Archiv für Mai 2024
Journal Donnerstag, 30. Mai 2024 – Heimreise von Berlin im Regen
Freitag, 31. Mai 2024Abreisemorgen, also Ferienwohnungsfahrplan fürs Aufenthaltsende erfüllen.
Unangenehme Überraschung, als ich vor dem Duschen meine Wasserflaschen für die Reise füllte: Aus dem Kaltwasserhahn kam kein Wasser, es gab nur sehr heißes. Das bedeutete die Wahl zwischen Ungewaschenheit oder Katzenwäsche am Rand der Verbrühung – ich entschied mich für Letzteres und hatte noch lang knallrote Hände und Fußrücken. Und es bedeutete, dass der Klospülkasten nicht befüllt wurde, wir behalfen uns mit Töpfen.
Bei Verlassen der Wohnung schickte ich der Vermieterin eine Warnung, damit sie der Putzkraft Bescheid geben konnte. Ihre Antwort bestand hauptsächlich aus Rechtfertigungsgefuchtel, dafür könne sie nichts – ich glaube nach dem Gesamterlebnis ohnehin nicht, dass ich nochmal mit dieser Vermieterin zu tun haben möchte: Willkommen und entspannt fühlte ich mich nicht.
Schon sehr früh hatte die Deutsche Bahn uns benachrichtigt, dass der Zug 20 Minuten später eintreffen würde “wegen unbefugter Personen im Gleis”. Wir setzten uns also im Berliner Hauptbahnhof noch ein wenig ins McCafé, Herr Kaltmamsell frühstückte.
Die Zugfahrt begann wie angekündigt verspätet, den ganzen Weg bis nach München begleiteten uns drohende Wolken, immer wieder heftiger Regen. Cappuccino bekam ich keinen, es gab nur Filterkaffee – der schmeckte mir dann aber überraschend gut.
Hinter Nürnberg knabberte ich als Frühstück meine letzten Pumpernickel-Reste.
Stand des Hopfens. Bei Ankunft in München war die Verspätung auf zehn Minuten geschrumpft, das finde ich für die 504 Kilometer ok.
Hier übrigens die Google-Antwort auf die Frage nach der Entfernung in Textform:
DA HATTE ICH ABER GLÜCK!
(Habe mir die angegebenen Quellen genauer angesehen: Wahrscheinlich hat der Algorithums, Algi, Ticket-Preise mit Reisedauer verwechselt. *kneift Algi in die Wange*)
Ein bisschen weniger ok war der Regenguss, der uns auf dem Weg vom Münchner Bahnhof nach Hause erwischte.
Planzengießen, Koffer ausgeräumt, als Nach-Frühstück gab’s eine ordentliche Portion Joghurt. Dann kurze Siesta, dann Trödeln und Lesen.
Endlich wieder Gymnastik, ich turnte eine weitere Folge Pilates mit Gabi Fastner: Fühlte sich sehr gut an, und ich freute mich über all die abgefahrenen, und doch schlichten neuen Übungen. Und danach ging es meinem LWS- und Hüftbereich deutlich besser.
Im AirBnB-Portal hinterließ ich meine Bewertung für die Ferienwohnung: Vornrum alles nett und supi, war ja auch sauber und weitgehend intakt, also nur ein knapper, freundlicher Text. Nur in der nicht-öffentlichen Nachricht für die Vermieterin hinterließ ich alles, wodurch sich nachfolgende Mieter*innen wahrscheinlich willkommener fühlen (z.B. Klopapier).
Zum Nachtmahl kochte Herr Kaltmamsell Mafaldine und servierte sie mit Tomaten-Frischkäse-Sauce. Dann noch ein Stück Käse und Schokolade.
§
Sie interessieren sich für die Bauhaus-Bewegung? (Nein, zefix, nicht die Bastelbedarfhallen!) Dann sind sie sicher mit den Fotos aus Dessau und Weimar vertraut. Wissen Sie auch, wer die meisten davon aufgenommen hat? Nein? Komisch.
“Five Hundred Glass Negatives.”
via @sauer_lauwarm
Moholy believed that her negatives had been destroyed during the bombing of Berlin, but she grew suspicious that they still existed, and that her name had been erased from them, when, at the end of the war, she discovered monographs about the Bauhaus that had been published in the interim.
Journal Mittwoch, 29. Mai 2024 – Berlin 5, dritter Tag re:publica24 und Lindner-Feinkost
Donnerstag, 30. Mai 2024Besser geschlafen, doch aus einem traurigen Traum aufgewacht.
Diesmal hatte ich schon am Vorabend vorgebloggt, der Morgen wurde dadurch deutlich gemütlicher. Auch gestern standen wir in einer langem Schlange vor der Station Berlin, doch der Himmel war trocken, und es ging schnell voran.
Am Dienstag hatte ich mir noch junge Speaker*innen gewünscht, am Mittwoch bekam ich zur ersten Session gleich mal eine – wie sich abends herausstellte, sogar die jüngste der Konferenz.
Stephan Noller kenne ich schon lange aus dem Internet, hatte aber mittlerweile den Anschluss verloren, was dieser herzliche Serien-Unternehmer und Technik-Entwickler (z.B. Calliope) gerade macht. Gestern führte er auf der re:publica eine Gespräch mit seiner Tochter Tilda öffentlich weiter, das bei ihnen daheim begonnen hatte: Wie wichtig ist es für Vertrauen in Online-Persönlichkeiten, dass der faktische Hintergrund ihrer Argumentation oder ihrer Shows korrekt ist?
Es ergaben sich sehr interessante Betrachtungen von Gefühlen und ihre Bedeutung für gesellschaftliche Entwicklungen – auch wenn ich Zuordnungen zu Altersgruppen misstraue: Der Reuters Digital News Report belegt regelmäßig, dass die Altersschicht über 60 neben der ganz jungen Generation die größten Defizite in Medienkompetenz hat, es ist also nicht nur die Schule gefragt (mein ganz emotionaler Impuls – siehe die Session von Maren Urner, es gibt keine Dichotomie Herz/Hirn – ist immer erst mal der Blick auf Fakten).
Als Nächstes ließ ich mir erklären:
“Boom, Bust und Benko: Was kümmert uns die Millionenpleite?”
Den Referenten Leonhard Dobusch kannte ich seit schon immer aus dem Internet und von der re:publica, doch jetzt erfuhr ich, dass er auch BWL-Prof. ist. Für mich als Laiin war es superspannend, die genauen Mechanismen zu erfahren, die Benko nutzte und ausnutzte. Überrascht war ich unter anderem davon, dass er offiziell gar nichts zu sagen hatte im Signa-Firmengeflecht (wegen einer Verurteilung wegen Korruption durfte er keinen Geschäftsführungsposten übernehmen) – und dass Eataly zu Signa gehört. Außerdem war der Vortrag sehr spannend und unterhaltsam aufgebaut: Ich gebe Ihnen Bescheid, wenn er online nachzusehen ist.
Mittagscappuccino, dann ließ ich mir von drei Frauen die Auswirkungen digitaler Bedrohungen und Angriffe auf ihre aktivistische Arbeit erzählen.
“‘I wake up to a thousand tweets insulting me’: Digital attacks against exiled and diaspora women activists – and what to do about them”.
Von Gözde Böcü, Maryam Mirza, Arzu Geybulla und Moderatorin Siena Anstis lernte ich den Begriff digital transnational repression DTR und gruselte mich, gegen welche Widerstände die Frauen auf der Bühne um Menschenrechte und Freiheit in Iran, Aserbaidschan und der Türkei kämpfen. Viele ihrer Schilderungen klangen wie Spionagefilm-Klischees, doch da saßen echte Menschen, die in Zynismus getrieben werden, vor denen sich Freundeskreise zurückziehen, um nicht auch Opfer der Attacken zu werden.
Ich brauchte dringend sichere Aufmunterung und holte sie mir bei
“Digitale Gegenwelt: Wie mit Wikipedia, Mastodon & Co. ein freieres und freundlicheres Internet entsteht”.
Stefan Mey gab einen Statusbericht, der meine Online-Welt tatsächlich aufhellte.
Jetzt hatte ich über eine Stunde Pause. Am Morgen war mir die Idee gekommen, dass ich sie zu Einkäufen nutzen könnte: Ums Eck der Ferienwohnung war ich an einem Feinkost Lindner vorbeigekommen, außerdem an den Schaufenstern einer Drogierie, die mich sehr an die spanischen perfumerías meiner Kindheitsurlaube erinnerte. Beim Butter Lindner kaufte ich Abendessen für Herrn Kaltmamsell und mich ein, bei der herzlichen Inhaberin der Drogerie Saxonia Seife und eine Iris-Körpermilch.
In der Ferienwohnung machte ich kurz vor drei Mittagsbrotzeit, schon wieder ein Apfel sowie Pumpernickel mit Frischkäse (gerade wenn ich eigentlich keinen Appetit habe, schmeckt mir sowas besonders).
Verschoben von Montag war eine Session, auf die ich mich besonders freute: “Die Maschen der Brandstifter”.
Katharina Nocun ist Spezialistin für die Mechanismen von Populismus und Verschwörungsmythen, hat darüber einige Bücher geschrieben. Sie zog ihren Vortrag wie eine (fake) Schulstunde für Nachsitzer auf, geprüft werde am 9. Juni. Und sie machte gut nachvollziehbar, was Wortwahl und framing anrichten können.
Weil Katharinas Session durch die Verschiebung auf eine halbe Stunde gekürzt war, erwischte ich noch die zweite Hälfte des Vortrags von Neurowissenschaftlerin Maren Urner:
“Radikal emotional: Warum wir weniger Herz und mehr Hirn brauchen”.
Sie hatte dargelegt, warum die Neurowissenschaft immer wieder beweist, dass Menschen alle Entscheidungen mit denselben Mechanismen treffen und die Dichotomie Herz/Kopf lediglich, haha, gefühlt ist. Jetzt leitete sie gerade die Konsequenzen für die Politik ab.
Um einen guten Platz bei der folgenden Session von Felix Schwenzel zu bekommen, füllte ich den Pflichtslot jedes meiner re:publica-Besuche “interessiert mich überhaupt nicht” mit
“Textile Virtualitäten”.
Und siehe da: Wie immer bekam ich dadurch höchst interessante Einblicke in neue Welten. kim cordes erklärte in Stichpunkten, wie nahe uns Textilien kommen, mit welchen Techniken vor allem in der Kunst Textiles im Analogen und Digitalen (Achtung) verwoben sind. Unter anderem zeigte er kurz, dass digitale Techniken die Haptik von Kleidungsstücken bei der Online-Auswahl nachvollziehbarer machen könnten, das fände ich super.
Ausgerechnet von Felix habe ich das Foto vergessen! Er sprach über
“Hunde sind auch nur Menschen”.
Von seinen Posts kenne ich Pudelin Frida, seit sie bei ihm eingezogen ist. Wie immer originell und nachvollziehbar erzählte er, was sie ihm beigebracht hat.
Jetzt war sie fast vorbei, diese wieder bereichernde und Kraft verleihende re:publica. Auf Stage 1 berichtete Markus Beckedahl Statistisches (wieder hatte die Konferenz geschafft, fast die Hälfte Männer als Speaker und Teilnehmer anzuziehen).
Vorstellen und Feiern der Crew.
Großer Abschied mit gemeinsamem Singen von “Bohemian Rhapsody” (das begann vor meiner Zeit und noch in der Kalkscheune als Location, als das Warten auf einen Online-Interviewgast überbrückt werden musste).
Späte Heimkehr.
Nachtmahl waren dann die Leckereien, die ich nachmittags beim Lindner gekauft hatte: Holsteiner Hähnchensalat (gut), Rote-Bete-Pfirsich-Salat (gute Idee, ein wenig verschenkt, weil die Essigsäure dominierte – werden wir aber nachbauen), Garnelen in Wasabi-Majo (sehr gut, wir nahmen uns vor, öfter mit Meerrettich abzuschmecken), Ziegenkäse und Steinofenbrötchen. Wie berechnet, war die Menge genau richtig für uns beide, und wir hatten ja noch Schokolade zum Nachtisch.
Ich las mich schon mal in die umfangreichen Anweisungen für Handgriffe vor Verlassen der Ferienwohnung ein.
§
Felix Schwenzels Blog wirres.net ist gerade kaputt, er blogt Kluges ersatzweise hier:
“republica, tag 1”.
vielleicht sollten wir akzeptieren, dass man die schönen momente, die wichtigen debatten nicht festhalten kann, bzw. vielleicht doch, aber dann eben zur not in neuen räumen, auf neuen, anderen plattformen, mit anderen regeln und anderem publikum.
selbst machen, ein blog pflegen, im eigenen laden perlen, wichtige gedanken dokumentieren ist super, auch als eigenes, externes gedächnis, aber auch sauviel arbeit. die platformen, die anderen läden, machen es einem viel einfacher: einfach reingehen und los geht’s. man muss sich um nix selbst kümmern, kann aber eben auch nicht alles selbst bestimmen.
Journal Dienstag, 28. Mai 2024 – Berlin 4, zweiter Tag re:publica24 und ostpreußisches Abendessen
Mittwoch, 29. Mai 2024Nicht mehr ganz so gut geschlafen, früh aufgewacht – Letzteres kam mir entgegen, da ich noch nahezu den gesamten Vortag verbloggen musste.
Und als ich dann auch noch Zeit brauchte, nach meiner Arbeitsmail zu sehen und dort Probleme auftauchten, wurde der Morgen ein wenig hektisch. (Große Freude auch gestern: Der selbst gemachte Milchkaffee zum Start; dafür nehme ich die Exzentrik des Reisens mit Cafetera und Milchschäumer gern auf mich.)
Draußen hatte das Wetter umgschlagen, in Tröpfeln marschierte ich mit Herrn Kaltmamsell zur U-Bahn. Bis wir an die Schlange am Eingang zum re:publica-Gelände kamen, regnete es richtig, und die Schlange war sehr, sehr lang. Im kurzärmligen Kleid, ohne Jacke und Regenschirm war ich dafür überhaupt nicht ausgerüstet, wurde langsam feucht und schlecht gelaunt.
Aber! Jetzt halte ich endlich zwei Beobachtungen fest:
1. Der doofe Spruch, nach dem man in München Hauptbahnhof underdressed einsteigt und im selben Outfit in Berlin Hauptbahnhof overdressed aussteigt, passt überhaupt nicht mehr. Bei meinen Berlin-Besuchen der vergangenen beiden Jahre fiel mir auf, wie viele wirklich stylisch, kreativ und interessant gekleidete Menschen mir in Berlin begegnen, sehr viele angenehme und inspirierende Anblicke. (Andererseits ist Berlin diesmal eh komplett kaputt: Ständig ausgesprochen höfliche und aufmerksame Menschen mit Berliner Akzent, inklusive echter Entschuldigung von Herzen für ein versehentliches Anrempeln in der vollen U-Bahn.)
2. Junge Menschen auf der re:publica. Vor einigen Jahren befürchtete ich, dass die Veranstaltung mit uns alten Internet-Peoples sterben könnte. Doch laufen dort inzwischen wirklich viele Altersgruppen herum; ein bisschen mehr Junge wünsche ich mir noch auf den Bühnen.
Zu meiner verregneten Laune passte dann, dass die erste Veranstaltung, die ich mir notiert hatte, wegen Erkrankung nicht stattfand. Bockig setzte ich mich zum Zeitunglesen auf meinem Smartphone auf den Affenfelsen – wo dann ein Sonnenstrahl in Form der Urgesteins-Bloggerin dasnuf auftauchte: Ich freute mich sehr über Begegnung und Gespräch. (Das war zwar nicht unser Gesprächsthema, doch ich stellte gestern fest, dass es immer noch Frauen gibt, die das Konzept “Mental Load” nicht kennen – dasnuf hat dazu ein ganzes Buch geschrieben.)
Mein Session-Tag startete mit dem Vortrag “Tyranny of the Minority: How Radical Minorities Threaten Our Free Society” von Daniel Ziblatt. Allerdings hatte ich mir etwas Anderes vorgestellt: Mit “Minority” war die weiße, christliche Bevölkerung der heutigen USA gemeint. Doch über die aktuellen poltischen Zustände in den USA und ihre strukturellen Ursachen hatte ich bereits einiges gelesen.
Ich blieb gleich sitzen und hörte “Wie polarisiert ist unsere Gesellschaft?” des Soziologen Steffen Mau. Das Ergebnis von Forschung: Eher nicht, aber es gibt populistische Kräfte, die von einer Zuspitzung und von Triggern von Emotionen über irrelevante Details (Gendern, angebliche Vorschriften) profitieren.
Mit Mittagscappuccino in der Hand ging ich rüber in einen anderen Saal, dort sprach Max Steinbeis, Chefredakteur des Verfassungsblogs, über “Die Demokratie verteidigen: Ein Aufruf zu zivilem Verfassungsschutz”. Leider hörte ich hier nichts über Möglichkeiten zu zivilem Verfassungsschutz, Steinbeis deklinierte lediglich im Detail durch, welche Auswirkungen eine AfD mit Sperrminorität im Thüringer Landtag kurzfristig und langfristig haben kann. Der junge Mann auf dem Bildschirm hiner ihm ist der junge Viktor Orbán: An seinem Beispiel zeigte Steinbeis, wie und wo ein solches Vorgehen schonmal Erfolg hatte.
Dann interessierte mich: “WDR Europaforum: Wie man’s macht…Wie macht man’s? Die Rolle der Medien angesichts des Drucks auf die Demokratie”. Auf der Bühne saßen Jörg Schönenborn (Programmdirektor WDR), Nadia Zaboura (Beraterin), Jan Hollitzer (Chefredakteur Thüringer Allgemeine), Anna Litvinenko (deutsch-russische Journalistin), moderiert von einer bissigen Vivian Perkovic.
Die Überraschung für mich: Die Medienmachenden sind sich der Risiken und Mechanismen von Populismus bewusst, wie ihre Medien intrumentalisiert werden können, ich hörte sehr reflektierte Äußerungen von Schönenborn und Hollitzer – und wunderte mich, dass sie dennoch immer wieder Nazis eine uneingehegte Plattform für die Ausbreitung ihrer Desinformation geben, für die Produktion von Material, das sie auf ihren eigenen Plattformen verzerrt verwenden können, und so zur Normalisierung von Rechtsextremismus beitragen.
Die nächste Stunde hatte ich frei, ich nutzte sie für eine schnelle Heimfahrt, um eine Jacke zu holen: Ich hatte den Vormittag über sehr gefroren. In der Ferienwohnung um halb drei Mittagsbrotzeit: Apfel, Pumpernickel mit Frischkäse.
Die nächste Session brachte mich zur abgelegensten Bühne der re:publica, der Park Stage hinterm Technikmuseum.
Unter einem Sonnenschirm gegen immer wieder Regentropfen sprach Miriam Vollmer über “Wie man den Gender Care Gap löst (und was das kostet)”.
Den Ursprung ihrer Idee hatte ich vor vielen Jahren in Echtzeit mitbekommen, wahrscheinlich auf Twitter (buhu!), jetzt hatte Miriam sie durchgespielt. Sie legte dar, wie unwahrscheinlich es ist, dass im privaten Bereich Kooperation und gerechte Care-Aufteilung ganz von selbst eintreten und empfahl, die Instrumente und Erfahrungen des Arbeitslebens zu nutzen. Besonderer Kniff (praktisch und lustig): Weil die Begriffe Mann/Frau oder Mutter/Vater so hinderlich befrachtet seien, verwendete sie als Beispielfiguren Tiger 1 und Tiger 2.
Ich fand Miriams Modell schlüssig, zumal sie (das “und was das kostet” ihres Vortragstitels) auch darauf einging, welche eventuelle unerwünschten Auswirkungen die Methode auf die Beteiligten und ihre Beziehung hat.
Auch für gestern müssen Sie sich Begegnungen, Gespräche, Umarmungen auf allen Wegen und zu jeder Zeit dazudenken, es gab reichlich.
Abschluss meines zweiten Konferenztags: “Was wahr ist – Ein Gespräch zwischen Carolin Emcke und Claudia Kemfert”.
Claudia Kemfert vom Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung und Klimaexpertin diskutierte mit Philosophin Emcke und moderiert von Spiegel-Redakteur Jonas Schaible, wie Menschen dazu gebracht werden können, ihren Anteil an der Klimakatastrophe wahrzunehmen und Konsequenzen daraus zu ziehen. Sie wiesen beide auf die Bedeutung von positiven Utopien hin, die ein stärkeres Gewicht im Vergleich zu den apokalyptischen Dystopien der drohenden Katastrophe bekommen müssten. Carolin Emcke nutzte die Gelegenheit für eine leidenschaftliche Aufforderung, alle öffentlichen Diskussion zu verweigern, die “Pro und Contra” als Konzept haben: Dieser Ansatz mache Reflexion und Lösungssuche unmöglich, sondern führe immer zu einer Konzentration auf Abgrenzung, Angriff, Verhärtung.
Abschließend Applaus, der nur als “tosend” bezeichnet werden kann, im vollbesetzten großen Konferenzsaal.
Mittlerweile hatte ich mich wieder mit Herrn Kaltmamsell zur Heimfahrt verabredet. In der Ferienwohnung kurzes Ausruhen vor dem Nachtmahl: Ich hatte einen Tisch im Marjellchen reserviert, wir wollten ganz exotisch ostpreußisch essen.
So gab es gegenüber bei Herrn Kaltmamsell Schlesisches Himmelreich (Rauchfleisch mit Backobst und Hefeknödel) und bei mir Schmandschinken zu einem alkoholfreien Weißbier – wir waren beide sehr zufrieden. Auf Vorspeise hatten wir verzichtet, um noch Platz für Nachtisch zu haben.
Schlesische Mohnklöße, auch Mohnpielen genannt, erwiesen sich als weicher Teig mit Semmelbrot und Rumrosinen, schmeckten sehr gut.
Journal Montag, 27. Mai 2024 – Berlin 3, Start in die re:publica24 und chinesisches Essen mit Freunden
Dienstag, 28. Mai 2024Wieder gut, tief, lang geschlafen – hier liegt die echte Erholung. Beim Aufklappen des Rechners beim ersten Schluck Milchkaffee traf auch schon die Benachrichtigung der Deutschen Bahn ein: Mir werden 31,85 Euro zurückgezahlt. Ich bin einverstanden und fühle mich entschädigt (die Hinfahrt hatte 68 Euro gekostet).
Blogpost finalisiert, ein wenig Internet gelesen, dann war es schon Zeit, zur re:publica aufzubrechen.
Der Lindenblütenduft macht mich dieses Jahr noch wuschiger als eh immer schon, er schleudert mich in einen Vortex an Erinnerungen, ich bekomme sie nicht mal sortiert und registriere nur Gefühlswirbel.
Wieder daheim in der Station Berlin, auf dem Weg zu Stage 1 herzliche Umarmung mit meinen Internet Peoples, und dann ging’s los.
Johnny Haeusler
Markus Beckedahl
Die erste Session, die ich besuchte, und die auch sehr viele andere interessierte:
Nein, natürlich gab es hier keine überraschnde Idee, um welches Online-Lagerfeuer wir uns künftig alle versammeln wie einst um Twitter. Sondern eine Bestandsaufnahme aus dem Alltag von Autorinnnen, Journalisten, Aktivistinnen. Und mal wieder den Appell, eigene Bereiche im Web zu nutzen, diese lediglich zu verlinken. Tatsächlich war das gestern meine regelmäßige Frage bei der Begegnung mit alten Bekannten: “Wo bist du? Ich bekomme nichts mehr von dir mit!”
Zur nächsten Session, die ich mir markiert hatte, war noch Zeit. Ich sah mich in den vertrauten Räumen um, suchte mir eine Quelle ohne Schlange für meinen Mittagscappuccion (4,50 Euro, hiermit sind offiziell “Münchner Preise” als absurdes Beispiel von “Berliner Preise” abgelöst; gut aber das Pfandbechersystem).
Der WDR interviewte Wolfgang Schmidt, Chef des Bundeskanzleramts, zu: “Schwache Ampel, starker Rechtsverkehr? Regierungshandeln und die politischen Ränder”. Das war die einzige Session mit einem Spitzenpolitiker, von der ich mir interessante Inhalte erwartete, ansonsten sah ich in den zahlreichen Auftritten von Kabinettsmitgliedern eher den Streichelzoo-Aspekt ohne Erkenntnisgewinn.
Schmidt sagt tatsächlich einiges Interessantes, doch die Interviewerin Sabine Scholt machte eine schlechte Figur: Sie ging in keiner Weise auf Schmidts Antworten ein. Dieser wies auf ihre immer wieder leicht provokant formulierten Fragen auf falsche Prämissen hin (z.B. warum denn Scholz nicht auch solch eine staatstragende Rede halte wie Macron: Das habe er durchaus, nämlich in Prag, doch darüber hätten fast ausschließlich ausländische Medien berichtet – Scholt wusste entweder von nichts oder es war ihr egal, sie ging zur nächsten Frage über). Schmidt wies auch sehr vorsichtig, freundlich und diplomatisch darauf hin, dass die Berichterstattung über die Regierungspolitik sich auch in seriösen Medien vor allem auf menschliches Verhalten und äußere Details konzentriere, auf die Reaktionen von Opposition und Wählergruppen – statt die sachlichen Inhalte auf ihre Eignung zu Problemlösung zu diskutieren: Wieder keine Reaktion.
Von Markus Beckedahl holte ich mir die all-re:publica-jährliche Zusammenfassung der Entwicklung deutscher und europäischer Digitalpolitik, “Eine bessere digitale Zukunft ist immer noch möglich”. Das wichtigste auch dieses Jahr Markus’ Abschlussfolie:
Kurz vor drei, Zeit für Frühstück/Brotzeit: Ich hatte Äpfelchen und Pumpernickel mit Frischkäse dabei, aß sie im Hinterhof zum Gleisdreieck (dass ich auf allen meinen Wegen immer wieder Bekannten begegnete, müssen Sie sich dazudenken).
Draußen war es warm, eher schwül, in der Sonne sogar heiß.
Die nächste Session war die auch weiterhin mit dem besten Titel: “Transformation is my daily business – Was meine Wechseljahre mit besserem Change Management zu tun haben”. Nichts daran war mir wirklich neu, ich freute mich, dass Silke Burmesters (im Bild links) Menopausenprojekt Palais F*luxx wächst und gedeiht, dass die Wechseljahre aus dem Tabu-Bereich kommen, dass Burmester immer weitere Verbündete findet.
Typischer re:publica-Anblick.
Wasserflasche wiederauffüllen, zur nächsten Session spazierte ich in ein mir bislang unbekanntes Gelände: Hinterm Technikmuseum gab es dieses Jahr zwei Außenbühnen.
Es drohten immer wieder sehr dunkle Wolken, doch das Wetter hielt.
Mit dem Sitzen auf Liegestühlen komme ich nicht zurecht, mein kaputtes Kreuz empört sich in praktisch jeder Haltung. Aber die Session war spannend: “Dürfen Journalist:innen das Gesetz brechen – für die Pressefreiheit?” FragDenStaat hatte seinerzeit u.a. die NSU-Akten veröffentlicht und erzählte über Hintergründe, die Hausjuristin ordnete den damaligen und weitere mögliche Gesetzesbrüche ein.
Jetzt war ich voll, ich verabredete mich mit Herrn Kaltmamsell, der den Tag nach seinen Interessen verbracht hatte, zum Heimfahren. Um zum Ausgang zu kommen, musste ich einmal durchs gesamte Gelände, sah das Gewusel, die Leute beim Verlassen und Betreten der Veranstaltungsräume, begegnete nochmal Internet-Bekanntschaften – und fühlte mich recht beseelt: Wenn’s die re:publica nicht gäbe, wäre es spätestens jetzt höchste Zeit, sie zu erfinden.
Nachgeholte Einkäufe (Shampoo!) auf dem Weg, in der Ferienwohnung kurzes Ausruhen, dann brachen wir zur Abendverabredung auf: Wir aßen mit zwei alten Bekannten im chinesischen Ming Dynastie – kannten Herr Kaltmamsell und ich von lang vergangenen Berlinbesuchen, schätzten wir sehr.
Unterwegs fotografierte ich eines der omnipräsenten 1up-Tags.
Blick von der Janowitzbrücke. Wir sahen auch einen Kormoran landen, schwimmen, tauchen.
Wir tafelten ausgiebig Dimsum, Aubergine, Hähnchen, Schweinebauch, Fisch – und brachten einander auf neuere Lebensstände.
Die mittelspäte Heimfahrt wurde länger als geplant, es gab eine Störung im Öffiverkehr und wir mussten Umwege nehmen.
Journal Sonntag, 26. Mai 2024 – Berlin 2, Potsdam und Einchecken zur re:publica
Montag, 27. Mai 2024Sehr gut und auch lang geschlafen, die Sorge um das nicht wirklich kühlbare Schlafzimmer war unbegründet.
Beim Bloggen in Schlumpfklamotten und mit selbstgemachtem Milchkaffee (deshalb lieber Ferienwohnung) plagte mich allerdings böses Zwicken im Kreuz, ein Klappstuhl an wackligem Tisch ist einfach keine Rücken-freundliche Sitzgelegenheit. Ich zog sogar meine täglichen Bank- und Seitstützübungen durch, doch Reisenyogamatte auf blankem (wenn auch sicher schickem) Estrich war meinem Prinzessin-auf-der-Erbse-Körper für mehr Gymnastik oder Dehnen zu hart.
Wir ließen uns sehr viel Zeit, Plan war für den gestrigen sonnigen Tag ein erster Ausflug nach Potsdam, Ziel eher Orientierung als echte Besichtigung. Wir kamen dann auch erst gegen elf los.
Vor dem Eingang zum Ferienwohnungshaus. Herr Kaltmamsell hält sich so seltsam, weil ich ihn gebeten hatte, sein Gesicht aus dem Schatten zu nehmen.
Draußen Berliner Frühsommer mit Lindenblütenduft.
Eine S-Bahn brachte uns nach Potsdam. Ich empfand es als winzigen Ausgleich für die Anreise-Verzögerung am Samstag, dass wir dabei sehr zähflüssigen Autoverkehr überholten, der parallel zu den Gleisen verlief.
In Potsdam sahen wir uns in der Baustellen-reichen Pracht-Innenstadt um. Im Holländischen Viertel gab’s in einer kleinen Rösterei Mittagscappuccino (mir etwas zu Milch-lastig) und für Herrn Kaltmamsell Cheesecake.
Wir mäanderten zum Schlosspark, die Sonne schien dann doch so heiß, dass wir dabei den Schatten suchten.
Erste Orientierung im Park Sanssouci, auch hier möglichst viel im Schatten. Am Obeliskenportal war ich allerdings auf ein Gelände auf der gegenüberliegenden Straßenseite aufmerksam geworden und wollte herausfinden, worum es sich handelte.
Es stellte sich als der mit viel Eigenintiative restaurierte Winzerberg heraus, lesen Sie gerne mal Hintergründe nach.
Wir spazierten zurück zum Museum BerniniBarberini. Bei Ankunft war ich allerdings schon so gesättigt mit Eindrücken, dass ich mir den Museumsbesuch nur kursorisch und zur ersten Orientierung vorstellen konnte. Als ich an der Kasse sah, dass der Eintritt 18 Euro pro Augenpaar kostete (weil Wochenende 2 Euro teurer als unter der Woche – joah, in München kosten die Pinakotheken am Sonntag nur 1 symbolischen Euro Eintritt, weil das der Tag ist, an dem Einheimische am ehesten Zeit dafür haben, aber you do you), war mir das für einen ersten Eindruck dann doch zu viel. Das Geld bekam das Café gegenüber, in dem ich gegen drei frühstückte: Ich teile mir mit Herrn Kaltmamsell einen Antipasti-Teller für zwei.
Das viele Gemüse in verschiedenen Zubereitungsarten (die kleinen roten Kügelchen stellten sich als sauer eingelegte Mikropaprika heraus) war genau das Richtige. Auch wenn es hart erkämpft war: Die Bedienung meinte auf meinen Wunsch hin, ach, die Antipasti seien wahrscheinlich schon aus, ließ sich aber dazu bewegen, in der Küche nachzufragen. Es reichte dann auch noch für zwei weitere Antipasti-Teller am Nebentisch.
Die Rückreise fuhren wir gleich bis zur Station Berlin, um am Vorabend des Starts für die re:publica einzuchecken. Das ging ganz fix, und wir liefen auch gleich einer alten Bekannten in die Arme: franziskript.
Apropos unverwechselbare Online-Nicks: Ich komplettierte meinen re:publica-Anhänger, damit mich auch erkennen kann.
Wir spazierten noch eine Weile durch Kreuzberg, vages Ziel war ein Super- oder Drogeriemarkt, der auch am Sonntag geöffnet hat: Die Ferienwohnung stellt lediglich flüssige Handseife für jede Art von Körperreinigung zur Verfügung, sogar mir Kosmetik-Asketin ist das zu basic. Allerdings wurden wir nicht fündig (was geht mit Berlins angeblichem 24/7?), das mussten wir auf Montag verschieben.
Zurück in der Ferienwohnung Lesen und Sandeln, bis es Zeit für die Abendbrotbereitung war: Ich kochte den gut Ferienwohnungs-kompatiblen Nicht-Nudelsalat mit frischem Gemüse.
Lukullisch oder was. Es blieb sogar eine Portion für das Montagsfrühstück von Herrn Kaltmamsell übrig. Und wir hatten zum Nachtisch am Samstag Schokolade besorgt.
§
@jawl weist meiner Meinung nach zurecht darauf hin:
§
Wie der alte Internet-Kempe Markus Beckedahl die missratene CDU-Online-Umfrage zum Verbrenner-Verbot einordnet:
“Die CDU stolpert mal wieder durch den Online-Wahlkampf und scheitert an einer Umfrage.
Beim nächsten Mal hilft einfach mal die goldene Regel zu beachten: Mach einfach keine Online-Umfrage als Campaigning-Instrument, wenn Du nicht in der Lage bist, sie so abzusichern, dass man ohne Technik-Kenntnisse und nur mit wenigen Klicks nochmal wählen kann. Das wusste man schon 2005.
Journal Samstag, 25. Mai 2024 – Berlin 1, die lange Anreise und der georgische Abend
Sonntag, 26. Mai 2024Mittelgut geschlafen, ein paar Mal mit seltsamen heftigen Rückenschmerzen auf Brustwirbelsäulenhöhe fast aufgewacht, jedenfalls genug um mich zu fragen, ob sich so ein Herzinfarkt anfühlt. Morgens war alles weg.
Gemütlicher Morgen, da unser Zug nach Berlin erst kurz vor zehn losfuhr. Ein wenig zu gemütlich, ich kam dann doch in Hektik beim abschließenden Kofferpacken.
Nach nicht mal zwei Stunden ICE-Fahrt kam bei Nürnberg die Durchsage der freundlichen und aufmerksamen Zugchefin: „Wegen eines Notarzteinsatzes am Gleis“ müsse ein großer Umweg gefahren werden, Ankunft am nächsten planmäßigen Halt Bamberg zwei Stunden später. Nun, dachte ich, dann spiele ich auch mal das Online-Fahrgastrechte-Formular durch. Ich holte mir erstmal im Speisewagen einen Mittagscappuccino (erstaunlich ok), wo sich vor der Theke bereits eine lange Schlange zu bilden begann.
Und so fuhren wir unter buntwolkigem Himmel in satt grüner Landschaft nach Würzburg, wechselten die Richtung, fuhren auf dem Gleis, auf dem im Foto oben ein anderer ICE steht, weiter über Schweinfurt nach Bamberg. Stimmung ausgeglichen, sowohl Herr Kaltmamsell als auch ich hatten genug zu lesen dabei, Brotzeit um halb zwei war ein mitgebrachter Apfel und Pumpernickel mit Butter.
Zudem meldete sich die Vermieterin unserer Ferienwohnung: Diese würde wegen zu spät ausgezogener Vormieter erst später fertig, traf sich also eigentlich alles gut. Ich las die diesmal sehr interessante Wochenend-Süddeutsche, freute mich unter anderem über die schöne Geschichte zur EU auf der Seite Drei (“Können Sie mir Europa erklären?” €):
Man kann die EU alles fragen, ab morgens um acht. Ein Leichtes, sie zu finden, sogar in Furth im Wald. Hinein also ins Rathaus, durch das eiserne Gatter. Blaue Stühle weisen den Weg, europablau, vorbei am Bürgerbüro und am Gewerbeamt, am Trauzimmer und der Friedhofsverwaltung. Dem Blau nach bis ganz hinten, Zimmer 14. Dort sitzt Karin Stelzer schon an ihrem Besprechungstisch. Hat Kaffee gemacht und ihr Schild aufgestellt: Herzlich willkommen im Europabüro.
Die EU, so geht eines der Klischees, ist schwer greifbar. Brüssel, die Europäische Kommission, ein Labyrinth aus Bürokratie. Dabei brauchen die Leute nur hereinzukommen. Jeden Morgen sitzt Karin Stelzer hier. Harrt der Fragen, die die Menschen an die Europäische Union haben. Vielleicht etwas in dieser Art: Wofür braucht’s die EU eigentlich, Frau Stelzer? Da lächelt sie und sagt: „Was wäre denn, wenn wir sie nicht hätten?“
Mit Herrn Kaltmamsell erinnerte ich mich an Zeiten einer viel kleineren damals noch EWG, zu der zum Beispiel Spanien nicht gehörte – mir will einfach nicht einfallen, warum man sich diese Zeiten zurückwünschen könnte, gar eine ganz ohne EU. Wobei es sehr viele Aspekte gibt, in denen sie meiner Meinunung nach weiterentwickelt und verbessert werden muss, unbenommen. (Gehen Sie bitte am 9. Juni wählen.)
Wir erreichten Berlin Hauptbahnhof fast zwei Stunden später als geplant, allerdings trafen wir in unserer Wohnung in Charlottenburg eine immer noch hektisch reinigende und sehr freundliche junge Frau an, die uns auf eine weitere halbe Stunde vertröstete.
Also trieben wir uns ein wenig um Savignyplatz und Ku’damm herum, kauften Lebensmittel für die komplett Lebensmittel-freie Ferienwohnungsküche (wir hatten schnell gecheckt) ein, also selbst Salz und Zucker. Es war sonnig und deutlich wärmer als in den vergangenen Tagen in München, und die Linden dufteten hier bereits intensiv.
Dann endlich richteten wir uns in der Ferienwohnung ein, ein gründliches Durchsuchen aller, aller (sehr schicker) Schränke brachte uns zu dem Zettelchen mit den handschriftlichen WLAN-Zugangsdaten, jetzt waren wir angekommen. (Und konnten gleich mal online das Fahrgastrechte-Formular bei der Bahn einreichen.)
Zum Abendessen waren wir mit einer Berliner Blogfreundin verabredet, ich hatte mir das georgische Salhino erbeten (in dem ich schon vergangenen Herbst gegessen hatte und das ich Herrn Kaltmamsell zeigen wollte). Auf dem Weg dorthin verwechselte ich auf dem Stadtplan (Google Maps) einmal so gründlich links und rechts, dass wir uns verliefen und zu spät kamen – ich hoffe, das ist nicht auch das Alter.
Große Wiedersehensfreude, viele neue Geschichten, köstliches georgisches Essen, Amphorenwein.
Von oben: Hühnerfleischstücke in Walnusssauce (kalt), in der Mitte Spinat-, Rote-Beete-, Auberginenvorspeisen, unten Khachapuri – mein georgischer Liebling mit Käsefüllung. Wir teilten uns auch noch Khinkali (gefüllte gedämpfte Teitaschen) und Geflügelleber in einer sehr dunkel eingeschmurgelten Tomatensauce. Zum Nachtisch ließ sich Herr Kaltmamsell die Torte Tapluri empfehlen und war sehr angetan.
Während unserer Genüsse hatten mehrere Wolkenbrüche mit Gewitter herabgeregnet, als wir hinaus auf die nächtliche Straße traten, atmete sich die Luft wunderbar. Auf bereits wieder trockenen Straßen gingen wir zu unserer Ferienwohnung, in diesem Teil Berlins schlossen die Lokale auch Samstagnacht wie in München vor elf.
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Wer in den vergangenen Wochen nicht unter einem Stein gelebt hat, musste die Medien-Welle mitbekommen, die durch eine scheinbar einfache Frage an ganz viele Frauen entstand: Würdest du im Wald lieber mit einem Bären festsitzen oder mit einem Mann? Sieben von acht Frauen entschieden sich für den Bären. Und davon fühlten sich wiederum sehr viele Männer beleidigt.
Die klügste Analyse des ganzen Sachverhalts las ich gestern von einer Frau, die sich immer wieder buchstäblich gegen Männer und für Bären entscheidet – nämlich indem sie mit dem Fahrrad durch die Wildnis reist: Laura Killingbeck.
“A Woman Who Left Society to Live With Bears Weighs in on ‘Man or Bear'”.
There is nothing wrong with men. Men are lovable people with the same capacity for empathy, agency, and growth as any other human on the gender spectrum. But when men are socialized to identify their humanness as masculinity and to associate masculinity with power, we get some real problems. These are the problems of patriarchy.
Patriarchy is often defined as a social system that is male-identified, male-dominated, and male-centered. It depends on a heteronormative gender binary that serves to divide and outsource human traits to different halves of the population.
In patriarchal societies, human traits associated with power and control are outsourced to men: domination, assertiveness, independence, decisiveness, and ambition are called masculine, and men are expected to conform to masculine traits.
(…)
The central reason why fewer women travel alone is our fear of male violence and sexual assault. Actually, the most common question I get about my travels is some version of, “Aren’t you afraid to bike/hike/travel alone as a woman?” By naming my gender, the implication is clear. What people really mean is, “Aren’t you afraid of men?”
Laura Killingbeck schreibt (meine Übersetzung): Der Hauptgrund, warum weniger Frauen allein reisen als Männer, ist unsere Angst vor männlicher Gewalt und sexuellen Angriffen. Das ist tatsächlich die häufigste Frage, die mir in verschiedener Form über meine Reisen gestellt wird: “Hast du keine Angst, allein als Frau zur radeln/wandern/reisen?” Die Erwähnung meines Geschlechts macht klar, was die Leute eigentlich meinen: “Hast du keine Angst vor Männern?”
Allermeistens nicht, antwortet sie und geht dann auch hier in Details, die jede Frau kennt, die aber vielen nicht bewusst sind:
When I’m alone in the backcountry and come across a man, I feel a very low level of vigilance. Depending on the situation, I might even be happy to see him. He’s a fellow human! Maybe we’ll be friends! I’m likely to smile genuinely and say hello.
I don’t feel afraid, but I am aware. As we chat, my intuition absorbs a thousand things at once. His body language. His tone. How he looks at me and interacts. Most of the time, this produces an increased sense of security. Most men are friendly, respect my boundaries, and don’t want to hurt me. Most of the time, I feel very safe around men.
But not all the time. Sometimes, my intuition absorbs things that increase my level of vigilance. My awareness shifts into closer observation, and I look for signs of danger. Nothing is wrong, but it could go wrong very quickly.
It could be something he says. Maybe he makes a comment about my body or my appearance. Or he asks if I’m carrying a weapon and then presses for details about where I’m camping that night. Sometimes, it’s a shift in his tone, a leer, the way he puts his body in my space. But, usually, it’s a combination of things, a totality of behaviors that add up to a singular reality: this man is either not aware that he’s making me uncomfortable, or he doesn’t care. Either way, this is the danger zone. Even if he has no intention of harming me, the outcome of that intention is no longer possible for me to assess or predict.
In this moment, my mind snaps into a single, crystalline point of focus. My intuition rises to the surface of my skin. I become a creature of exquisite perception. The world is a matrix of emotional data: visceral, clear, direct.
I need to get away from the man. But I need to do it in a way that doesn’t anger him. This is the tricky bit. Men who lack social awareness or empathy often also lack other skills in emotional management. And usually, what men in these situations actually want is closeness. They’re trying to get closer to me, physically or emotionally, in the only way they know how. That combination of poor emotional skillsets and a desire to get closer is exactly what puts me in danger.
If I deny his attempts at closeness by leaving or setting a boundary, he could feel frustrated, rejected, or ashamed. If he doesn’t know how to recognize or manage those feelings, he’s likely to experience them as anger. And then I’m a solo woman stuck in a forest with an angry man, which is exactly what women are most afraid of.
There’s no time to think, so I operate on instinct. My task is ridiculously complex. I need to deescalate any signs of aggression, guide the man into a state of emotional balance, and exit the situation safely, all at once. This process requires all of my attention, energy, and intellect. It’s really hard.
I’ve been in this position so many times that it exhausts me just to write about it. Sometimes, it’s not that I’m afraid of men; I’m just really, really tired.
Das erklärt auch die wütenden Reaktionen mancher Männer auf die Bär-oder-Mann-Frage:
It’s frustrating when you don’t know how to get that closeness. And it’s lonely. The angry men in this debate are very lonely men.