Archiv für Dezember 2023

Journal Mittwoch, 6. Dezember 2023 – Christkindl-Nachtmahl

Donnerstag, 7. Dezember 2023

Herrn Kaltmamsell sah ich auch gestern Morgen nur sehr kurz vor seiner Jagd nach Fahrt in die Arbeit – aber er hatte genug Zeit gefunden, mir einen Schokoladen-Nikolaus vor die Tür zu stellen. <3

Das Draußen suppte und schmolz. Wieder bepackt für Weihnachtsfeier stellte ich schnell fest, dass die am besten geräumten Gehsteige die glattesten waren: Auf ihnen war der nächtliche Eisregen noch nicht ganz fortgeschmolzen. Ich hielt mich an Sulzschneeflächen mit erkennbaren Splitt-Punkten.

Im Klinikviertel standen wieder Verdi-Zelte, ich fand allerdings keine Nachrichten über Warnstreiks.

Die innere Dezember-Düsternis macht mir mal wieder klar, dass ich noch so sehr äußerlich das Hochleisten aufgegeben haben mag: Das schlechte Gewissen, weil ich ja offensichtlich so viel mehr könnte und eine einzige wandelnde Vergeudung bin, aber halt einfach nicht mehr mag, kriege ich in diesem Leben nicht mehr weg.

Nach einem emsigen Vormittag hatte ich halbwegs Lust auf Mittagscappuccino, ich ging dafür rüber zu Nachbars, die Jacke konnte unterwegs offen bleiben.

Die Bürotemperatur war gestern auf dem hohen Prä-Corona-Stand, als ich ganze Winter lang in Bluse arbeiten konnte. Im Wollpulli war mir jetzt zu warm, nur Unterzieh-Shirt reichte aber nicht. (Irgendwas ist immer. Aber nur bei echtem Frieren und hilflosem Schwitzen werde ich böse.)

Mittagessen Pumpernickel mit Butter, eine Banane, die letzte der ersten zehn Kilo Crowdfarming-Orangen.

Auch den Nachmittag rumgebracht. Auf dem Heimweg wieder ein Einkaufsstopp: Beim Vollcorner besorgte ich Zutaten für die am Wochenende geplante vegane Plätzchenbäckerei (für die Familien-Adventskaffeetafel am Folgewochenende).

Daheim wurschtelte ich nur kurz, zum Abendessen ging es wieder auf den Christkindlmarkt am Sendlinger Tor. Diesmal war der erste Gang eine Käsekrainer.

Hier sehr gut erkennbar, warum sie auch “Eitrige” heißt. War genau auf den Punkt gebraten (ich weiß doch, warum Christkindlmarkt für mich vor allem gute Bratwurscht bedeutet), schmeckte hervorragend. Zweiter Gang Pommes (dieses Jahr vermisste ich am Sendlinger Tor den gewohnten reinen Pommes-Stand mit großer Saucen-Auswahl) vom Bratwurschtstand, wenig Rot, viel Weiß.

Nachtisch in Form vom Schokolade gab’s daheim.

Früh ins Bett zum Lesen. Grete Weil, Der Weg zur Grenze nahm mich mit ins München zwischen den Kriegen (also wieder in die Zeit von Menschen im Hotel), in einen Jugendsommer an der Prinzregentenstraße, in eine gebildete und weltläufige Familie – ich konnte mich schwer losreißen.

Gute Tagesfrage:

– Die vor einem Jahr gekauften Drucke von @giselle_dekel von Tel Aviver Bauhaus-Ansichten rahmen lassen. Mache ich sicher nicht jetzt im Weihnachtsgeschäft, auf Januar verschoben.
(Haben Sie schon hierüber gelacht?)
– Vierwöchige Reise per Bahn nach Sizilien (Stop-over in Neapel). Zugunsten innig gewünschtem Großfamilienurlaub nach Spanien gecancelt. Vielleicht nach Renteneintritt (weil mit Lehrer Herrn Kaltmamsell vier Wochen Reisen am Stück nur in den Sommerferien möglich sind, da ist mir Sizilien zu heiß und voll).

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Nochmal zum immer noch nicht überwundenen Öffi-Fiasko nach dem samstäglichen Schneefall in München. Ein heimischer Tram-Nerd über die einzig verbliebene Schneeräum-Tram. Aus dem Jahr 1926 (in Worten Neunzehnhundertsechsundzwanzig).
“Das notwendige Alte in einem zeitgemäßen Betrieb”.

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Eine Techniktagebuchgeschichte über mobilen Obst- und Gemüseverkauf:
“Der Live-Standort des Traktors”.
Sie berührte mich, weil sie eine Kindheitserinnerung wachrief: Eine Handglocke und den Ruf “Katoffe giiibt’s! Katofeeeee!” Das habe ich in Ingolstadt noch erlebt, zumindest im ersten Wohnblock, in dem ich bis sieben wohnte. Ein ortsansässiger Landwirt oder eine Landwirtin fuhren ihren Traktor mit Anhänger durch die Straßen und verkauften, genau: Kartoffeln. Meiner Erinnerung nach wurde das Angebot von den Wohnblockbewohnerinnen gerne angenommen, auch von meiner Mutter.

Heute, nehme ich an, würde das Angebot schon deshalb ins Leere laufen, weil tagsüber niemand daheim ist?

Journal Dienstag, 5. Dezember 2023 – Vicki Baum, Menschen im Hotel / Weiterhin Winternotfall

Mittwoch, 6. Dezember 2023

In Vicki Baums Roman von 1929 ist genau das drin, was drauf steht: Menschen im Hotel. Er erzählt zum einen Geschichten die ganze Hierarchie der Angestellten durch, vom kleinsten Pagen bis zum Hotelleiter, nimmt sie alle ernst.

Zum anderen die Geschichten der Gäste, im Mittelpunkt steht aber nicht etwa eine der mondänen Gestalten: Herr Kringelein ist die am reichsten ausgebaute Figur (für die es auch am besten ausgeht). Der kleine Buchhalter aus der Provinz weiß, dass er nicht mehr lang zu leben hat und möchte von seinen Ersparnissen, die er bald eh nicht mehr braucht, “endlich leben”. Der Roman lässt ihn viel erleben und lernen, neckt ihn zwar hin und wieder, macht sich aber nie über ihn lustig.

Einen richtigen Bösewicht gibt es unter all den Menschen nicht, mit jedem und jeder hat die Erzählung Erbarmen – freut sich an der Vielschichtigkeit und den Widersprüchen von Charakteren.
Ich mochte auch die vergnügte Opulenz der Sprache, die sich nach einer Erzählstimme las, die niemandem irgendwas beweisen muss.

Durch die Szenerie der Handlung lernte ich zudem viel über längst vergangenen Alltag, seine Mechanik (Hotels mit Schreibzimmer, der Luxus von fließend warmem Wasser, nachmittäglicher Tanztee) und seine Technik (u.a. Aufzüge mit Fahrer, neu installierte elektrische Außenbeleuchtung).

Richtig gut gemachte Unterhaltung ist selten – und eine, die sich auch fast hundert Jahre später noch verkauft, muss eine erst mal schreiben.

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Als mein Wecker gestern wie gewöhnlich um 5:45 Uhr klingelte, war Herr Kaltmamsell schon aus dem Haus und auf der Jagd nach einer Fahrt in die Arbeit (die dann deutlich zügiger klappte als am Montag).

Meinen Arbeitsweg wiederum trat ich ordentlich beladen mit Hardware für die Weihnachtsfeier an. Zum Glück hatte es in Münchens Mitte kein neues Eis durch Eisregen gegeben, die festgetretenen, aber zum Großteil gestreuten Wege waren nicht rutschiger als am Montag, ich kam gut voran.

Der Morgen graute hell, vormittags auf der Tonspur vorm Büro das Tropfen schmelzenden Schnees.

Die Beschwernisse des Münchner Öffentlichen Verkehrs hielten an, es taten sich immer mehr Abgründe auf:

Nachdem Gleis- Räumfahrzeuge entgleist sind, müssen Mitarbeiter der Münchner Verkehrsgesellschaft (MVG) die Rillen der Trambahnschienen jetzt mühsam per Hand von Schnee und Eis befreien.

Hieß es in den BR-Nachrichten.

Mehr Hintergrunddetails hatte die Abendzeitung:
“Schneechaos in München: Ein Oldtimer räumt die Tramgleise für die MVG”.
via @CucinaCasalinga

Laut Pro Bahn waren bei der Tram früher bei Schneefall die älteren und unempfindlicheren Hochflurstraßenbahnen die ganze Nacht im Einsatz, um ein Einfrieren der Infrastruktur zu vermeiden. Die früher üblichen Schneepflüge vor Trambahnen sind demnach verkauft oder verschrottet, die Ersatzkonzepte mit Unimog führten nicht zu geräumten Strecken.

In diesem Artikel auch interessant: Nach welcher Priorität der Räum- und Streudienst des Baureferats seine Dienstleister in Einsätze schickt.

Dann wiederum erfreute mich ein unverwechselbarer Pfiff vorm Bürofenster: Die Weihnachtslok war unterwegs!

Mittags eine weitere und jetzt wohl letzte Einkaufsrunde für die Weihnachtsfeier. Beim Verlassen des Hauses sah ich eine mittelgroße Ratte im Gebüsch kruschen und beobachtete sie eine Weile. Beim Zurückgehen durch die U-Bahn-Unterführung sah ich dann ein kugeliges Mäuslein huschen – so niedlich!

Mittagessen eingeweichtes Müesli mit Joghurt, Orangen.

Emsiger Nachmittag, überschattet von Kreuz-/Unterleibsschmerzen.

Auf dem Heimweg war es weiterhin tauend mild, ich ging über Süßigkeiten-Einkäufe beim Edeka. Zu Hause saß Herr Kaltmamsell in einem Elternsprechabend: Anders als der Unterricht war dieser Termin wegen der Witterungsbedingungen auf online umgewidmet worden.

Ich machte derweil Yoga-Gymnastik: Nachdem ich gemerkt hatte, dass die nächste Folge nur aus Schnaufen und Liegen mit besinnlichem Geplapper bestand (mittlerweile verschaffe ich mir vorsichtshalber immer vorher einen Überblick), übersprang ich sie und turnte eine Folge mit Bewegung.

Herr Kaltmamsell war fertig mit Elternsprechen, er kochte uns schnelle Muschelnudeln mit scharfer Tomatensauce, sehr gut. Nachtisch Schokolade.

Meine neue Lektüre gab’s diesmal wieder in der Stadtbücherei: Grete Weil, Der Weg zur Grenze.

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“‘Der Trend zur Autofiktion ist eine Antwort auf die Macht der Verlage'”.

Erfolgreiche Romane sind zunehmend das Ergebnis großer Teams. Der Literaturwissenschaftler Dan Sinykin erklärt, wie Verlagskonzerne derzeit den Buchmarkt verändern.

Hochgradig spannend in meinen Augen, wie nicht nur in der bildenden Kunst, sondern auch in der schreibenden Marktmechanismen den Wert bestimmen. Und interessant, dass sich die Literaturwissenschaft damit beschäftigt.

Journal Montag, 4. Dezember 2023 – Tag 3 der Schneeentschleunigung

Dienstag, 5. Dezember 2023

Das Draußen war zum Glück nicht so zweistellig böse frostig wie vorhergesagt, die meisten Wege konnte ich mit meinen Schneeschuhen gut gehen.

Als schmerzhaft empfand ich lediglich die vielen unter der Schneelast abgebrochenen Äste, die zum Teil sogar das Räumen von Gehwegen verhindert hatten.

Kaiser-Ludwig-Platz.

Theresienwiese. Jajaja: Schön.

Das Büro war gestern erfreulich warm, zumindest äußerlich war entspanntes Arbeiten möglich.

Mittags wieder keine Lust auf Cappuccino, also lediglich weitere Einkäufe für die Weihnachtsfeier.

Einiges weggearbeitet, es breitet sich immer mehr Egalität aus.

Nach Feierabend war es weiterhin erträglich kalt draußen. Ich erledigte einige Einkäufe für mich und Recherchen für die Weihnachtsfeier im Forum Schwanthalerhöhe.

Zu Hause Yoga-Gymnastik, Brotzeitvorbereitung – wir sind fast durch mit den ersten zehn Kilo Crowdfarming-Orangen.

Zum Nachtmahl servierte Herr Kaltmamsell restlichen Wirsing und Kartoffelbrei vom Vorabend, wieder mit Bremer Pinkel und Bregenwurst (das hatte ich für Sonntag falsch notiert), also mit einer wirklich schmackhaften Grützwurst (meine innere Kerndlfresserin freut sich ja immer über sowas Körniges zum Beißen, und Bremer Pinkel besteht tatsächlich nur aus Speck und Grütze) und einer Mettwurst, die ebenfalls sehr gut schmeckte.

Nachtisch Panettone.

Herr Kaltmamsell bestellte den Morgenmilchkaffee für Dienstagmorgen ab, er muss bereits um halb sechs das Haus verlassen, um halbwegs wahrscheinlich zur ersten Schulstunde am Arbeitsplatz zu sein. Denn Öffentlicher Nahverkehr und Zugverkehr in und um München sind auch morgen immer noch nicht mal ansatzweise wieder hergestellt, er machte sich auf nochmal zwei Stunden für 30 Kilometer Anreise gefasst wie am Montag. Und nachdem ich bis eben recht energisch auf die absolute Ausnahmsweise der Wetterlage verwies und die verantwortlichen Stellen verteidigte – frage ich mich nach Tag 3 schon, ob das der erste Winter ist, der hier einschlägt, und werde ungehalten. Unter anderem nachdem ich auch viel frequentierte Kreuzungen nur mit Überklettern von Schneebergen passieren kann.

§

Boris Schumatsky schreibt in der NZZ über seinen Antisemitismus:
“Als ich Juden nicht riechen konnte”.

(Zur Sicherheit: Ich sehe das furchtbare Leid der Bevölkerung in Gaza. Hamas muss weg.)

Journal Sonntag, 3. Dezember 2023 – Wenigstens sind sie in der Sonne echt schön, die Schneemassen

Montag, 4. Dezember 2023

Gut, aber nicht lang genug geschlafen.

Der Morgen bemühte ein Gelbrosa.

Ich buk die Frühstücksbrötchen nach @melaniegywer, den Teig hatte ich am Vorabend angerührt.

Gelangen gut, werde ich wiederholen.

Die Nachrichten (ich las vor allem BR24) meldeten, dass der Münchner Hauptbahnhof weiterhin nicht anfahrbar war (wir wären, nur mal spekuliert, also auch nicht heimgekommen aus der Schweiz), Zugverkehr der Südostbayernbahn bis mindestens nachmittags ausgefallen.

Bäume auf den Gleisen und durch den Schneefall belastete Oberleitungen. Eingefrorene Signale und Weichen müssten geprüft werden, bis die Strecken wieder freigegeben werden könnten.

Während ich noch überlegte, ob ich den Schneetag zu einem Lauf im Weißen oder einem Freibadschwumm im Dantebad nutzte, hatten andere beides bereits verbunden.

Es wurde dann eine Laufrunde: Mit der U-Bahn zum Odeonsplatz, von dort über Hofgarten, Chinesischer Turm an die Isar – die allerdings nur ein kurzes Stück entlang, weil der Weg nicht geräumt war und nur aus einem schmalen, vereisten Trampelpfad im Halbmeter hohen Schnee bestand, sehr anstrengend zu laufen. Ab Kennedybrücke hielt ich mich an geräumte Wege im nördlichen Englischen Garten, mit Respekt und Dankbarkeit für die Winterdienst-Leute, die das erledigt hatten. Und sie hatten wohl getan: Es waren reichlich Spaziergänger*innen unterwegs, München guckte Schnee.

Hier hatte ich nur vage Orientierung: Sind ja selbst bekannte Gegenden verwirrend, wenn Wege und Wegmarken unterm Schnee verschwinden, und hier laufe ich sonst nie. Ich merkte mir so viele Details wie möglich, um denselben Weg zurück nehmen zu können.

Das klappte hervorragend: Die Sonne schien, der Schnee glitzerte, ich hatte an eine Sonnenbrille gedacht, es war auch nicht so schlimm kalt wie angekündigt (ab zweistelligen Minusgraden protestiert meine Lunge), die Luft atmete sich herrlich, mein Körper spielte problemlos mit.

Postkartenmotive auf Jahre hinaus:

Zur Orientierung: Ganz hinten sieht man die Kenneybrücke, rechts nicht die Isar.

Dabei war das Rausgehen gestern für nicht so Trittsichere wirklich noch gefährlich und nicht empfehlenswert: Gleich vor meiner Haustür stand ein greiser Herr neben seinem Auto und bat Passanten um Anschieben – seine Reifen drehten auf dem ungeräumten, ungestreuten Eis durch, auf das er in unserer Straße geraten war. Er schaffte es gerade mal vorsichtig rutschelnd und mit Festhalten am Dach in die Fahrertür seines Autos (zu Fuß hätte er wirklich nicht unterwegs sein sollen), mit zwei anderen Passanten schob ich ihn frei. Und mitten im Englischen Garten stand ein Krankenwagen, dessen Besatzung gerade einen böse gefallenen Spaziergänger versorgte.

Meine Runde endete wieder am Odeonsplatz und der U-Bahn, denn meine übliche Tram vom Tivoli fuhr genausowenig wie die meisten Busse. Es wird noch eine Weile dauern, bis die Verkehrsbehinderungen weggeräumt sind.

Frühstück schon kurz nach eins: Semmeln und Orange.

Auch wenn ich dadurch wertvolle rare Sonnenzeit verpasste, legte ich mich zu einem halben Stündchen Siesta hin. Danach nutzte ich das Tageslicht für Wegbügeln der Wäsche der letzten Wochen.

Dabei hörte ich ein Interview, das Holger Klein mit Tassilo und Florian Lex geführt hat: “Chiemseefischer über die Fischereitradition auf der Fraueninsel”.

Ich erfuhr über die Ausbildung, den Alltag, die Fische im Chiemsee und wie ihr Bestand gesichert wird, außerdem Verarbeitungs- und Vertriebswege – und ich lernte zwei sehr sympathische “Insulaner” kennen, wie sie sich selbst nannten.

Herr Kaltmamsell telefonierte und recherchierte derweil herum, wie er am Montag in die Arbeit kommen könnte, an seiner Schule fiel der Unterricht nicht wegen des Wetters aus.

Vorgezogenes Nachtmahl aus Ernteanteil: Wirsinggemüse und Kartoffelbrei mit samstags besorgter Grützwurst und Pinkel – wunderbar herzhaft und wärmend. Nachtisch Panettone, war schließlich erster Advent.

Draußen sanken die Temperaturen.

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Eine bezaubernde Zusammenstellung in der New York Times:
“Dancing With the Stairs”.

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“Majestätische fliegende Scheunentore” und andere Vögel zeigt @giardino in seinem Adventskalender auf Mastodon.

Journal Samstag, 2. Dezember 2023 – Wie ich NICHT zu einer Geburtstagsfeier in die Schweiz fuhr, oder: Eingeschneit

Sonntag, 3. Dezember 2023

Ich fasse es immer noch nicht, aber wir kamen gestern tatsächlich nicht raus aus München zur Geburtstagsfeier in die Schweiz. München war eingeschneit, die Polizei riet offiziell dazu, das Haus nicht zu verlassen.

Aber erstmal: Guten Schlaf ausgeschlafen, draußen fast ein halber Meter Neuschnee bei weiterhin leisem Schneefall.

Wegen der geplanten Bahnfahrt in die Schweiz galt der erste Check bahn.de:

Wintereinbruch

Der Bahnverkehr in Süddeutschland ist aktuell stark beeinträchtigt. München Hauptbahnhof aktuell nicht anfahrbar.

In den Medien wurde die Bahn mit “voraussichtlich bis 12 Uhr” zitiert, unser Zug wäre um 11:02 Uhr abgefahren. Also angespannter Vormittag mit kontinuierlichem Check möglicher Verbindungen, zunächst war ich noch zuversichtlich, dass wir irgendeinen Weg zur Freundin finden würden, die wegen Pandemie drei Jahre lang ihren Geburtstag nicht gefeiert hatte.

Immer wieder Check auf bahn.de, doch wie wir es auch drehten und wendeten: Kurz vor zwölf mussten wir uns eingestehen, dass wir nicht aus München rauskamen.

Die Meldungsreihenfolge:

– Kein Fernverkehr ab München Hbf bis mindestens gestern Betriebsschluss.
– Fahrtmöglichkeiten zwischen München und Basel wechselten alle Viertstunde, verschwanden dann wieder, mal nannte die Website eine Verbindung über Lindau, Feldkirch, Zürich. Zack, dann schon nicht mehr, jetzt über Kufstein, Wörgl. Es sah alles danach aus, dass das Programm sich verzweifelt irgendwas zusammensuchte, was in einem Moment möglich war.
– Die SBB kannte die Sperrung des Münchner Hauptbahnhofs für den Fernverkehr gar nicht, schickte munter eine Nachricht zu unserer gebuchten Verbindung mit einer Gleisänderung in Karlsruhe.
– Und dann interne Widersprüche: Angezeigt wurde eine Verbindung über Lindau-Reutin, in den Details hieß es aber “Schnee und Eis: Zwischen München Hbf und Lindau-Reutin wurde der Bahnbetrieb vorübergehend eingestellt.”
– Irgendwann dann insgesamt und offiziell: “Am Hauptbahnhof in München ist der Zugverkehr den ganzen Samstag über eingestellt.”

Dazu eben die offizielle Empfehlung der Polizei, das Haus gar nicht zu verlassen, schon überhaupt nicht Auto zu fahren. Fassungslos musste ich mir eingestehen: Wir waren eingeschneit. Ich musste die so sehr befreute Geburtstagseinladung absagen, mit tiefer Enttäuschung. Dazu die nagenden Schuldgefühle, mich vielleicht doch einfach nur nicht genug angestrengt zu haben.

Ich benachrichtigte die Gastgeberin, packte mit hängenden Flügeln den Übernachtungsrucksack wieder aus.

Gegen eins las ich, dass das Heimfußballspiel des FC Bayern abgesagt wurde. Da begann ich, die Dimensionen der Einschränkungen durch die Schneemassen ein wenig klarer zu sehen. Kurz darauf die Meldungen: Tierpark Hellabrunn geschlossen, Messe Heim&Handwerk geschlossen. Im Großraum München ging tatsächlich nichts mehr.

Wir würden also das Wochenende daheim verbringen, ich fand meine Fassung so schnell nicht wieder – obwohl meiner Vernunft doch klar sein musste, dass sowas nunmal im Winter passieren kann. Herr Kaltmamsell meldete Einkaufspläne an, auch um sich das dickweiße Draußen näher anzusehen. Na gut, dann begleitete ich ihn halt, langsam beruhigte ich mich.

Es schneite weiter, ziemlich nass.

Vorm Haus war eine mächtige Eibe unter der Last aus den Wurzeln gekippt und über die Altglas-Container gestürzt.

(Kann man die nicht einfach wieder aufstellen und unten festdrücken, *schluchz*?)

Im Nußbaumpark sahen wir zahlreiche abgebrochene Äste. Auf den Straßen herrschte fast gespenstische Ruhe, nur hin und wieder schlürfte ein Auto durch den Matsch – die so rührige Münchner Schneeräumung kam schon lang nicht mehr hinterher.

Herr Kaltmamsell kaufte Weihnachtskarten, Grützwurst und Pinkel für den vorgezogenen Wirsing-Eintopf am Sonntag. Auf dem Christkindlmarkt vorm Rathaus entdeckte er echten türkischen Honig – und in seiner Kampagne “Rettet den türkischen Honig!” musste er dann auch einen kaufen.

Für die Mengen an Schnee war in der Innenstadt gar nicht wenig los – aber die U-Bahnen fuhren ja (keine Trambahnen und Busse).

Alle Bäume bogen sich unter der Schneelast, ich hätte sie gern befreit.

Panettonekauf bei Eataly. Über Jakobsplatz nach Hause ins Warme.

Frühstück um drei: Selbst angesetztes Kimchi, Semmeln, Orange. Jetzt las ich die Meldung: Der regionale Bahnverkehr war jetzt auch offiziell Bayern-weit gesperrt.

Der Zwangs-Daheimtag sollte unbedingt zu etwas gut sein: Ich wollte mit Herrn Kaltmamsell nach vielen Jahren mal wieder auf dem Sofa einen Film anschauen. (In den vergangenen Jahren rede ich immer nur davon, dass ich diesen oder jenen Film endlich mal sehen oder wiedersehen möchte, schaffe nie die Zeit dafür.) Es wurde Bill & Ted’s Excellent Adventure von 1989, hatte ich nie gesehen, und eine Inhaltsangabe hatte mich vor Kurzem mit einer Handlung überrascht, die interessant klang.

War dann… ein Erlebnis, das ich keineswegs missen möchte. Starke Erzähl-Ökonomie, es wird erstaunlich wenig erklärt oder gezeigt, dazu ein Baby-Keanu und 90er Jugend-Humor.

Eine Runde Yoga-Gymnastik, draußen hatte der Schneefall mittlerweile aufgehört.

Herr Kaltmamsell servierte als Nachtmahl den für Sonntagabend geplanten Flammkuchen (der Ernteanteil hatte rote Zwiebeln enthalten und mich auf den Wunsch gebracht), dazu die zweite Flasche Wein aus Sussex, die wir aus unserem Englandurlaub mitgebracht hatten, weil er uns vor Ort so gut geschmeckt hatte: Stopham Pinot Blanc.

Der Wein hatte nicht ganz genug Säure als Begleiter zum Flammkuchen mit viel Zwiebel, passte dennoch überraschend gut. Nachtisch Schokolade.

In der Tagesschau wurde behauptet, in München habe es “noch nie” so viel geschneit, wir Münchner*innen hatten uns auf Mastodon den Tag über immer wieder an den 5. März 2006 erinnert, als München ebenfalls eingeschneit war und gar nichts mehr fuhr und lief, als Schulunterricht ausfiel.
Nachtrag: Korrekt ist wohl, dass es in München IM DEZEMBER noch nie so viel geschneit hat.

Während auf ARD die große Advent-Schlagershow “Was der/die lebt noch?!” lief, guckte ich auf arte den Dokumentarfilm von 2017 Maria by Callas über die einzigartige Sängerin – mit vielen Interviews, eines davon nie gesendet, und mit Ausschnitten aus Briefen von ihr, sehenswert.

Journal Freitag, 1. Dezember 2023 – Verstehen Sie Ihren Gehaltszettel? (plus einsetzendes Winterwunderland)

Samstag, 2. Dezember 2023

Noch ein Monat, dann können wir ein weiteres Jahr abhaken.

Der Wecker klingelte zu Regenplatschen, das Draußen mit weißen und grauen Schneeflecken zwischem Regenpfützen sah ausgesprochen unwirtlich aus.

Kurzer innerer Gesundheits-Check: Erkältung war fast schon wieder weg.

Für meinen Weg in die Arbeit bekam ich auf den Regenschirm Full-Service-Niederschlag: Er fiel gleich als Schneematsch. (Wer schrieb einst von “Himmels-Exkrementen”?)

Als es vorm Bürofenster hell wurde, sah ich einen Falken vorbeifliegen, das war sehr schön.

Den Gehaltszettel für November runtergeladen (gibt es seit ein paar Jahren nicht mehr auf Papier): Wie immer kapiere ich nicht mal die Hälfte der aufgeführten Wörter, Abkürzungen, Geldbeträge. Wie immer sehe ich mir die Summe an, die ich überwiesen bekomme: Sie entspricht wie immer meiner Erwartung auf Basis Tarifvertrag und Steuersatz, also sehe ich keinen Anlass, mich mit den unkapierten Wörtern, Abkürzungen, Beträge zu befassen. Und wenn Sie jetzt denken, das sei nur in einer privilegierten Position möglich – haben Sie einerseits recht, handhabte ich das aber bislang bei jeden Job so, auch wenn ich davon unterhalb der Armutsgrenze lebte. (Allerdings habe ich die Gehaltszettel von der Zeitungsredaktion und später als Hiwi als schlicht und durchaus kapierbar in Erinnerung.)

Arbeit am Vormittag, gegen Mittag zwei Einkaufsgänge für die Weihnachtsfeier, auf Mittagscappuccino hatte ich keine Lust (Krankheitssymptom?).

Zu Mittag gab es ein Laugenzöpferl sowie eine riesige Mango mit Sojajoghurt.

Emsigkeit am Nachmittag, die Niederschläge hielten an und wurden immer deutlicher Schnee. Auf dem Heimweg mit kurzem Einkaufsabstecher nutzte ich meinen Schirm, der dichte Schneefall hätte mich sonst wirklich nass gemacht.

Bei Ankunft zu Hause wurde ich auf Krähen-Radau im Nußbaumpark aufmerksam: Die Wipfel waren schwarz vor Krähen, die sich wohl für die Nacht niedergelassen hatten.

Schwer zu fotografieren.

Ich turnte eine Folge Yoga-Gymnastik, zur Feier des Wochenendanfangs gab’s Tequila Sunrise auf der Basis von frisch gepresstem Crowdfarming-Orangensaft.

Nachtmahl von Herrn Kaltmamsell: Entrecôte mit Ernteanteil-Pastinaken aus dem Ofen, dazu der verlässlich wohlschmeckende südafrikanische Rotwein Owl Post. Nachtisch Schokolade.

Abendunterhaltung: Blicke aus dem Fenster auf immer dickere Schneeschichten.

Beginnende Sorgen um die fürs Wochenende gebuchte Bahnreise nach Basel: Ab einer bestimmten Schneemenge würde die unwahrscheinlich.

Journal Donnerstag, 30. November 2023 – WoW – Word on Wirecard in den Kammerspielen oder: Muss Kunst wehtun?

Freitag, 1. Dezember 2023

Ich hatte über das Stück WoW – Word on Wirecard von Anka Herbut, das ich Mittwochabend in der Therese-Giehse-Halle der Kammerspiele sah, vorher nur gewusst, dass es irgendwie um den Zusammenbruch des betrügerischen Unternehmens Wirecard ging und multimedial gearbeitet würde (letzteres ist allerdings schon lang Inszenierungs-Standard). So brauchte ich eine Weile, bis ich erkannte, dass die Handlungen mit verschiedenen Wirklichkeitsebenen arbeitet, dass es um Wirklichkeitssimulationen und ihre Erkennbarkeit geht.

Das ist schon länger ein Topos in der Fiktion, der die Fragen nach freiem Willen und Erkenntnisphilosophie durchspielt, ob der Mensch überhaupt die Fertigkeiten hat herauszufinden, was wirklich wirklich ist, was ein Vorspiegeln, Manipulation, Simulation – und ob die Antwort überhaupt relevant ist. (Das Konzept Multiverse, unter anderem in aktuellen Superheldengeschichten Standard, hat diese Fragen aufgegeben und setzt verschiedene, gleichberechtigte parallele Wirklichkeiten voraus.)

Verschiedene Wirklichkeitsebenen sind beliebtes Szenario in der Literatur, angefangen mit God games, in denen sich irgendwann der Protagonist als Spielfigur einer höheren Macht herausstellt, bis hin zur Science Fiction, die das Thema von Anfang an gerne aus vielerlei Perspektiven und mit vielerlei Erzähltechniken durchgespielt hat. Im Film kennt man das Setting zum Beispiel aus Total Recall, Matrix, Inception.

Jetzt ist es also auch in der Gattung Drama angekommen. Die Wirklichkeitsebenen in WoW – Word on Wirecard sind unter anderem:
– Ein Forschungslabor der frühen 1970er, in dem Wirklichkeitssimulationen programmiert wurden.
– Die Verfilmung einer Geschichte mit verschiedenen Wirklichkeits- und Simulationsebenen inklusive der Dreharbeiten.
– Der Wirecard-Skandal als schief gegangene Wirklichkeitssimulation – was ich besonders genial und witzig fand, weil das die erfundenen Wirklichkeiten des Geschäftsmodells und seiner Finanzierung ebenso erklären würde wie das Verschwinden des Protagonisten.

Die Erzähl- und Inszenierungstechniken für die Vermittlung unterschiedlicher Wirklichkeitsebenen:
– Dieselben Schauspieler*innen/Rollen in verschiedenen Kostümen/Maske,
– Film – auf der Bühne waren ständig zwei Kameras in Aktion, ihre Bilder und anderes Filmmaterial übertragen auf drei riesige, zusammenhängende Bildschirme über der Bühne,
– Räume auf der und hinter der Bühne, in denen mal die eine, mal die andere Wirklichkeit gespielt wurde,
– in der Pause die Einladung ans Publikum, auf die Bühne zu kommen und ein Glas Sekt zu trinken, mit den Darsteller*innen zu sprechen – Vermischung zweier weiterer Wirklichkeitsebenen.

Pausenbühne.

Das fand ich ungemein kreativ und hervorragend gemacht.

Zwei weitere Techniken aber führten mich zu der gestern bereits angerissenen Überlegung, wie viel körperlicher Schmerz am Publikum erzählerisch gerechtfertigt ist. Auf der Website zum Stück ist angekündigt “Stroboskop-Effekte, laute Musik”, am Einlass standen Ohrstöpsel bereit, an den Türen weitere Warnschilder.

Vor der Pause konnte ich mir meist rechtzeitig die Ohren zuhalten, wenn die Lautstärke der Musik über Lärm-Level anstieg und schmerzhaft wurde. Lichteffekte gab es in gewohntem Theater-Maß.

Doch direkt nach der Pause wurde das Stück mit über 20 Minuten Dauerbeschuss durch Höllenlärm und Lichtblitze ins Publikum fortgesetzt, die ich irgendwann nur noch in Flugzeugabsturz-Schutzhaltung durchstehen konnte, Finger fest in die eingeschobenen Ohrstöpsel gepresst. Stehen Licht- und Lärmfolter nicht auf Verbotslisten? Ist das mit “Überwältigungskunst” gemeint? Soll ganz, ganz sichergestellt werden, dass das Publikum irgendwas fühlt? Denn ich bin sicher: Auch ein paar Umdrehungen weniger und ohne Schmerz hätten Lichtgeflacker und Musik ihre erzählerische Wirkung erzielt.

Muss ich als nächstes mit Stromstößen im Sitz rechnen? Selbstverständlich mit Ankündigung und Warnung, am Eingang werden Gummimatten bereitgestellt, die man zum Schutz auf die Sitze legen kann?

Zumal solche Inszenierungen auch alles andere als inklusiv sind und beträchtliche Bevölkerungsgruppen vom Theaterbesuch ausschließen. An die Schauspieler*innen möchte ich gar nicht denken, ich verstehe jetzt besser, warum deutsche Bühnendarsteller*innen international den Ruf haben, die ließen alles mit sich machen.

Der Applaus war Mittwochabend groß, ich hörte Begeisterung – beobachtete aber, dass nicht nur ich völlig entkräftet von der Licht- und Lärmfolter lediglich zu mechanischem Klatschen in der Lage war und nur noch heim wollte.

Empfohlene Besprechung und Rezensionssammlung von Martin Jost bei Nachtkritik:
“Ein irrealer Betrugsfall”.

§

Nach dem späten Vorabend bekam ich weniger Schlaf als sonst auf einen Arbeitsmorgen, doch der war gut.

Emsiger und konzentrierter Vormittag im Büro, vorm Fenster Leiserieselter, der auf dem Boden allerdings eher Matsch war. Schneller Mittagscappuccion bei Nachbars, erster Einsatz der Kapuze der neuen Winterjacke, funktionierte hervorragend.

Mittagessen eingeweichtes Muesli mit Joghurt, einen Orange.

Auch der Nachmittag emsig und konzentriert, ich musste mich nicht mit meinen inneren Schatten befassen.

Beim Verlassen des Büros zu Feierabend versuchte sich die Jahreszeit anzuwanzen.

Heimweg durch Schneefall, war ganz ok. Daheim Yoga-Gymnastik, Brotzeitvorbereitung, zum Nachtmahl den Ernteanteil-Zuckerhut mit Orangensaft-Erdnussbutter-Dressing (gut!) angemacht. Dann gab’s noch reichlich Käse und Süßigkeiten.

§

Ach, Shane MacGowan… Jetzt können die beiden wieder Duett singen.

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https://youtu.be/qSkN4EXhBR8?si=8olf8tm9ndKzgOwk