Journal Sonntag, 27. März 2022 – Tanztee

Montag, 28. März 2022 um 6:36

Sommerzeit! Wie fast jedes Jahr sorgt die Umstellung dafür, dass Tageslicht und meine innere Uhr synchronisiert werden: Gefühlt war es in den vergangenen zwei Wochen deutlich zu früh dunkel geworden.

Ich hatte gut (nur dreimal aufwachen) und lang geschlafen. Mein Sportrucksack war fürs Schwimmen fast fertig gepackt, während ich überm Milchkaffee den Blogpost fertigschrieb und die Bilder bearbeitete – da meldeten sich doch Bedenken: Der Fingerschnitt schmerzte unerwartet heftig, und obwohl er nur noch leicht nässt, vernahm ich eine Stimme der Vernunft. Hände sind beim Kraulen nun wirklich heftig im Einsatz, und selbst wenn die bereits durchgeplante Fingerschutz-Konstruktion mit Pflaster plus abgeschnittenem und mit Hansaplast festgepapptem Finger eines Gummihandschuhs halten würde: War es wirklich SO schlimm, sicherheitshalber aufs Schwimmen zu verzichten? Zumal es für den Tag ja bereits weitere Bewegungspläne gab?

Also plante ich um auf Ganzkörper-Hanteltraining mit Fitnessblender – hatte ich seit Monaten nicht mehr gemacht. Es wollte allerdings schwer erarbeitet werden: Erst übertrug mein Laptop die Aufwärm-Musik nicht an die externen Lautsprecher, ich turnte Laptop-beschallt. Dann erreichten weder Smartphone noch Laptop den Fernseher zur Übertragung des Trainings, zuletzt bekam gar kein Gerät mehr Internet, um die Trainingseinheit überhaupt vorzuspielen. Herr Kaltmamsell startete letztlich den Router neu, dann endlich konnte ich mit einiger Verzögerung loslegen. Zu meiner Freude hatte ich keinerlei Mühe mit dem Training und weiß jetzt, dass die fast täglichen Yoga-Einheiten hinreichend Kräftigung enthalten.

Die Bäume des benachbarten Parks und um unser Haus überschlagen sich mit Blätterwachstum: Das waren binnen 24 Stunden sicher ein paar Zentimeter. Durch einen weiteren vorzeitigen Frühsommertag spazierte ich zum Semmelholen, die Tische vor allen Cafés dicht besetzt. Frühstück um zwei waren Semmeln und Mandarinen.

Und dann machte ich mich fertig zum Tanztee! Der Newsletter des Kulturreferats der Stadt München hatte einen Tanztee von 15 bis 17 Uhr im Wirtshaus am Bavariapark angekündigt, also fußläufig, “Tanzen zur Live-Musik von 1900 bis 1960”. Noch sichern Pandemievorschriften, dass der Impfstatus von Teilnehmenden überprüft wird, dass Masken im Innenraum getragen werden (das Ende von Corona wurde offiziell auf 2. April verschoben, derzeit erreichen die Infektionszahlen immer neue Höchstwerte – und das bei einem Anteil an positiven PCR-Tests über 50 Prozent, was auf sehr viele nicht erfasste Infektionen hindeutet; der Betrieb in Unternehmen, Schulen, Krankenhäusern ist durch Ausfall von Personal deutlich gestört) – nach kurzer Rücksprache mit Herrn Kaltmamsell, der sehr gerne tanzt, hatte ich uns angemeldet. Und nach negativem Selbsttest am Morgen war der Weg frei.

Zum schwingenden Faltenröckerl kramte ich ein ganz altes Oberteil heraus und stellte fest, dass ich im Größensystem von Zara immer noch ein L bin. Eigentlich ein XL, denn das T-Shirt Größe L kniff ein wenig unter den Armen. Im Größensystem von Boden oder More & More stehe ich derzeit bei S. Und an alten Kleidungsstück kann ich sehen, dass heute mit Größe 36 ausgezeichnet wird, was vor 20 Jahren Größe 38/40 war – manchmal frage ich mich, wozu Konfektionsgrößen überhaupt noch gut sein sollen.

Mir fiel ein, dass ich passende Sommer-Handschuhe besitze, die perfekt für einen Tanztee dienten.

Mit Jacke überm Arm spazierte ich mit Herrn Kaltmamsell über die Theresienwiese zum Wirtshaus (Biergarten bereits gut gefüllt) (im März!), dort in einem Nebenraum saß bereits die Musik: das Salonorchester Jalousie.

Und es spielte ganz wundervoll Musik, die mich allein schon im Arrangement an alte UFA-Filme erinnerte – erstaunlich viel davon waren gemütliche Tangos. Wir tanzten viel, auch Foxtrott, Pasodoble, Polka, Langsamen Walzer, aber nicht alles (irgendwann wurden Wiener Walzer zu schweißtreibend), es gab genug Platz, und Tanzen ging mit FFP2-Masken ganz wunderbar. Wenn ich auch die einzige mit Handschuhen war: Andere hatten Fächer dabei, die Füchsinnen, daran hatte ich nicht gedacht. Der Altersdurchschnitt der Tanzpaare war erwartungsgemäß hoch, wir passten also genau rein.

Wenn Sie sich für solche Tanzereien und Volkstanzgelegenheiten in München interessieren, empfehle ich den Newsletter des Münchner Kulturreferats dazu, hier abonnierbar. Eben sehe ich, dass es mittlerweile sogar vier verschiedene Newsletter zu den Themen Jodeln, Musizieren, Singen und Tanzen gibt – angefangen hat das mit einer Papierliste vorm Tanzraum im Hofbräuhaus, in die ich meine E-Mail-Adresse schrieb, um über anstehende Volkstanz-Veranstaltungen benachrichtigt zu werden (Omma erzählt von Kriech).

Rückweg über die knallsonnige Theresienwiese, auf der viel gesportelt und gespielt wurde. Zurück daheim arbeitete ich den Bügelberg ab, beschienen von Sonne im Wohnzimmer.

Wer gerne Blusen trägt, muss Blusen bügeln.

Herr Kaltmamsell hatte das Nachtmahl gekocht, auf meinen Wunsch ein Gulasch aus Nierenzapfen nach einem Rezept aus Petra Hammersteins Zart und saftig. Dazu briet er die restlichen Kartoffelnudeln vom Vortag, das Weißkraut aus Ernteanteil hatte er zu Krautsalat verarbeitet – mit Meerrettich, Idee vom Wirtshausessen am Sonntag davor.

Schmeckte hervorragend. Nachtisch Schokolade.

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Definitive Verschönerung meines Tags: Eine Eule namens Tito. (Ich hätte sie ja Dajan genannt.)

die Kaltmamsell

Journal Samstag, 26. März 2022 – Waldschwimmen in Frühlingsausbruch

Sonntag, 27. März 2022 um 9:44

Mittelgute Nacht, die um fünf endete; zumindest hatte ich samstäglich Zeit für eine Stunde Dösen.

Wegen aufgeschnittenem Finger zog ich die für Sonntag geplante Laufrunde vor – ich wollte die Chance erhöhen, statt dessen am Sonntag Schwimmen zu gehen. Da ich so früh aufgestanden war, kam ich auch früh los.

Der wieder wolkenlos strahlende Sonnenschein (ich dachte an Sonnenbrille und sogar an Sonnencreme!) machte die Auswahl der Sportkleidung kompliziert: Ich wollte nach Thalkirchen radeln (Bauarbeiten an der U3/U6 machen derzeit eine Anreise mit Öffis kompliziert), bei jetzt erst 6 Grad Lufftemperatur brauchte ich dafür Mütze, Handschuhe, Jacke. Doch während des Laufs würde es bis 16 Grad warm werden: Kurze Ärmel, 3/4 Hose. Ich entschied mich für Lagen, Mütze und Handschuhe stopfte ich nach Fahrradparken vorm Tierpark in die Jackentaschen, die Jacke rollte ich zur Wurst und band sie mir um den Bauch. Funktionierte!

Der Boden war genau so knochentrocken, wie er hier aussieht.

Es wurde ein sehr schöner Lauf mit leeren Wegen (Samstagfrüh halt), Frühlingsblümchen, erstem grünen Schleier in den Bäumen – und Tiersichtungen: Auf dem Isarhochweg vor Pullach kreuzte ein Fuchs gemütlich den Waldweg und spazierte langsam (und etwas mühsam – ein alter Fuchs?) zwischen den Bäumen. Und auf dem Rückweg sah ich neben dem Isarwehrkanal einen prächtigen Grünspecht von einem Baum zum anderen fliegen.

Hinterbrühler See.

Blick von der Großhesseloher Brücke nach Norden.

Sign of the times – natürlich auch in Graffiti.

Buschwindröschen – kurz bevor ich den Fuchs sah. (Wenn es Waldbaden gibt – kann man dann auch Waldschwimmen?)

Burg Schwaneck – dank winterkahler Bäume nicht nur vom Isartal aus sichtbar.

Isartal und Pullach Richtung Süden.

Blick von der Großhesseloher Brücke nach Süden.

Thalkirchner Brücke.

Die geplante Strecke lief ich nicht ganz zu Ende, weil ab 70 Minuten meine Waden zwickten, auf 90 Minuten Lauf war ich dennoch gekommen und freute mich daran. Fürs Heimradeln brauchte ich dann keine Mütze und Handschuhe mehr.

Daheim ausführliche Körperpflege (alles rasiert, gestutzt, gecremt), dann radelte ich erst noch in die Maxvorstadt und kaufte Espresso.

Frühstück um zwei: Brot mit Blattspinat vom Vorabend (bocadillo de espinacas – sehr schmackhafte Idee) sowie alle Birnen, denn ich hatte mich bei Einkaufen verschätzt (ich hatte mich also ver-kauft, haha) – die Birnen waren gar nicht nachreif-bedürftig, sondern hatten alle innerhalb von zwei Tagen faule Stellen bekommen.

Wie erhofft wurde ich davon bettschwer und legte mich für eine Stunde Siesta schlafen.

Dann weitere Häuslichkeiten: Ich hatte eine Banane reifen lassen, um – vor allem für Herr Kaltmamsell, der es vermisst hatte – BaNuSchoko-Granola zu backen.

Aus den erstmals rundum offenen Fenstern der Wohnung tönte das Draußen herein: In unserer früheren Wohnung wurde ein 30. Geburtstag gefeiert (handschriftlicher Zettel mit Hinweis am Hauseingang) (und ich sag’ noch zu Herrn Kaltmamsell: “Dir ist klar, dass das unsere Kinder sein könnten?”), wegen des sensationellen Wetters auch sehr auf dem Balkon. Ich war gerührt: Wie fröhlich gefeiert sie haben! Wie mitgesungen zu lauter Musik, wie gelacht!

Und unsere Kastanien vorm Fenster geben seit Freitag Pfötchen!

Kulinarisch war gestern Tag der Nicky Stich, auch zum Abendessen setzte ich ein Rezept aus ihrem Buch Sweets um: Süße Fingernudeln.

Ich hatte einige Mühe, da der Ernteanteil speckige Kartoffeln statt der geeigneten mehligen enthalten hatte, das machte den Teig ziemlich klebrig statt samtig. Dem Geschmack schadete es nicht.

Passenderer Name für die Süßspeise: Moormaden? Dazu tranken wir einen spanischen Gewürztraminer Enate von 2016 aus der Region Somontano (er hatte ein paar Jahre auf seinen Einsatz gewartet), der ganz hervorragend passte – und mit seiner Aromen-Vielfalt ein beispielhafter Vertreter der nicht-trockenen Weißweine ist.

Schokolade passte trotz Süß dahinter.

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Die Washington Post begleitet aus der Ukraine Geflohene in der Situation nach dem reinen RAUS! Innerhalb kurzer Zeit müssen sie für sich und ihre Familie entscheiden: Wohin jetzt?
“They made the choice to flee Ukraine. But the next question is where to go.”

For the 3.5 million people who have fled Ukraine during the month-long war, the first decision they make as a refugee is nothing less than how to live as one. That begins with the basic questions of what bus or train to board, how far to go from Ukraine, and it continues well after with the calculation about how thoroughly to remake their lives, and how hopeful to remain about eventually returning home.

Für mich unvorstellbar: Von jetzt auf gleich mein bisheriges Leben aufzugeben, alle Pläne und Hoffnungen fahren zu lassen – und mich sofort für eine komplett neue Zukunft entscheiden zu müssen. Was ja nicht nur der Fall für die Geflohenen aus der Ukraine ist, sondern auch für all die Menschen, die zum Beispiel vor dem Krieg in Syrien, Sudan oder Äthiopien flohen und fliehen.

die Kaltmamsell

Journal Freitag, 25. März 2022 – Wochenendfeiern in der Parallelwelt

Samstag, 26. März 2022 um 7:31

GUT GESCHLAFEN! Nur zweimal aufgewacht, dazwischen fünf Stunden Schlaf am Stück gekriegt – und schon sieht die Welt ganz anders aus. (Also: besser, nur zur Sicherheit.)

Duschen mit aufgeschnittenem Finger ging ganz gut – aber zum Abtrocknen holte ich mir dann doch aus der Küche einen dünnen Gummihandschuh aus dem Vorrat fürs Chilli-Schneiden und Rote-Bete-Schälen, weil das durchgeblutete Pflaster die Handtücher vollgesuppt hätte.

Meine Hauptsorge war natürlich, ob die Wunde schnell genug heilen würde, dass ich am Wochenende Schwimmen gehen kann.

#609060 – der Pulli ist mein erster echter Missoni (gebraucht bei Sellpy gekauft).

Noch ein wolkenlos sonniger Tag, mittlerweile hat sich der März als trockenster seit Wetteraufzeichnungsbeginn erwiesen.

Unaufgeregter Arbeitstag. Mittags gab es Vollkornbrot mit Butter, Quark mit Joghurt.

Nach Feierabend spazierte ich durch ein Westend voller Menschen, die das milde Draußen genossen: Spielplätze und Wiesen wimmelten, vor allen Lokalen saßen Leute mit Sonnenbrillen (sogar auf der Nase statt München-typisch im Haar). Ich kaufte im Süpermarket Verdi fürs Abendessen ein, das gestern ich zubereiten durfte: Doraden und Spinat, noch verteidige ich frischen Fisch als meine Koch-Domäne.

Daheim aber erst mal eine Runde Yoga – mit viel Umfallen. Dann bereitete ich den frischen Spinat und die ebenfalls sehr schön frischen Doraden koch- und bratfertig vor (gegen suppendes Pflaster über Fingerschnitt trug ich wieder den Gummihandschuh), richtete erst mal den Aperitif an:

Whiskey Sour zu Kräuter-Oliven, eingelegtem Feta und Wurzelbrot.

Herr Kaltmamsell hatte sich in der Dämmerung auf den Balkon auf Vogelschau gestellt und bereits die ersten Fledermäuse gesehen – mir fehlte dazu die Ruhe.

Doraden angebraten und im Ofen fertig gegart, währenddessen Knoblauch in Olivenöl angebraten und Spinat darüber mit Deckel-zu zusammenfallen lassen. Wurde ein köstliches Abendessen, dazu gab es einen galicischen Albariño. Nachtisch Schokolade.

Traurige Nachricht: Cem Basman ist bereits Anfang Januar gestorben, einer der Blogger aus der Anfangszeit, zentrale Figur der Hamburger Bloggeria – @PickiHH nennt ihn “Mitbegründer der Hamburger Web 2.0 Szene”. Ich genoss viele Jahre die ruhige Klugheit seines Blogs, lernte gerne seine Familiengeschichte. Und zitierte erst vor gar nicht Langem mal wieder sein “Vogel fliegt. Fisch schwimmt. Ich blogge.” Wie schade, dass ich ihn nie persönlich traf. Hier ein ausführlicher Nachruf von Maximilien Buddenbohm, der das Glück hatte:
“Er war immer schon da.”

§

Unter den vielen, vielen journalistischen Kommentaren zur Katastrophenlage und unserem Umgang damit hat mich dieser tatsächlich erreicht: Alexandra Augustin vom ORF liegt mit Corona im Bett und schreibt über
“Testament der Angst”.

Unser Sinn für die Realität hat sich verschoben. Das was gerade passiert werden wir erst Monate oder Jahre später verarbeiten und verstehen können. Die monatelangen Lockdowns. Die Schrammen am Körper und an der Seele. Europa – wieder einmal – im Ausnahmezustand. Alles fühlt sich so an wie die Restaurantszene „Terror at Lunch“ im dystopischen Spielfilm „Brazil“ von 1985 von Terry Gilliam.

In einer Szene sitzen ein paar schönheitsoperierte Damen in einem noblen Restaurant beisammen. Es wird ein groteskes Astronautenessen serviert, ein grünes, Kotze-ähnliches Püree. Echte Lebensmittel gibt es in dieser kaputten Zukunft nicht mehr. Ein zugehöriges Bild neben dem Teller zeigt jedoch das Gericht, welches diese Surrogat-Speise nachahmen möchte – geschmorte Kalbsbäckchen in Rotweinsauce. Der Geschmack einer längst vergessenen Zeit. Dann geht mitten im Lokal eine Bombe hoch. Das Orchester wird verletzt, doch es steht auf und spielt rußverschmiert weiter. Die Gesellschaft am Tisch ist kurz erschrocken, schnattert jedoch sogleich weiter, während ringsum verwundete Menschen und Körperteile herumliegen. Wir alle leben mittlerweile in einer solch brutalen Parallelwelt.

(…)

Die Reize stumpfen ab. Der Körper kann eine permanente Adrenalinausschüttung unter Stress nicht ewig aufrechterhalten. Man gewöhnt sich an Schreckensmeldungen.

(…)

Die Katastrophen der Welt fühlen sich mittlerweile so an wie Abschnitte auf einer Möbiusschleife: Alles ist eine Wiederholung der Wiederholung. Ich fühle mich schuldig. Ich sitze in einem stabilen Land. Ich kann nichts tun, nur Geld spenden. Kapital verschieben. Ich habe „nur“ Corona gehabt, so wie der halbe Freundeskreis mittlerweile auch. Das ist schon fast zum Lachen. Aber worüber darf man eigentlich noch lachen? Darf man die groteske Gegenwart sarkastisch kommentieren, in der wir unser Leben jonglieren müssen? Auf was soll man sich fokussieren, wenn sich die Welt so schnell dreht? Und wie soll man mit Empathie einer der größten Katastrophen der Gegenwart begegnen, wenn sie einem gleichzeitig abgesprochen und abgewöhnt wird?

die Kaltmamsell

Journal Donnerstag, 24. März 2022 – Weher Finger

Freitag, 25. März 2022 um 6:36

Schlimme Nacht, nach drei schlief ich erstmal gar nicht mehr, war aber zu erledigt zum Lesen.

Meine übermüdete Benommenheit mag auch daran schuld gewesen sein, dass ich den Arbeitstag mit einem blutigen Malheur in der Teeküche startete: Ich schnitt mich ordentlich in den Zeigefinger, oder wie ich es im Arbeitsunfall-Formular dokumentierte:

Zum Glück war jemand da, die mir helfen konnte, zum Glück war der Verbandskasten gut gewartet. (AUA.)

Habe ich das also auch mal durchgespielt, zum Glück in harmloser Variante. Die Wunde schmerzte und blutete dann überraschend intensiv und lang.

Mittags Drei-Gänge-Menü: Restliche Linsen von Dienstagabend, Quark mit Joghurt, Mandarinen. Der Schnitt hatte endlich aufgehört zu schmerzen.

Nachmittags lernte ich unter anderem Kniffe zur Serienbrief-Erstellung in Word/Excel von jemandem, die sowas als Schulunterricht mit Prüfung durchgenommen hatte. (Möglicherweise sind Serienbriefe das zentrale Herrschaftswissen eines Sekretariats.) Nachmittags lichtete sich meine bleierne Müdigkeit nur kurz, ich machte früh Feierabend mit Visionen von einer Runde Schlaf vor dem Abendessen.

Draußen weiterhin wolkenlose Sonne. Tagsüber ist es auch dieses Jahr für März zu warm; ich hoffe, dass zumindest der nächtliche Frost die Obstbäume vom vorzeitigen Blühen abhält.

Kurzer Einkaufsabstecher beim Vollcorner, daheim legte ich mich tatsächlich erst mal hin und schlief kurz ein.

Eine Yogarunde mit lediglich ein wenig Dehnen, nach der Hälfte gab meine innere Ungeduld auf und fand sich drein, dass es keinen Sport geben würde.

Zum Abendessen servierte Herr Kaltamsell Teile des frisch geholten Ernteanteils als Salat und Kartoffel-Sahne-Käse-Auflauf, danach viel Süßigkeiten.

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Aufschlussreicher Video-Essay über einen Topos von Kinofilmen:
“The Ethics of Looking And The ‘Harmless’ Peeping Tom”.

Aktivieren Sie JavaScript um das Video zu sehen.
https://youtu.be/MeSiwHnV5L0

via @giardino

Jonathan McIntosh analysiert die typischen Szenen, in denen männliche Filmfiguren sich den Anblick von Frauen erschleichen, die sich sicher und unbeobachtet fühlen, was das über den male gaze aussagt und über Dominanz.

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Es ist sehr klasse, dass Nicole Diekmann seit einer Weile auch bloggt (minder klasse, dass sie wegen Corona-Infektion überdurchschnittlich viel Zeit dafür hatte). Diesmal schreibt sie darüber, warum sie echt nicht mit Annalena Baerbock tauschen möchte.

Lob auch für den perfekt passenden Hilde-Knef-Schnipsel, der mich daran erinnerte, welche Ausnahme-Künstlerin Knef war und dass ich ihren Geschenkten Gaul nochmal lesen wollte, 40 Jahre nach Erstlektüre aus der Stadtbücherei.

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Praktische Lebenshilfe: Wie man eine Ente hochhebt.

die Kaltmamsell

Journal Mittwoch, 23. März 2022 – Müde aber geschäftig

Donnerstag, 24. März 2022 um 6:34

Unruhige Nacht mit vielen Aufwachen, u.a. mit Krämpfen. Müder Morgen.

Diesmal hatte ich mich den ganzen Dienstag über darauf vorbereitet, dass gestern erst Mittwoch war, ich trug den Umstand tapfer.

Wieder Raureif auf der Theresienwiese, aber die Magnolie auf der Westseite macht weiter.

Der Morgen begann im Büro erst mal hektisch, weil der Vormittag mit Schulung und Besprechung voll war.

Mittags gab es ein paar Löffel Linsen vom Vorabend, Grapefruit mit Joghurt, ein Glas Haselnussmilch (auf Empfehlung der Nichte besorgt – schmeckt sehr gut, doch der Test als Cappuccino-Milch war nicht überzeugend).

Auch der Nachmittag verlief intensiv, um vier war ich eigentlich fix und fertig – aber der Arbeitstag noch nicht rum.

Eine weitere Reihe Fenster für den Neubau am Heimeranplatz.

Nach endlich Feierabend spazierte ich durch milde Luft (der Tag war wolkenlos gewesen, Menschen saßen mittags mit baren Armen in der Sonne) zum Süpermarket Verdi und kaufte noch fürs Abendessen ein.

Daheim aber erst mal Bettüberziehen, dann eine Runde Yoga: Viel Stabilitäts- und Balance-Übungen, ich fiel möglichst achtsam um.

Herr Kaltmamsell war online verabredet, das Abendessen kochte ich: Orecchiette mit Brokkoli und roter Paprika. Es zeigte sich, wie gut es ist, dass abends Herr Kaltmamsell in unserer Küche steht. Nicht nur bin ich ausgesprochen ungeschickt: Ich kann mich auch bis weitaus jenseits der Lächerlichkeit darüber aufregen. Fast hätte ich gar keinen Appetit fürs Essen aufgebracht. Aber dann reichte er auch noch für Süßigkeiten zum Nachtisch.

Küche säubern, Wäsche aufhängen, Blumen gießen – dann hatte ich endlich frei.

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Gute Zusammenfassung von Wolfgang Janisch in der Süddeutschen zur deutschen Rechtsprechung bei spezifisch sexistischem Hass im Netz (€):
“Hass im Netz:
Habt euch nicht so”.

Die sozialen Medien haben das böse Spiel mit der Beleidigung, in dem es schon immer um Macht und Herabsetzung ging, entscheidend verschärft. “Die Zunahme von Hass im Netz hat die wissenschaftliche und kriminalpolitische Debatte grundlegend verändert”, schreibt die Leipziger Strafrechtsprofessorin Elisa Hoven in der Neuen Juristischen Wochenschrift.

Das Schlüsselwort, um das es Hoven geht, lautet “Silencing”. Der Hass im Netz ist zum Instrument der Unterdrückung geworden, mal hat er rassistische, mal schwulenfeindliche, mal nationalistische Wurzeln. Gegen Frauen richtet er sich in einer spezifisch sexistischen Weise, ganz sicher nicht zufällig in dem historischen Moment, in dem Frauen nachdrücklich ihre gleichberechtigte Teilhabe einfordern. Verächtliche Zoten mögen so klingen wie früher, aber ihre Wirkung verändert sich. “Beleidigungen im Internet sind nicht länger die private Angelegenheit des einzelnen, sondern stellen eine Bedrohung für den freien öffentlichen Meinungsaustausch dar”, schreibt Hoven. Das Private ist nicht länger privat. Es ist politisch.

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HACHZ! Der Bund Naturschutz hat meinen Traum von einer Münchner Sonnenstraße der Zukunft durchgedacht, mit Promenade und viel Platz für Fuß- und Radverkehr! Und planen lassen. Er nennt das Ergebnis:
“Munich Central Park – der Park im Herzen der Stadt”.

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Möchten Sie ein paar völlig unspektakuläre Sekunden Kakapo sehen, der nach Gesundheitsproblemen zurück in die Wildnis entlassen wird? Bitteschön.

die Kaltmamsell

Journal Dienstag, 22. März 2022 – Die geliehene Figur

Mittwoch, 23. März 2022 um 6:34

Trotz dreimal Aufwachen fühlte sich der Schlaf tief und erholsam an, ich genoss ihn.

Draußen war’s wieder Raureif-frostig, derzeit schwanken die Temperaturen 16 Grad über den Tag. Und ich bin endgültig klimakaputt: Der Blick auf die weiterhin durchwegs sonnige Vorhersage freut mich nicht, weil es viel, viel zu trocken ist.

Was schön ist: Wenn’s mir gut geht, ich wie gestern morgens in der Arbeit den Turbo zuschalte und bis zur ersten Besprechung um 9.30 Uhr bereits das Pensum eines ganzen Arbeitstags weggewirbelt habe. (Nachdem ich am Vortag morgens vor einem ähnlichen Pensum gestanden war, aber vor lauter Überforderungsgefühl fast geweint hätte. Weil’s mir halt nicht gut ging.)

Mittags Banane, Orangen, Vollkornbrot mit Butter.

Nach Feierabend marschierte ich direkt heim, Herr Kaltmamsell hatte schon alles von unserer Einkaufslisten-App (Remember the milk RTM) eingekauft.

Beim Heimkommen überraschte ich Herrn Specht (männl. weil roter Fleck im Nacken) auf dem Balkon, der sich ordentlich reinhängte.

Eine Runde Yoga mit vielen Rumpfübungen (und vielen Lebensermahnungen, hmpf). Das Abendessen servierte wieder Herr Kaltmamsell, ich bekam LINSEN! mit Karotten und gebratenem Chorizo. Außerdem hatte er ein Rezept für gebratene Bulgurbällchen ausprobiert: Waren knusprig und locker, verlangten aber geschmacklich nach einer Sauce.

Confession Time: Ich muss mich davon abhalten, viel zu viel Geld für unnötige Kleidung auszugeben. Durch meine Appetitarmut seit fast einem Jahr habe ich seit ein paar Monaten eine Konfektionsgröße, in der mir sehr viele Kleidungsstücke stehen, die ich schön finde. Und die seit ca. 2002 an mir nie so ausgesehen hatten, wie ich das gerne gehabt hätte. Während ich diese Kleidungsstücke also 20 Jahre lang lediglich bewundert hatte, will ich sie jetzt auch haben und tragen. Wo ich doch sonst gar nicht gerne Sachen habe. Und obwohl ich doch weiß, dass diese Konfektionsgröße lediglich eine kurzlebige und vorrübergehende Angelegenheit ist. Es ist, als hätte man mir einen Figur ausgeliehen, die der gesellschaftlichen Norm-Schönheit für Frauen meines Alters nahe kommt, und ich wollte so viel wie möglich aus ihr rausholen, bevor ich sie wieder zurückgeben muss. Zum Beispiel bin ich SO kurz davor, in den Levis-Laden in der Sendlinger Straße zu gehen und nach einer 501 zu fragen – für 80er closure. Auch deshalb ist Body-Egalness ein erstrebenswertes Ziel.

Im Bett las ich weiter in Gunters Menopause Manifesto. Interessanterweise hält die Autorin den englischen Ausdruck hot flushes für genauso unpassend wie ich die deutsche Entsprechung “Hitzewallung” (oder das bayerische “fliagate Hitz'”, also fliegende Hitze).

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Nach (!) der Lektüre hatte ich gestern nach Rezensionen und Material zu Hanya Yanagihara, A little life recherchiert. Unter anderem war ich auf ein ausführliches Interview mit Yanagihara im Guardian von 2015 gestoßen:
“Hanya Yanagihara: ‘I wanted everything turned up a little too high’”.

Ein interessanter Abgleich meiner Lese-Erfahrung mit der Autorinnen-Absicht: Ja, dieses Von-allem-ein-bisschen-zu-viel war genau Yanagiharas Ziel, um das sie eigenen Aussagen zufolge auch gegen ihren Lektor kämpfte. Spannend fand ich auch, was sie sonst über den erzähltechnischen Hintergrund des Romanschreibens sagt, sie ist eine sehr reflektierte Schriftstellerin. (Und sehr viel spannender als das Bohren von Interviewer Tim Adams nach biografischen Wurzeln ihrer Kunst.)

Hier eine weniger wohlwollende Besprechung in der New York Times, die den Roman als “voyeuristic” bezeichnet (was für eine erfundene Geschichte ein seltsamer Vorwurf ist):
“Review: ‘A Little Life,’ Hanya Yanagihara’s Traumatic Tale of Male Friendship”.

die Kaltmamsell

Journal Montag, 21. März 2022 – Hanya Yanagihara, A little life

Dienstag, 22. März 2022 um 6:35

Es wäre mal wieder Zeit für eine gute Nacht, finde ich. Auf Montag gab es nach einem der vielen Aufwachen eine Pause, die mich fast zum Aufstehen und Lesen gebracht hätte, aber dann schlief ich doch wieder ein.

Ein herrlicher Morgen mit Mond über der Portalklinik. Und dann sah ich auch noch einen Specht an der Wasserschale auf dem Balkon trinken.

Am Sonntag hatte ich das Angebot der Nichte angenommen, ein Paar ihr zu großer Schuhe aufzutragen (mit 17 schwindet wohl die Hoffnung, ein Jahr nach dem Kauf irgendwie reinzuwachsen) – und nun besitze ich schlagartig die weißen Schnürschuhe, die ich für diesen Nichtwinter angepeilt hatte. Ich trug sie gestern gleich zu meiner roten Hose und schickte der Nichte ein Danke-Foto vom ersten Einsatz.

Vormittags war ich im Büro bleimüde bis zum Schwindel. Zumindest bekam ich nach 24 Stunden wieder Hunger, mittags gabe es Bananen, Hüttenkäse, Orange.

Der Bürotag bestand aus zügigem Arbeiten, draußen schien durch leichten Wolkenschleier die Sonne. Nach Feierabend stoppte ich beim Vollcorner für ein paar Einkäufe – und sah am Bavariaring die erste Zierkirsche in Blüte.

Zu Hause eine Runde Yoga, mittel angenehm, Balance war aus. Zum Nachtmahl verarbeitete Herr Kaltmamsell den Topinambur aus Ernteanteil zu Suppe und servierte sie mit Topinambur-Chips, gebratenen Schinkenwürfeln, gebratenem Brot – sehr gut, als Suppe entfaltet Topinambur meiner Erfahrung nach am besten seinen Eigengeschmack. (Und unsere Bäuche können inzwischen beide gut mit dem Inulin darin umgehen, keine Bauchschmerzen mehr.)

Zum Nachtisch reichlich Süßigkeiten. Wäsche aufgehängt, ich hatte nach Yoga eine Maschine Dunkles gefüllt.

Im Bett begann ich ein neues Buch, das empfohlene Menopause Manifesto von Jen Gunter. Mal sehen, ob der Feminismus mehr als “Da muss man halt durch” zum Klimakterium weiß.

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Ich kann Hanya Yanagiharas A little life um 35 Jahre Freundschaft von vier Männern empfehlen. Die vier lernen sich im Studium kennen, die Handlung begleitet ihre Verbindung mit geografischem Mittelpunkt in New York. Im Zentrum steht Jude, von dem es gleich zu Anfang heißt, dass er schwere körperliche Beschwerden hat und den anderen drei klar ist, dass er ausdrücklich nicht über ihre Ursachen sprechen möchte – worauf sie Rücksicht nehmen.

Die Lektüre des dicken Buchs nahm mich mit – aber aus anderen Gründen als “Trauma Porn”, was ihm hier vorgeworfen wurde. Mir ging vor allem der Selbsthass der Hauptperson nahe, dieser unausrottbare, einfach nicht wegliebbare und zerstörerische Selbsthass jenseits aller faktischen Wahrnehmung. Am schönsten aber fand ich den ausführlichen ersten Teil, der das Set-up entwirft und das Personal einführt.

Und was die Grausamkeiten betrifft, die substanzieller Bestandteil der Geschichte sind: Sie sind meisterlich indirekt erzählt, gerade die brutalen Passagen. Das Schlimme passiert in Auslassungen und damit nur im Kopf der Leserin. Was sehr direkt erzählt wird, sind die Auswirkungen aufs Opfer, das den Folgen nie wieder entkommt, dessen Seele zerstört ist. Ein paar mal wendet Yanagihara die Technik an, ein deutlich späteres Ereignis anzudeuten (foreshadowing), dann aber erst mal nach dem Ereignis weiterzuerzählen, zum Beispiel den Bruch von JBs Versprechen, Bilder von seinen Freunden zu mit deren Einwilligung auszustellen.

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Hannah Gadsby hat eine Autobiografie veröffentlicht und aus diesem Anlass einen Artikel im Guardian geschrieben:
“Hannah Gadsby on her autism diagnosis: ‘I’ve always been plagued by a sense that I was a little out of whack’”.

Ihr ist wichtig:

Please stop expecting people with autism to be exceptional. It is a basic human right to have average abilities.

Auf Deutsch:
“Bitte hören Sie auf, von Autist*innen eine außergewöhnliche Persönlichkeit zu erwarten. Es ist ein Menschenrecht, ganz durchschnittlich behindert zu seine Fähigkeiten zu haben.”

I was told I was too fat to be autistic. I was told I was too social to be autistic. I was told I was too empathic to be autistic. I was told I was too female to be autistic. I was told I wasn’t autistic enough to be autistic

Interessant fand ich:

I am unable to intuitively understand what I am feeling, and I can often take a much longer time to process the effects of external circumstances than neurotypical thinkers.

No na, darin sind manche von uns Neurotypischen aber auch richtig schlecht. Ich verwende viel Energie darauf, wenigstens für meine Umwelt halbwegs konsistent und berechenbar zu erscheinen. (Nein, ich bin recht sicher nicht auf dem Spektrum. Sondern nur halt so. Ganz normal etwas seltsam.)

die Kaltmamsell