Weltkulturerbe Well
Donnerstag, 7. Juni 2012Dieses Jahr stand mein Kammerspiel-Abo unter keinem günstigen Stern: Die Abende der Aufführungen folgten allesamt Tagen, nach denen mir überhaupt nicht der Sinn nach Theater stand. Der gestrige sah zunächst nach einem weiteren solchen aus: Am Abend zuvor war ich erst spät ins Bett gekommen, hatte am Morgen vor der Arbeit einen Zahnarzttermin (nichts Schlimmes, nur mal wieder professionelle Reinigung), wollte nach der Arbeit in die Muckibude und dann noch für den heutigen Feiertag einkaufen. Doch dann gab der Mitbewohner einen Anruf der Kammerspiele weiter: Die Vorstellung müsse abgesagt werden. Statt dreier Kurzstücke von Sarah Kane („Folge eines dunklen, beunruhigenden Oeuvres (…), in dem Vernichtung und Selbstzerstörung wichtige Themen sind“) werde es einen Hausmusikabend mit den Geschwistern Well geben. Schlagartig sah der ganze Tag anders aus.
Die drei Well-Brüder, die bis vor Kurzem die Biermösl Blosn bildeten, gehören eng zu meinem Erwachsenwerden. Auf Chortourneen sangen wir einander im Bus ihre Lieder vor, (mir fällt als erstes „Annamirl“ ein, das eine Mitsopranistin aufs Bewegendste zum Vortrage zu bringen wusste – ob jemand zuhören wollte oder nicht), „Gott mit dir, du Land der BayWa“ lässt sich ja auch schnell auswendig lernen. Niemand sonst hat der Teenager-Kaltmamsell so früh begreiflich gemacht, dass Politik etwas mit ihr zu tun hat und nicht nur mit Parlamentariern in Bonn.
Von dieser Well-Show in den Kammerspielen hatte ich vor Monaten gelesen: „Fein sein, beinander bleibn“ – sechs Geschwister der Well-Familie schenken sich zum fast 50-jährigen Bühnenjubiläum einen gemeinsamen Auftritt, oder, wie sie selbst es bezeichnen, eine „Familienaufstellung auf volksmusikalischer Basis”. Das wollte ich unbedingt sehen.
Also nahm ich sogar in Kauf, dass ich auf dem Heimweg zweimal eingeregnet wurde, vom schwer bepackten Radeln zudem durchschwitzt war, mich also eigens fürs Theater duschen und umziehen musste. Aber der Abend war es sowas von wert. Auf dem nächtlichen Heimweg fragte ich mich, ob man eigentlich auch Familien zum UNESCO Weltkulturerbe ernennen kann – die Well-Familie wäre ein Kandidat.
Der Blick aus dem leider spärlich besetzten Zuschauerraum (klar, wer schwenkt schon so kurzfristig um) auf die Bühne war zunächst der oben auf dem Foto. Das Zählen der Instrumente gab ich bei 40 auf. Dabei setzten die drei Well-Frauen (Bärbi, Burgi Moni – als die Wellküren schon seit Jahren im Musikgeschäft) und drei Well-Männer (Stofferl und Michael kannte ich von der Biermösl Blosn, Klausi hatte ich noch nie gesehen) noch erheblich mehr Instrumente ein, als anfangs zu sehen waren. (Ich lernte sogar ein Instrument neu kennen: Die Nonnentrompete, hier im Einsatz bei den Wellküren.)
Die Rahmengeschichte (Regie Franz Wittenbrink) ist eine Probe für die nächsten Auftritte. Abwechselnd erzählen die Geschwister von diesen geplanten Auftritten (zum Beispiel zur im August anstehenden Hochzeit von Lafontaine und Wagenknecht in der Wieskirche, es traut der Münchner Erzbischof Marx) und geraten sich auf die verschiedenste Art und Weise in die Haare (ein Vorfall mit einem Schürhakl in der Küche, an dem mindestens die beiden Jüngsten Moni und Stofferl beteiligt waren, damals anderthalb und drei Jahre alt, spielt eine Schlüsselrolle).
Zweieinhalb Stunden spielten die sechs quer durch alle Musikrichtungen, die sich mit vier Dutzend Instrumenten und sensationeller Musikalität wiedergeben lassen (ja, Anke, Wagner war auch dabei) – mittlerweile nehme ich an, dass der Stofferl jedes Instrument, das es überhaupt auf der Welt gibt, konzertreif spielt. Wobei „die sechs“ nicht korrekt gezählt ist: Hinten links auf der Bühne thronte über dem allen „d‘ Mutti“ in einem riesigen Ohrensessel, die schöne, kleingebeugte weißhaarige und mittlerweile 92-jährige Mutter der 15 (fünfzehn) Well-Kinder. Sie wurde nicht nur in die Dialoge eingebunden, sondern hatte auch den einen oder anderen Zither-Part.
Ich bekam unter anderem zu hören:
– ein böse gerocktes „Da Teifi soi di hoin!“ der drei Schwestern (Melodie passte zu Klausis T-Shirt „Highway to Well“ – die dürfen das), bei dem Moni ihr Hackbrett fast in Stücke drosch
– klassischen Dreigsang
– einen schottischen Marsch (Stofferl am Dudelsack) mit Clog-Schuhplattl-Crossover-Tanz
– Rennaisance-Musik mit Harfe und Drehleier
– einen fröhlichen Schunkel-Beitrag für die Fernsehsendung „Zuchtperlen der Volksmusik“ mit dem Titel „Wer nimmt d’ Oma, die liegt im Koma“
– Schnaderhüpfl
– einen Rap für einen anständigen Milchpreis („Fourty Cent! Fourty Cent! Oder dei Audi brennt!“) – für den der rappende Stofferl eine Wollmütze aufsetzte und seine kurze Lederhose auf unter Hüfthöhe runterzog
– diverse Jodler, wobei der Andachtsjodler darin endete, dass sich drei Alphörner aus der Bühne nach oben schoben. Die die drei Brüder, um darauf spielen zu können, ins Publikum schoben – irgendwer wird die Enden schon festhalten, Michael gab mit einer Geste den Tipp, dieses auf die Schulter zu legen.
– ein Alphorn-Medley, das in „We will rock you“ kulminierte
– den Bolero von Ravel, auf den sich, wie ich jetzt weiß, hervorragend schuhplatteln lässt
So ein Spaß! Und wenn jeder singen und unzählige Instrumente spielen kann, sind auch drei bis vier Zugaben kein Problem – das Familienrepertoire muss unerschöpflich sein.
Was mir wieder auffiel: Das Bayrisch der Wells ist nicht ganz meines, also kein reines Oberbayrisch. So sprechen sie das Wort Eltern nicht wie ich „Eytern“ aus, sondern „Oitern“, auf der Annamirl-Aufnahme ist außerdem ein deutliches „woascht“ statt meinem oberbayrischen „woaßt“ zu hören. Ich nehme an, das ist so weit südwestlich bereits der Einfluss des Allgäus.
So oder so: Falls sie die Show noch irgendwie erwischen (zweieinhalb Stunden durchgehendes Bayrisch! Wo gibt es das sonst in München?), schauen Sie sich die an. Anfangen könnten Sie mit der Fotogalerie auf der Kammerspiele-Website und der Fotogalerie bei den Wellküren.
Den Rapp von Little Milli gibt’s sogar beim YouTube: