Park mir ihr teilen. Sprache und Kultur sind so unterschiedlich, dass es Spezialitätenrestaurants der einen Stadt als exotische Ausgehmöglichkeit in der anderen gibt. Um von der einen in die andere Stadt zu kommen, muss man durch ein riesiges Amt, die Visumsmodalitäten sind streng und komplex – um am Ende das Amt geografisch am selben Ort zu verlassen. Die Einhaltung dieser Wahrnehmungsfarce überwacht eine Institution, die über beiden Polizeien und Regierungen steht: Breach. Einwanderer dürfen die Städte erst nach wochenlanger Schulung betreten, selbst Touristen müssen belegen, dass sie über die Grundzüge Bescheid wissen.
Die Krimihandlung beginnt, als in Besźel eine Leiche aus Ul Qoma auftaucht. Der Inspector Tyador Borlú übernimmt die Ermittlungen, muss dazu aber auch mit seinem Gegenstück in Ul Qoma zusammenarbeiten, mit Senior Detective Dhatt. Ihre Recherchen entlarven einige Schwachstellen des Systems.
Ich fand das Set-up so attraktiv, dass ich den Roman unbedingt lesen wollte. Allerdings stellte ich im Lauf der Lektüre fest, dass ich mich immer weniger hineinfallen lassen konnte – anders als in andere utopische Realitäten. Je weiter ich las, desto häufiger stolperte ich über die schiere Hanebüchenheit dieses unsee, des eisernen Ignorierens der eigenen Wahrnehmung. Auch bekam ich zu wenige Hinweise, wodurch sich die Menschen der einen von denen der anderen Stadt unterschieden, sodass ihre Zugehörigkeit jederzeit eindeutig war. Ich konnte mir die erfundene Welt immer weniger statt immer besser vorstellen. Dewegen war ich schlussendlich enttäuscht: Das Konstrukt hielt der Nutzung durch die Krimihandlung nicht stand.
Interessant ist der Grundgedanke des Romans weiterhin. Für mich rief er von Anfang an: „ALLEGORIE!“ Am ehesten eine Allegorie auf Rassismus, genauer: auf Segregation. In einer segregierten Gesellschaft, zum Beispiel der in den USA der jüngeren Vergangenheit, teilten sich die weiße und die nicht-weiße Bevölkerung den geografischen Raum, es gab wie im Roman getrennte und gemeinschaftlich genutzte Bereiche. Gleichzeitig lebten sie in verschiedenen Welten, ignorierten einander. (Unterschied zu The City and the City: Die nicht-weiße Bevölkerung schwebte in ständiger Gefahr von Gewalt durch Weiße.)
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Das Jahr ist noch jung, doch ist es nicht nur sofort stürmisch in Negativ-Konkurrenz zu 2020 getreten, sondern hat bereits einen musikalischen Internet-Star (vor zwei Wochen schon mal vorgestellt). Sollten Sie diesem Ohrwurm bislang entkommen sein, klicken Sie NICHT hierauf. Sollten Sie den Wellerman ohnehin seit Tagen vor sich hin summen, ist’s eh schon wurscht. (Inklusive historischem Hintergrund.)
Ach, wenn wir schon dabei sind: Sieben Minuten Rechercheergebnisse zu #SEASHANTYTOK und der Geschichte von Sea Shantys.
