Theater

Romane und Filme auf der Theaterbühne

Dienstag, 13. Januar 2009

Verfilmungen historischer Stoffe, Filme „nach einer wahren Begebenheit“, Doku-Spielfilme statt erfundener Geschichten diagnostizierte heute Martina Koben im Feuilleton der Süddeutschen Zeitung als aktuellen Kinotrend. Der Bezug zur Finanzkrise, den sie zieht, erscheint mir zwar konstruiert: Sollte nicht gerade das Auffliegen von angeblichen Fakten als manipulierende Märchen ein Misstrauen gegenüber Tatsachenbehauptungen schüren statt eine Sehnsucht nach „So war es wirklich“ hervorrufen? Förderten Wirtschaftskrisen bislang nicht eher den Bedarf an eskapistischen Stoffen mit heiler Welt? Doch die Veränderung in der Geschichtenbasis von Kinofilmen ist mir in den vergangenen Jahren ebenfalls aufgefallen. „Die traditionellen Erzähler misstrauen ihrer Erfindungskraft“, so der Untertitel des SZ-Artikels, scheint mir eher eine Erklärung.

Im Theater passiert vielleicht Ähnliches. Die ersten drei Stücke, die ich auf der Basis meines Abos sehe, sind die Dramatisierung eines Filmes (Hass), ein Stück nach einem Roman von 2004 (Schnee) und eines nach einem älteren (Hiob). Das mag schon Zufall sein (weiter geht es mit dem ganz frischen Stück Kaspar Häuser Meer von Felicia Zeller), aber in meinem ersten Leben als Theaterbesucherin, ca. 1973 bis 1988, sah ich ausschließlich für die Bühne geschriebene Geschichten. Auch hier ein Mangel an Vertrauen in Selbsterfundenes?

Nachtrag: Jetzt steht Frau Kobens Artikel auch auf der Website der SZ, allerdings mit anderer Überschrift.
Noch ein Nachtrag: Jetzt funktionieren auch die Links zu den Stücken – die Website der Kammerspiele macht einem Vieles nicht einfach.

Vorverkaufsgebühren

Donnerstag, 10. Januar 2008

Verdacht: Bayerisches Staatsschauspiel steckt mit den Betreibern zentraler Vorverkaufsbüros unter einer Decke. Habe tagelang vergeblich versucht, online Karten fürs Residenztheater zu kaufen (siehe Neujahrsvorsatz): Das System blieb immer wieder stecken, und als ich endlich meine Kundendaten hinterlegen konnte, bekam ich keine Bestätigungsmail, die mich hätte bestellen und zahlen lassen. Als ich gestern die Karten mit sattem Aufpreis im zentralen Vorverkaufsbüro holte, war die Schalterdame verblüfft, wie genau ich sie an die beiden Plätze lotste, die ich seit Tagen vergeblich online angepeilt hatte. Als ich ihr mein Problem schilderte, winkte sie sofort ab: “Wissen wir.” Also, ich bitt Sie!

Tagebuchnotizen Spießerwochenende

Montag, 16. Januar 2006

Samstagvormittag in Migränefolter (wieder eine Rotweinsorte, die ich von meiner Genussliste streichen muss) und damit im Bett verbracht. Nachmittags langsames zu Bewusstsein Kommen, ausführliches Vollbad, dann erste Mahlzeit des Tages. Abends Iphigenie in den Kammerspielen. Man hatte mich mit Hinweisen auf die Entsetzlichkeit der Inszenierung, auf reihenweise Verrisse, auf die Besetzung der Titelrolle mit einem Mann, auf die Möglichkeit, in der Pause zu gehen, vorbereitet; beinahe war ich trotzig entschlossen, die Inszenierung erst recht zu mögen. Ich musste gar nicht trotzen: Ich war gefesselt (dass ich Goethens Iphigenie noch nie gesehen hatte, erhielt die Spannung). Die Details, die völlig an mir vorbei gingen (u.a. mehrfacher Kleidungswechsel des Iphigenien-Darstellers), blendete ich einfach aus.* Auf den Heimweg fragte ich mich zum wiederholten Mal, warum ich, die in Kindheit und Jugend fast jeden Monat im Theater war (Mutter hatte Platzmiete), und das sehr gerne, das so völlig aufgegeben habe.

Sonntagvormittag langes Laufen an der Isar, dabei trotz verschärfter Minusgrade so vielen anderen Joggern begegnet, dass ich mich gar nicht mehr heldisch fühlte. Nachmittags mit einer Freundin im sonnig klirrenden Englischen Garten spaziert. Insgesamt über drei Stunden frische Luft – die befürchtete Schockreaktion meines Körpers blieb glücklicherweise aus. Abends viel essen und lesen (A.L. Kennedy, Everything you Need, von dem ich ganz begeistert bin, und einfach nicht draufkomme, warum).

*Nicht mal „Arkasse hatten wir schon bessere“…

Reisetagebuch Brighton 2005 (Freitag)

Samstag, 21. Mai 2005

In Brighton ist derzeit Brighton Festival mit Veranstaltungen aller kultureller Art. Also gingen wir ins Theater, in ein Double Feature mit Stuecken von Shaun Prendergast im Theatre Royal. Dass es in englischen Theatern keine Garderoben gibt, wusste ich noch: Die Zuschauer legen ihre Maentel und Jacken meist zusammengefaltet auf ihren Schoss – im Winter sehr unbequem. Aber dass im Theater gegessen und getrunken wird, hatte ich vergessen – Bier, Gin and Tonic, Wein, Schokoriegel, Crisps, Gummibaerchen. Alerdings geht das mit erstaunlich wenig Geraeusch.

Wir sahen zunaechst The True History of the Tragic Life and Triumphant Death of Julia Pastrana, the Ugliest Woman in the World. Nur dass “sehen” falsch ist: Das Stueck wurde in kompletter Dunkelheit aufgefuehrt.

Zunachst wurden wir Zuschauer, die wir Karten fuer die Raenge hatten, umdirigiert auf ordentliche Stuhlreihen auf der Buehne und setzten uns mit dem Gesicht zum Zuschauerraum. Dann trat die Regisseurin auf, Andrea Brooks, und erklaerte die Formalitaeten. Der Raum, sagte sie, wuerde gleich voellig abgedunkelt. Voellig? Voellig, auch die Notausgang-Lichter wuerden ausgeschaltet: “Yes, we’re allowed to do this.” Die Auflagen der Aemter seien im Grunde wenige, denn, so Brooks, gefaehrlich werde es nur, wenn jemand aufstehe und sich im lichtlosen Raum bewege. Deshalb spannte sie ein Tau in Schenkelhoehe den Buehnenrand entlang und wies uns an, was wir Zuschauer zu tun haetten, falls einer – aus welchem Grund auch immer – raus muesse: “Raise your hand”, sie hob zur Demonstration die Hand wie zum Melden in der Schule, “and shout ‘usher’!” Einer der fuenf Platzanweiser im Raum werde dann seine Taschenlampe anschalten und den Lichstrahl ueber die Koepfe des Publikums gleiten lassen, bis er die gehobene Hand sehe. Dann werde er die Person nach draussen fuehren.

Danach wurde es tatsaechlich ungeahnt dunkel, und das Stueck begann. Hatte ich vorher noch vermutet, man haette vielleicht gleich ein Hoerspiel daraus machen sollen, wurde mir bereits klar, dass das nicht stimmte, als der erste Schauspieler mit schweren Schritten hinter mir quer ueber die Buehne ging und marktschreierisch die haesslichste Frau der Welt ankuendigte. Um sie ging es, Julia Pastrana, eine junge Suedamerikanerin, die im fruehen 19. Jahrhundert von ihrer Familie an einen Wanderzirkus verkauft wurde, wo sie in der Side Show vortanzte und sang.

Ja, das Stueck funktioniert nur in der Dunkelheit, allerdings fallen mir sofort einige andere Geschichten ein, die von dieser Art der Auffuehrung profitieren wuerden – Reisegeschichten zum Beispiel.

Als das Licht wieder anging, sah ich, dass erheblich weniger Schauspieler involviert waren, als ich gedacht hatte: zwei Frauen und drei Maenner in Schwarz, alle mit schwarzen Schuerzen. Jetzt bei Licht suchte ich nach den Hilfsmitteln, mit denen sie sich im Raum zurecht gefunden hatten. Ah, es waren an einigen Stellen schwarze Gummiseile gespannt, zudem dicke schwarze Kabel auf dem Boden befestigt.

Nach der Pause sass ich oben im ersten Rang auf der Royal Gallery. Gegeben wurde jetzt The False Corps: Ein manisch depressiver und stark geschminkter Komiker kuendigt als seine letzte Vorstellung an, er werde sich auf der Buehne erschiessen. Ein 19.-Jahrhundert-Arzt versucht, ihn davon abzubringen. Es geht um das Wesen der Komik, den Witz, das Lachen, das Publikum. Letztertes wurde immer wieder zum Eingreifen aufgefordert, hatte zu diesem Zweck auch beim Hereinkommen rote Plastiknasen bekommen (damit mussten wir dem Arzt beweisen, dass jeder von uns einen simplen Witz besser erzaehlen konnte als der Arzt, der behauptet hatte, Comedy sei ja wohl simpel). Hat Spass gemacht, das Stueck, war ellerdings zu kurz und schnell, als dass ich viel mitgenommen haette.

Sonst:

– Kleinkinder, die sich in einem Planschbecken am Strand vergnuegen, nackig und nass bis zu den Haarspitzen. Zwar war es nachmittags trocken mit ein bisschen Sonne, aber sicher nicht waermer als 17 Grad. Die Eltern der Kleinen sassen ja auch in Wollpullovern auf den Stufen zum Planschbecken.

– Polizisten und Polizistinnen, die den Strand auf dem Fahrrad patroullierten, sogar auf Mountainbikes. Statt der Polizistenmuetze trugen sie dunkelblaue Fahrradhelme, dazu gelbe Leuchtwesten.

– Aktuelle englische Mode: Anoraks mit pelzverbraemten Kapuzen (bei jedem Wetter); Stiefel zum Rock gerne auch gefuettert (bei jedem Wetter), am liebsten zu knielangen weiten Roecken mit Muster ueberm Saum. Ich nenne das hiermit den Kalinka-Look. Nachdem die Englaenderin bislang eher dazu tendierte, sich beim ersten Sonnenstrahl in Traegertops und Sandalen zu kleiden, halte ich diese derzeitige Mode fuer sehr gesundheitsfoerderlich.

– Louis de Bernieres hat endlich, endlich einen neuen Roman veroeffentlicht. Nach dem superben Captain Corelli’s Mandolin von 1994 hatte er nichts Laengeres mehr rausgebracht. Habe mir das Buch, Birds without Wings, gleich gekauft und beim Lesen des Klappentextes festgestellt, dass er tatsaechlich den Roman geschrieben hat, von dem er sprach, als ich ihn vor neun Jahren kennenlernte (ich betreute als Hiwi am Lehrstuhl fuer Englische Literaturwissenschaft die Schriftsteller, die uns das British Council schickte). Damals kam er gerade von einer ausgiebigen Tuerkei-Reise zurueck ud erzaehlte, er wolle unbedingt ueber die persoenlichen und gesellschaftlichen Verwerfungen schreiben, die der tuerkisch-griechische Konflikt Anfang der 20. Jahrhunderts ausgeloest hatte, wahrscheinlich am Beispiel einer tuerkischen Siedlung auf griechischem Boden und einer griechischen auf tuerkischem Gebiet. Ich freue mich schon sehr auf das Buch.

Mal sehen, was ich vom Brighton Festival noch mitnehme. Sehr attraktiv klingt Artists Open Houses:

At a typical Open House you can see art displayed in an informal domestic setting and buy affordable artworks direct from the artist, maybe even having an invaluable chat and consultation with the artist over tea and home-made cakes (…) Entry is always free and it is an unique opportunity to view the homes and gardens of practising artists.

Unter den 750 Kuenstlern, die an 170 Orten in Brighton und Umgebung ausstellen, sind auch Fotografen; die wuerden mich interessieren.

Unerwartet

Mittwoch, 10. März 2004

Es ist der letzte Vormittag der bayerischen Schultheatertage, irgendwann Mitte der 80er in Ingolstadt. Wir jungen bis sehr jungen Leute, die den Zuschauerraum des „Großen Hauses“ füllen, sind vom vielen Gucken, Spielen, Feiern erschöpft und sehen eher gelangweilt auf die Bühne, auf der noch eine letzte Truppe auftritt. Sie gehört zum örtlichen Apian-Gymnasium und ist nur wegen des Gastgeber-Bonusses dorthin gekommen; alle anderen Truppen mussten sich qualifizieren.

Mit mehr Inbrunst als Können schauspielern die Schüler im Scheinwerferlicht Ausschnitte eines dialoglastigen Stücks. In der Schluss-Szene stehen nur noch zwei Menschen am Rand der Bühnenmitte: Ein junger Mann mit halblangen, dunklen flaumigen Haaren, um die Lippen ein Musketier-Bärtchen. Ihm zugewandt ein junges Mädchen im Kleid und mit langen, hellen Locken. Am Ende ihres Dialogs umarmen sie sich. Ein Kuss.

Nach wenigen Sekunden will sie sich von ihm lösen. Doch er lässt nicht los, dehnt den Kuss aus. Ihr Körper stutzt. Er küsst sie weiter, legt seine Hand auf ihren Nacken. Der Raum wird still. Und da beginnt sie zu schmelzen. Muskel für Muskel gibt sie nach, fällt in den Kuss, sinkt dahin. Die Intimität der Szene überträgt sich auf die Zuschauer. Sie halten den Atem an, ihre Blicke gebannt. Der Kuss dauert an, die beiden Menschen verwachsen miteinander.

Endlich löst er sich, blickt in ihre Augen, tritt einen Schritt zurück. Sie bewegt sich nicht, starrt ihn an, sekundenlang. Bis er sich mit einer fließenden Bewegung den Zuschauern zuwendet, gleichzeitig ihre Hand nimmt und sich verbeugt. Zögerlich setzt Applaus ein, die anderen Darsteller kommen zur Verbeugung auf die Bühne. Das junge Mädchen reiht sich ein, immer noch benommen und mit erhitztem Gesicht. Mechanisch lächelt sie, verbeugt sich mit den anderen, verschwindet hinter der Bühne.

Und im Blick jeder Zuschauerin spiegelt sich die Sehnsucht, nur einmal im Leben so geküsst zu werden.

Inzwischen ist der junge Mann übrigens Komiker