Was die Kammerspiele und Peter Handke mit Susan Sontag und dem Tatort zu tun haben
Mittwoch, 16. Juni 2010Gestern Abend hat mein Kammerspiel-Abo mich wieder ins Theater gebracht: Das letzte Band / Bis dass der Tag euch scheidet oder Eine Frage des Lichts, der erste Teil von Samuel Beckett, der zweite darauf aufbauend von Peter Handke.
Ich bin immer noch in erster Linie berauscht von Theatererlebnissen, sehe immer noch eine viel größere Verwandtschaft einer Theaterinszenierung mit bildender Kunst als mit Literatur. Die Mittel des Erzählens sind mindestens so wichtig wie die Inhalte, ohnehin untrennbar damit verbunden. Möglicherweise ist damit inzwischen die Forderung Susan Sontags erfüllt, die sie Anfang der Sechzigerjahre erhob: Sie sah die Zeit gekommen für ganz neue Formen des Erzählens, weg von der Inhaltsbezogenheit. Am meisten wünschte sie sich das von Romanen, führte in einem anderen Aufsatz aber als Beispiele die damals aufkommenden Happenings an – die mit Techniken arbeiteten, die heute zur gängigen Inszenierungspraxis gehören.
Kurzer Exkurs: Im Urlaub habe ich Sontags erste und wohl auch berühmteste Essaysammlung Against Interpretation (1966) gelesen. Das titelgebende Einstiegessay von 1964 (hier online) erzürnte mich zunächst: Das stimmte doch alles gar nicht, keineswegs befasst sich die Literaturwissenschaft nur mit den Geschichten, mit den Erzählinhalten, und lässt Techniken wie Formen unberücksichtig. Und sie sucht keineswegs danach, was der Autor damit sagen wollte. Doch dann erwachte ein Verdacht in mir: Vielleicht hat sich ja in der Literaturwissenschaft in den 40 Jahren zwischen Sontags Essay und meinem Literaturstudium in den 90ern viel mehr grundsätzlich bewegt, als mir bislang klar war. 1964… da waren F. R. Leavis und der New Criticism vermutlich noch Standard. Vielleicht aber liegt das Problem auch in der unterschiedlichen Begrifflichkeit: Das englische literary criticism umfasst sowohl Literaturwissenschaft als auch literarisches Feuilleton. Und auch in Deutschland schreiben Feuilletonisten bis heute mit Hingabe darüber, was ein literarisches Werk, ein Autor, in Wirklichkeit und eigentlich erzählen wollten.
Zurück zum gestrigen Abend in den Kammerspielen. Beim Stichwort Handke möchte ich eigentlich immer zusammenzucken und aus Angst vor Langeweile fliehen. Doch inszeniert funktioniert seine Sprache, mit fast magischer Luzidität. So auch gestern. Zumal der von Handke geschriebene Teil der Monolog einer wundervollen Schauspielerin war (hier gibt es links einen Ausschnitt als Filmchen): Nina Kunzendorf, in die ich mich in ihrer Rolle der Krankenpflegerin in Marias letzte Reise umgehend verknallt habe – vielleicht kennen Sie sie auch aus einem der besten Polizeirufe überhaupt, „Der scharlachrote Engel“. Und beim Heraussuchen weiterführender Links stoße ich eben auf die Meldung, dass sie zusammen mit Joachim Król die Frankfurter Tatort-Kommissare Andrea Sawatzki und Jörg Schüttauf beerben soll. Da bin ich aber mal gespannt. (Bitte schreibt gute Drehbücher!)
Nachtrag 18.6.: Wunderschöne Koinzidenz – das Süddeutsche Magazin enthält heute ein “Sagen Sie jetzt nichts” mit genau dieser Nina Kunzendorf.




