Journal Sonntag, 31. Dezember 2023 – Berlin-Rückfahrt, abgekürzter Silvesterabend
Montag, 1. Januar 2024Tiefer Schlaf, rechtzeitiger Wecker für Rückreise. Abschied vom wirklich schönen Hotel Henri.
Diesmal dann doch Weltbild-rüttelnd: Nach Morgencappuccino am Berliner Hauptbahnhof fuhr der ICE-Sprinter direkt nach München nicht nur pünktlich ein, sondern auch wie angekündigt gereiht und intakt. Die Türen öffneten sich, unsere reservierten Plätze existierten. Ich begann, existenzielle Katastrophen unterwegs zum Ausgleich zu befürchten.
Zugfahrt unter mittelbewölktem Himmel mit sehr tief stehender Wintersonne. Das Wasser, das weiterhin in vielen Senken von Wiesen und Feldern stand, erzeugte damit interessante Anblicke: Helle Spiegelflächen, im Hintergrund oft lockere Windradgrüppchen, mal waren nur die sachte kreiselnden Rotorblätter sichtbar, mal das gesamte Windrad.
Zum Teil aber auch schier endlose Überschwemmung.
Ankunft am ersten planmäßigen Halt in Halle zwei Minuten ZU FRÜH (Katastrophen-Symptom, ganz sicher).
Doch dann: Entspannung des Weltbilds bei der Anfahrt auf Nürnberg. Die Schaffnerin informiert über eine Stellwerkstörung bei Ingolstadt (also auf unserer regulären Reststrecke), sie müsse erst noch herausfinden, wie sich das auf die Ankunft in München auswirken werde.
Daraus wurde eine gut 20 Minuten verspätete Ankunft im hellen, milden München, aber hey: Alle Menschen, die nur bis Nürnberg mitgefahren waren, hatte eine perfekte, Weltbild störende ICE-Fahrt gehabt. (20 Minuten hin oder her für die lange Strecke Berlin-München finde ich wirklich nicht schlimm, das erwartet auch von einer Autoreise niemand – ich gehöre aber auch nicht zu den Leuten, die gestern dadurch ihren Zug nach Budapest verpassten, den es sehr wahrscheinlich nicht so oft am Tag gibt.)
Auf der Münchner Bahnhofsbaustelle kaufte ich uns Frühstückssemmeln, die gab es nach Blumengießen, Kofferausräumen, Einschalten der Waschmaschine zum Frühstück um zwei, davor einen Apfel. Draußen bereits regelmäßiges Geböller.
Wie von langer Hand geplant setzte ich dann Brotteig an, der den Bestand an altem Sauerteig aufbrauchte: Auffrischbrot Jule.
Zwischen zwei Strech&Folds endlich wieder Yoga-Gymnastik, eine Einheit für den ganzen Körper (während draußen Regen prasselte – der zu meiner Überraschung das Geböller keineswegs minderte).
Silvester-Abendessen:
Die Artischocken, die wir in Berlin gekauft hatten, gab es mit selbst gemachter Majo (so köstlich! auch noch als Dip verdünnt mit Joghurt und mit reichlich Knoblauch), dann ein wenig Linsen (dazu hatte ich Herrn Kaltmamsell überredet, weil sie ein traditionelles italienisches Silvester-Gericht sind, die Linsen sollen Glück bringen und Münzen symbolisieren), dann noch spanische Pimientos de piquillo gefüllt mit Feta und weiteren spanischen Käse. Alkohol dazu war Aperol Spritz, Nachtisch edle Pralinen aus Königsbrunn, die wir zu Weihnachten geschenkt bekommen hatten, sowie spanischer Turrón, ebenfalls Weihnachtsgeschenk. Doch mal wieder überfressen.
Im Fernsehen ließen wir Das große Rennen rund um die Welt laufen, den ich noch nicht kannte, der mir als Klassiker angepriesen wurde – und den Herr Kaltmamsell praktisch mitsprechen konnte: Er hatte den Film als Kind oft gesehen. Ich wurde nicht recht warm mit dieser Art Albernheit, erkannte zwar die Hommage an Stummfilmzeiten (Väter der Klamotte durfte ich freitags am Vorabend ansehen), fand sie aber zu platt. Wir hielten eh nicht den ganzen Film durch, um halb elf war Bett und Lichtaus (Ohrstöpsel und geschlossene Fenster), das Datum würde sich auch ohne uns korrekt umstellen.
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Langsam, langsam nähere ich mich einem Zustand, in dem der Kauf eines neuen Rechners eine Option wird. Der jetzige, ein McBook Pro, ist zehn Jahre alt, und eigentlich wollte ich ihn behalten, solange er Betriebssystem-Updates mitmacht und nicht kaputt geht. Doch anders als seine Vorgänger geht dieser hier immer nur ein kleines bisschen mehr in kleinen Funktionen kaputt, so graduell wie seinerzeit unsere alte Küche, so dass ich mich mit Work-arounds daran gewöhne. Ich fürchte, ich könnte dadurch übersehen, dass er eigentlich ein Sicherheitsrisiko darstellt.
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Formschub schwärmt vom Kochen und allgemein vom praktischen Umgang mit Lebensmitteln in einer Weise, die ich kenne:
“Herdgedanken”.
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In ihrem Debütroman ergründet Anne Rabe, wie die Gewalt der DDR bis heute nachwirkt. Hier berichtet sie vom Schweigen bei ihrer Lesereise.
“Schweigen über Gewalt in der DDR:
Durchwachte Nächte”
Rabes autofiktionaler Roman Die Möglichkeit von Glück gehörte zu meinen wichtigsten Lektüren 2023. Er hatte viel Nachdenken bei mir ausgelöst, dieser Artikel jetzt weiteres, unter anderem darüber, wie elterliche Gewalt Urvertrauen und ein grundlegendes Sicherheitsgefühl zerstören kann, statt dessen hart machen (erst vor wenigen Wochen von einem Altergenossen ein nur wenig lustig gemeintes “Uns hat’s a ned g’schad!” gehört, diesmal den Widerspruch “Doch.” runtergeschluckt).