Journal Dienstag, 20. April 2021 – Die Sonderstellung russischer Immigration

Mittwoch, 21. April 2021 um 6:27

Die gute Nacht war noch vor fünf zu Ende – aber ich hatte genug Schlaf bekommen.

Draußen wurde es zu einem weiteren bleigrauen Tag hell, halbwegs.

Die Schreinerei hatte ein Computer-generiertes Bild meines künftigen Einbauschranks geschickt, dazu Zeichnungen des Innenaufbaus – ich war schockverliebt.

Immer noch sehr kalter Fußweg in die Arbeit.

Was mich an den rausgewachsenen Haaren stört (über sechs Monate sind’s jetzt), ist keineswegs der Anblick – den halte ich weiterhin für ertragbar, auch wenn ich mich nicht damit identifiziere. Mich stört, dass meine Haare mir bewusst sind und mir damit Aufmerksamkeit rauben. Ich spüre sie über den Ohren, im Nacken, muss sie von den Augen wegstreichen oder per Kopfbewegung wegschütteln, merke, wie sie der Wind mir ins Gesicht weht. Wenn sie mindestkurz sind, bemerke ich sie überhaupt nicht, bei ein wenig Rauswachsen höchstens, wenn ich sie fürs Schwimmen (SCHWIMMEN! BUHUHUHU!) mit Schwimmkappe aus dem Gesicht halten muss. Ist ein bisschen wie Fingernägel: Idealkurz sind sie gar nicht da; wenn sie so lang sind, dass ich sie bemerke, nerven sie und ich möchte sie dringend schneiden. Die Ansprüche an Pflegeprodukte für meine Haare sind folglich mit denen von Casino identisch:

es funktioniert wie es soll, die haare sehen nach der wäsche gewaschen aus, und nach dem bürsten frisiert. mehr kann, nach meiner lebenserfahrung, kein mensch erwarten.

(Plus alle paar Wochen Lila-Shampoo gegen Gelbstich, die Flasche hält anderthalb bis zwei Jahre.)

Mittags gab es eine Käsesemmel und einen Apfel, nachmittags ein paar getrocknete Pflaumen und Nüsse.

In der Arbeit viel Manuelles und Fußwege.

Auf dem Heimweg sah sogar die Sonne ein wenig raus, ich konnte die Handschuhe wegstecken.

Zu Hause Familienkontakt (es gibt weitere Impfmeldungen, hurra!), eine Einheit Yoga. Zum Abendessen servierte Herr Kaltmamsell Nudeln mit gelben Beten aus Ernteanteil und Feta, ein wenig Schärfe durch Pul Biber. Nachtisch war die letzte Osterschokolade.

Der Hinweis von Kommentatorin Anna brachte mich zum Nachdenken über die Sonderform der Einwanderung in Deutschland durch Russen und Russinnen, die sich auch nach mehreren Generationen im Ausland als Deutsche definierten, “Russlanddeutsche” genannt (rein sprachlich eine Ausnahme, sehr wahrscheinlich ist nie von “Spaniendeutschen” oder “Brasiliendeutschen” die Rede, egal wie sehr sie sich in ihren Heimatländern als Community oder “Colonia” über Generationen isolieren.) Denn schlagartig wurde mir bewusst, dass diese Einwanderungsgruppe (mir ist klar, dass sie genausowenig homogen ist wie jede andere) in den Migrationsdiskussionen in meinem Blickfeld fast nicht vorkommt – weil sie sich eben gar nicht als Einwanderer sehen.

Was mir erst mal einfiel:
– Meine Mutter, die in der Integrationsdebatte der 1980er (als das offizielle Deutschland noch versuchte, durch schlichte Behauptung einfach kein Einwanderungsland zu sein) gerne auf die Bigotterie hinwies, dass von Einwanderern nach Deutschland verlangt wurde, die mitgebrachte Kultur aufzugeben und ganz in einer anderen aufzugehen, dasselbe Deutschland aber stolz darauf war, dass seine Auswanderer im Zielland die mitgebrachte Kultur über Jahrhunderte unintegriert pflegte (wie es in einigen Ländern Südamerikas bis heute ist).
– Die Geschichten von russische Einwandererfamilien mit mehreren Generationen, deren Teenager ungefragt und unfreiwillig mitkamen, kein Deutsch sprachen, mit der von Eltern und Großeltern glorifizierten “deutschen Kultur” nichts anfangen konnten (die ohnehin in dieser konservierten Form gar nicht existierte) und sich in der neuen Heimat doppelt ausgegrenzt sahen.
– Diese russischen Einwandererfamilien, die in Deutschland feststellen mussten, dass sie von ihrer Alltagsumgebung wie beliebige andere Einwanderer angesehen wurden (also traditionell ablehnend und ausgegrenzt) und oft lieber unter sich blieben.
– Ein Erklärungsansatz der Nähe zu nationalistischen bis rechtsradikalen politischen Tenzenden. Dieser NZZ-Artikel stellte 2018 einen Bezug her zwischen AfD-Wählertum in Ingolstadt und der besonders großen russischen Einwanderer-Community dort. Ich hatte das reflexhaft mit meinem (peinlichen) Stereotyp des Russen erklärt, der nun mal Nationalist ist was will man machen. Viel schlüssiger aber ist die Erklärung, dass sich diese russischen Einwanderer über Blutlinien als Deutsche definieren und deshalb ein schwieriges Verhältnis zu anderen Deutsch-Definitionen haben.

Herr Kaltmamsell gab mir den Tipp, Hintergründe auf der Website der Bundeszentrale für politische Bildung zu recherchieren – Volltreffer.

“Identität und Ethnizität bei Bundesbürgern mit russlanddeutschem Migrationshintergrund”.

Identität und Identifikationen von Russlanddeutschen sind seit Beginn ihrer massenhaften Migration in die Bundesrepublik Deutschland seit Ende der 1980er Jahre ein Thema, das die soziologische, anthropologische, kulturwissenschaftliche, erziehungswissenschaftliche und psychologische Forschung beschäftigt. Ausgangspunkt ist der elementare Identitätskonflikt, den viele Russlanddeutsche durchmachen mussten, nachdem sie aus der (ehemaligen) Sowjetunion nach Deutschland kamen und der oft in dem Satz zusammengefasst wird: “Dort waren wir die Deutschen (oder: die Faschisten), hier sind wir die Russen.”

In diesem Aufsatz wird aufgeschlüsselt, wie vielfältig die Selbstdefinition dieser Einwanderergruppe ist.

Und hier ein Aufsatz über die Instrumentalisierung der Unterdrückungsgeschichte vieler russischer Einwanderer mit deutschen Wurzeln:
“‘Als ob sie kein Leben gehabt hätten’
Russlanddeutsche Alltagsgeschichte zwischen Stalinismus und Perestroika”.

Zunächst zu den Gründen für das bis heute sehr partielle Wissen über das Sowjetische in russlanddeutschen Biographien: Ausgehend von den traumatischen Erfahrungen der stalinistischen Zwangsumsiedlungen und der anschließenden Zwangsarbeit in der “Arbeitsarmee” (Trudarmija) ist die dominierende Erzählung russlanddeutscher Geschichte bis heute die eines “Volks auf dem Weg”, eine Erzählung von Leistungsträgern, die vermeintlich “leere” und “wüste” Steppen in “blühende Landschaften” verwandelt haben und dann ab Ende des 19. Jahrhunderts und insbesondere ab 1917 zu Opfern wurden. Eine solche Deutung hat zweifellos ihre Berechtigung, nicht nur mit Blick auf die sowjetische Politik während des Zweiten Weltkriegs.

Zugleich werden jedoch durch den in hohem Maße emotional besetzten Absolutheitsanspruch, mit dem eine solche Interpretation der “eigenen” Geschichte vertreten wird, all jene Facetten der russlanddeutschen Erfahrungen verdeckt, die nicht dieser Interpretation entsprechen. Dabei liegen inzwischen genügend Untersuchungen vor, in denen gezeigt wird, dass das Opfernarrativ eines “Volks auf dem Weg”, das sich trotz aller Repressionen wie in einem Identitätscontainer über mehr als zwei Jahrhunderte und mehrere Kontinente hinweg eine unveränderte “deutsche Identität” bewahrt habe und dessen “Weg” nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion mit der Ankunft in der deutschen “Urheimat” ein erfolgreiches Ende gefunden habe, weder den vergangenen noch den gegenwärtigen Realitäten russlanddeutscher Lebenswelten gerecht wird.

Und als wäre das nicht schon kompliziert genug, gibt es unter uns ja auch noch jüdische Kontingentflüchtlinge. Wer sich für Geschichte und Abgrenzung interessiert:
“Jüdische Kontingentflüchtlinge und Russlanddeutsche”.

(Das Thema Aussiedler ignoriere ich erst mal, wird zu viel. Aber ich parke den Begriff “Deutsche Volkszugehörigkeit” – Art 166 Grundgesetz – in meinem Hinterkopf und versuche ihn zu verarbeiten.)

die Kaltmamsell

Journal Montag, 19. April 2021 – Neue München-Doku und Sellerie-Sensation

Dienstag, 20. April 2021 um 6:25

Das war fast regulärer Nachtschlaf – ich genieße ihn, solange er andauert.

Etwas hektischer Morgen mit Geschirrspülmaschine-Ausräumen, getrocknete Wäsche Verräumen plus Kleinigkeiten, damit der Putzmann seinen Job erledigen konnte.

Das Wetter blieb grau und kalt, möglicherweise war es das eine oder andere Grad wärmer als am Sonntag (Handschuhe weiterhin ratsam).

Highlight des Fußwegs in die Arbeit: Das Eichhörnchen auf dem zusammengeklappten Außenmobiliar des Westend-Griechen, von Tischrand zu Stuhlrand und über die vertrocknete Weihnachtsdeko hüpfend.

Nachdem mein Interesse mangels Umsetzmöglichkeiten erst mal wieder eingeschlafen war, nehme ich seit dem Schrankbau wieder Wohnungseinrichtungen wahr im Sinne von: Wär das was? Und schon bekommen große Videokonferenzen mit 80 Prozent Home-Office-Teilnehmenden einen ganz anderen Schwerpunkt.

Zu Mittag gab es eine Käsesemmel und einen Apfel. Das Wetter wurde immer unwirtlicher, als es auf den Feierabend zuging, begann es heftig zu regnen. Ich hatte gar keine Lust auf öffentliche Verkehrsmittel mit Infektionsrisiko (auch gestern war sehr viel Betrieb auf Straßen und in Büros) und griff beherzt zu meinem Not-Regenschirm. Trotz Waagrecht-Regen wurde ich auf dem Heimweg gar nicht so nass.

Beim Heimkommen erwartete mich eine wunderschöne Überraschung: Eine Blogleserin hatte mir einen Blumenstrauß geschickt.

Eine Runde Yoga, während Herr Kaltmamsell das Abendessen zubereitete: Eine Ernteanteil-Sellerieknolle nach Hasselback-Art aus dem Ofen, Ursprungrezept aus dem Guardian, ich war bei Petra auf die deutsche Version gestoßen.

Ich fand das Gericht (zufällig vegan) sensationell: Die Kombination Sellerie, Miso, Zwiebelsalätchen und Tahini auf Teigfladen schmeckte großartig.

§

Gestern Abend im Bayerischen Fernsehen, noch eine Weile in der BR-Mediathek: Die Doku
“Münchens große Straßen”.

Es geht um die Nymphenburger Straße, die Schillerstraße (seltsamerweise hauptsächlich mit Bildern aus der Goethe- und Landwehrstraße, dafür kamen die legendären Elektronikläden der Schillerstraße nicht vor), Rosenheimer Straße, Dachauer Straße, Ludwig- und Theatinerstraße. Darin auch zu sehen: Ein Freund von mir.

Für mich immer noch nicht selbstverständlich und ausgesprochen erfreulich: Die (für München durchaus repräsentative) Vielfalt der auftretenden Menschen – darunter viele deutlich unbayerische Namen, und die beiden Wirtinnen vom Schillerbräu werden unmarkiert als “Ehepaar Höfler” bezeichnet.

(Ein wenig verwundert hat mich der wiederholte Einsatz von Musik aus La La Land – subtiles München-Bashing?)

die Kaltmamsell

Journal Sonntag, 18. April 2021 – Kaltes Grau, Beifang aus dem Internetz

Montag, 19. April 2021 um 6:23

Genug geschlafen.

Nach Bloggen war Kraftttraining dran, vorher ein wenig Crosstrainern. Ich turnte eine Folge Fitnessblender, die ich noch nicht kannte (durchaus spannend – es amüsierte mich, dass Vorturnerin Kelli durchs gleichzeitige Ansagen deutlich mehr aus der Puste kam als ich), vorher ein paar Reha-Übungen. War alles machbar, doch es bleiben die Schmerzen in Rücken und beiden Hüften.

Raus in die graue Kälte zum Semmelholen. Zum Frühstück also Semmeln, ich machte dazu wieder kannenweise Tee Lapsang Souchong.

Zeitunglesen, auch das SZ-Magazin vom Freitag holte ich nach.

Beschlossen, dass mich der Weg der CDU/CSU zur Ernennung eines Spitzenkandidaten für die Bundestagswahl nicht interessieren muss. Ich darf bis zur Entscheidung (die mich durchaus interessiert) auf Durchzug schalten – nicht mein Zirkus, nicht meine Affen.

Bei allem grauen Himmel sehnte ich mich dann doch nach ein wenig Bewegung an der kalten frischen Luft: Ich spazierte über den Alten Südfriedhof zur Isar, ein wenig an der Isar entlang und über die Fraunhoferstraße zurück. Erwartungsgemäß waren viele Menschen unterwegs – wo sollen sie auch hin?

War auch sonst nicht das ersehnte Vergnügen, mein Kreislauf machte Sperenzchen.

Fürs Abendessen sorgte ich, ich bereitete Kaninchen in Weißwein zu nach diesem Rezept (allerdings briet ich die Kaninchenstücke vor dem Gemüse erst mal scharf an und stellte sie zur Seite – ich mag den Anbratgeschmack am Fleisch).

Ich fand das Gericht sehr gelungen, Herr Kaltmamsell aß es bereitwillig – gestand aber bei dieser Gelegenheit, dass er von Kindesbeinen an ein Problem mit “leichten Soßen, in denen Kräuter schwimmen” habe.

Zum Nachtisch hatte Herr Kaltmamsell morgens Lemon Impossible Pie gemacht: Eierkuchenteig, der sich beim Backen in Boden, Füllung und Kruste separiert.

War ok, eigentlich haben wir beide es nicht so mit Cocosflocken – Herr Kaltmamsell wollte halt unbedingt den Effekt mal ausprobieren. Den man allerdings schon wissen musste, um ihn zu erkennen.

§

Eine Betroffene von häuslicher Gewalt erzählt, was ein sehr später Entschuldigungsversuch in ihr auslöst.
“Eure Reue ist mein Alptraum”.

Der Text hat mir klar gemacht, dass ein Opfer den Tätern überhaupt nichts schuldet, wirklich gar nichts. Und dass es nur darum geht, was ihr hilft.

§

“Ein Nachruf auf den Sprecher der Streikleitung des Ford Streiks 1973”.

via @bov

Dieser Artikel über Baha Targün zeigt mir, wie groß meine Lücken in deutscher Gastarbeitergeschichte sind – ich las darin zum ersten Mal von diesen “wilden Streiks”.

In die Geschichte der türkischen Migranten ging dieser Streik als Wendepunkt ein. Er war das Ende des Bildes vom unterwürfigen türkischen „Gastarbeiter“. „Einfügsam und durchaus brauchbar, wenn man ihn nur richtig anpackt“ – so hieß es in einer zeitgenössischen Einschätzung. Für fast alle kam dieser Streik deshalb völlig unvorbereitet. Er war eine ungeheure Explosion, die mit brutaler Gewalt niedergeschlagen wurde.

(…)

Die türkischen Arbeiter entsprachen nicht dem gängigen Bild des türkischen „Gastarbeiters“ und auch nicht unserem Bild von der revolutionären Arbeiterklasse. Sichtbar wurden erstmals Muslime, Kommunisten, Antikommunisten, Bauern, Türken und Kurden, viele qualifizierte Facharbeiter aus der Westtürkei, Siedler aus den illegalen Siedlungen (gecekondu) Istanbuls, die schon in der Türkei Migranten waren, usw. Die Agitprop der linken Gruppen erwies sich als weltfremd und völlig ungeeignet die Menschen zu erreichen. Baha Targün hat sehr schnell diesen Ballast abgeworfen. Seine Sensibilität im Umgang mit der Vielfalt der Streikenden beeindruckte selbst seine politischen Gegner. Drei und einen halben Tag lang wurde die Fabrik gewaltlos besetzt.

§

Im Wirtschaftsteil der Wochenend-Süddeutschen hat Felicitas Wilke eine Seite darüber geschrieben, welche Folgen die Corona-Schließung der Gastronomie und Hotellerie für die Azubis in diesen Branchen hat (€):
“Wenn die Küche kalt bleibt”.

§

Twitter-Thread des Tages von @jelenawoehr:
“A THREAD IN WHICH I REVIEW BEING BITTEN BY VARIOUS ANIMALS”.
20-teilig.

via @flueke

die Kaltmamsell

Journal Samstag, 17. April 2021 – Veränderte Sehkraft, erster neuer Bücherschrank

Sonntag, 18. April 2021 um 8:46

Gut geschlafen, vor dem Wecker aufgewacht. Wecker weil: Die Anlieferung des ersten Teils Bücherschrank mit Glastüren war für zwischen 7.30 und 9.30 Uhr angekündigt, mit Anruf eine Stunde vor tatsächlicher Anlieferung.

Den Ankündigungsanruf überhörte ich, obwohl ich das Handy am Körper trug, war aber nicht weiter schlimm: Die Spedition überraschte mich halt mit ihrem Klingeln, lieferte aber eh nur zwei übersichtliche Pakete.

Gleich um halb neun hatte ich meinen Termin beim Optiker zum Sehtest. Der Herr machte das sehr routiniert, kompetent und gründlich, mit vielen Feineinstellungen “so besser oder schlechter oder gleich?”, und schob immer wieder die Bitte ein, mit der resultierenden Gleitsichtbrille Geduld zu haben, die Eingewöhnung könne Zeit brauchen (also genau das, was ich seit vielen Jahren von den Freundinnen höre, die eine bekommen haben, und deren Erfahrungen von Rückgabe und Neuschleifung weil geht gar nicht über ein paar Tage Gewöhnungszeit bis Aufsetzen und Loslegen reichen). Resultat: Es hat sich nach über 30 Jahren mit gleichbleibender Kurzsicht dann doch etwas getan. Mein linkes Auge ist nicht nur kurzsichtiger geworden, auch ist dort die Hornhautkrümmung verschwunden (mit meinen aktuellen Werten sah ich beim Test links doppelt). Mit der resultierenden Testbrille (wir alle haben wohl schon von Brillengestellen geträumt, die sie nachahmen?) schickte Herr Optiker mich vor die Tür zum Testgucken – ich hätte sie am liebsten gleich aufbehalten.

Was ich bei dieser Gelegenheit allerdings auch sah: Ins kalte Regengrau mischten sich vereinzelte Schneeflocken.

Anschließend ging ich gleich zum wöchentlichen Corona-Schnelltest im Hackerhaus, das Thermometer am gegenüberliegenden Juwelier Fridrich wechselte zwischen 3 und 4 Grad. In den 15 Minuten Warten aufs Ergebnis holte ich Frühstückssemmeln und guckte Schaufenster.

Daheim war es ebenfalls eher ungemütlich: Zwar konnten wir es uns warm machen, doch ab dem Morgen dröhnten die Generalsanierungsgeräusche aus unserer alten Wohnung durchs Haus. Beim Papiermüll-Runterbringen sah ich später, dass ganze Eimer voll Mauerwerk und Kabel vorm Haus standen. Ich schließe daraus, dass gestern die elektrischen Leitungen erneuert wurden. Erst deutlich nach sieben am Abend wurde es endlich still.

Ich schwang mich auf den Crosstrainer und quietschknarzte ein Stündchen mit Musik auf den Ohren. Merken Sie was? Das “KlapperKnack” fehlte! Nämlich hatte Herr Kaltmamsell das Gerät auf meine Diagnose der Klapperquelle mit Hilfe der Bauanleitung systematisch analysiert, Gummiringe besorgt und das Wackelklappern unterbunden. Jetzt dürfte die Belästigung der Nachbarn beseitigt sein.

Zum Frühstück Semmeln und eine Orange. Nach Wasserfilterwechsel kochte ich mit dem so weit wie möglich entkalkten Wasser eine Kanne Lapsang Souchon – das Rauchige roch nach Winter, passte also zum Wetter.

Nachmittags machten wir uns an den gemeinsamen Schrankaufbau: Ich kündigte an, dass wir uns streiten würden, aber das taten wir gar nicht. Vielleicht lag das daran, dass wir beide keinerlei handwerkliche Fertigkeiten haben (nicht mal fehlende Begabung, sondern vor allem keine Übung) und zudem ungefähr gleich schnell im Begreifen von Montageanleitungen sind. Also sprachen wir uns ab, machten langsam, überlegten immer wieder ruhig, welche Schritte als nächstes sinnvoll waren. Das Ergebnis:

Mei, Schreinerarbeit sind diese preisgünstigen Selbstbaumöbel halt nicht (eine hochwertige und individualisierte Buchschranklösung wäre auf den zehnfachen Preis gekommen). Es fehlt noch der Dreier-Schrank desselben Typs (gab’s nur bei einem anderen Anbieter, dauert noch); erst wenn der steht, wird platziert, befestigt, befüllt.

Ich nutzte den Einrichtungsschwung, um unter anderem nach Deckenlampen für Flur, Arbeitszimmer und mein Schlafzimmer zu suchen (Funktion in erster Linie Putzlicht – einen Begriff, den ich aus der Gastronomie kenne und der die Lichtquelle bezeichnet, die nicht für atmosphärische Ausleuchtung, sondern eben nur für den Einsatz zur Reinigung gedacht ist). Einiges konnte ich gleich bestellen, Lieferung in sechs bis zwölf Wochen. Für die Möbel, die wir gerne noch hätten, warte ich auf eine samstägliche Öffnung des Gebrauchtwarenkaufhauses der Stadt München.

Twitter war gestern lange nicht erreichbar, ich merkte, welch wichtiger Teil meines Alltags die Infos von dort sind. Nun, machte ich nach der Möbelei halt eine Runde Yoga, dann Pediküre.

Zum Aperitif ein irischer Whiskey, den Herr Kaltmamsell im Kaufhof am Marienplatz entdeckt hatte und der uns an unsere Wanderung des Wicklow Ways vor drei Jahren erinnerte: Glendalough Whiskey.

Ich kenne mich mit Whisk(e)y überhaupt nicht aus, der schmeckte mir. (Sehr aufwändiger – und vorhersehbarer – Marketing-Film der Destillerie, da denkt jemand groß. Und begründet einen Pilgerort für all die verlachten Kevins dieser Welt?)

Abendessen war auf meinen Wunsch nochmal Lieblingsessen (eines von vielen) Grü Soß.

Nachtisch Osterschokolade.

Twitter war wieder erreichbar, ich las meine Timeline seit dem Morgen hinterher.

die Kaltmamsell

Journal Freitag, 16. April 2021 – Gästevermissung

Samstag, 17. April 2021 um 7:46

Das war eine lange Woche. Ich fühlte mich knochenmüde und mag nicht mehr.

Mit dem Rad in die Arbeit, weil ich nach Feierabend noch zum Viktualienmarkt wollte. Ich brauchte wieder Mütze und Handschuhe.

Mittags gab es Breze, Apfel Orange, Grapefruit, Quark – das war zu viel, aber irgenwie schien es mir umständiglich, die halbe Schüssel Orange und Grapefruit mit Quark stehen zu lassen.

Einige Stunden niederhirnige Arbeit. Mache ich hin und wieder ganz gerne, weil meine Gedanken dabei umherschweifen können. Immer mit dem Nachteil, dass ich dazwischen hochschrecke, keine Erinnerung daran habe, was ich in den vergangenen Minuten getan habe – und befürchte, Mist produziert zu haben.

Nach Feierabend radelte ich nach Langem mal wieder die Schwanthalerstraße lang: Sie erfordert immer noch Baustellen-Slalom und endet in einem Hindernis-Parcour über die Sonnenstraße, auf der die Straßenbahnschienen erneuert werden.

Am Viktualienmarkt steuerte ich erst mal den vertrauten Wild- und Geflügelladen an: Die Rollläden waren herabgelassen, doch die Tür stand zum Glück offen. Ich bat um ein Kaninchen (Sonntagsbraten) – und war verdutzt, dass eine Packung aus der Kühlung geholt wurde, wie ich sie aus Supermärkten kenne (ich war wohl von einem Direktlieferanten ausgegangen). Auf meine Bitte bekam ich das Kaninchen gleich in Stücke zerteilt. An einem Obst- und Gemüsestand besorgte ich noch Grü-Soß-Kräuter und Bouquet Garni für den Kaninchenbraten.

Durch dichten Freitagabendverkehr (Pandemie? welche Pandemie?) radelte ich heim, dort erst mal eine Runde Yoga – der Baum wurde bei zweiter Pflanzung bereits aufrechter.

Herr Kaltmamsell bereitete das Abendessen zu, ich reichte zum Aperitif Negronis an. Im Abendlicht in der Küche stehend erkannte ich, wie hervorragend sie sich für den ersten Teil einer Abendessenseinladung eignet: Gäste haben genug Platz, mit einem Gläschen irgendwas herumzustehen, das Balkönchen lädt zum Rausgehen ein und bietet den wundervollen Blick über den Park. Ich vermisse Gäste. Sehr.

Vorspeise waren frittierte Garnelen (selbst paniert, knusprig und saftig und köstlich). Dazu Riesling.

Dann teilten wir uns ein Entrecôte, dazu Ruccola aus Ernteanteil und Kartöffelchen aus dem Speiseföhn.

§

Die Neue Züricher Zeitung hat sich strukturiert und ausführlich mit einem sonst nur zum Schimpfen verwendeten Phänomen befasst:
“Die vielen Gesichter der Dummheit”.

Autorin Lea Haller geht den Konzepten der Dummheiten durch die Menschheitsgeschichte nach und wie sie gewertet wurden – durchaus nicht immer negativ.

die Kaltmamsell

Journal Donnerstag, 15. April 2021 – Arbeitsgedanken

Freitag, 16. April 2021 um 6:27

Eine Nacht mit dreimal Aufwachen aber recht bald wieder Einschlafen gilt mittlerweile als eine gute.

Eisiger Arbeitsweg, die Theresienwiese war gefrostet.

In der Arbeit Erinnerungen an katholische Jugendarbeit und an Kreativ-Workshops in Agenturen und an anderen Arbeitsplätzen vor 20, 15, 10 Jahren: Manche Dinge kommen immer wieder.
Schlimme Erkenntnis: Auf meinem persönlichen Berufsweg wurden merkliche Änderungs-/Verbesserungssprünge nur erzielt, wenn Alpha-Männer, die sich nix schissen, bei den Silberrücken damit durchkamen. Lag hoffentlich nur an den Branchen, in denen ich unterwegs war.

Zu Mittag gab es ein Schinkenbrot aus Selbstgebackenem aus der Gefriere und ein paar frühe, aber aromatische Tomaten.

Vor dem Bürofenster sah ich hin und wieder Schneeflocken.

Viel Arbeit, es wurde später als geplant. Auf dem Heimweg büßte ich meine Mützenverweigerung, ein böser Wind biss in meine Ohren.

Beim Heimkommen keine Lust auf Yoga. Ich machte zum Abendessen eine sehr große Schüssel Salat aus den ersten Salatkopf (Batavia) des Jahres aus Ernteanteil mit Tahini-Dressing und weiteren Tomaten. Dazu ein Butterbrot, danach eine Schale Vanilleschokopudding aus der Hand von Herrn Kaltmamsell.

§

Das New York Times Magazine über Jo van Gogh-Bonger, die Schwägerin von Vincent van Gogh: Ausführliche historische Recherchen haben ergeben, dass sie es war, die nach dem frühen Tod des Malers und kurz darauf seines Bruders für den Weltruhm sorgte – indem sie über Vincents Briefe Leben und Werk unzertrennlich machte und das Bild vom gequälten, leidenden Künstler formte, das wir bis heute vor Augen haben. (Liegt hier vielleicht ein Schlüssel zu dem Umstand, dass für den Marktwert eines Kunstwerks seine Herkunft von einem konkreten Menschen definitorisch ist? Weil die Rezeption das Werk nur zusammen mit einer bestimmten Biografie denken kann? Und wenn sich herausstellt, dass dasselbe Meisterwerk von jemand anderem geschaffen wurde, zerreißt dieses Band und es ist schlagartig nichts mehr wert?)
“The Woman Who Made van Gogh”.

A question that had never been completely answered: How exactly did the tortured genius, who alienated dealers and otherwise thwarted his own ambition time and again during his career, become a star? And not just a star, but one of the most beloved figures in the history of art?

die Kaltmamsell

Journal Mittwoch, 14. April 2021 – Keine Aussichten

Donnerstag, 15. April 2021 um 6:34

Aufgewacht zu keinem Schneefall. Kalt war es auf dem Weg in die Arbeit aber doch ganz schön (verweigere allerdings inzwischen Mützen und verlasse mich auf meine rausgewachsenen dichten Haare), ich lief zackig.

Meinen Lippen geht es gerade deutlich besser, ohne dass ich irgendwas getan habe – was für Stoffwechsel/Hormone als Ursachen spricht. (Die Creme mit Harnstoff hatte ich nach einer Woche ohne Besserung bleiben lassen, nur noch meine gewohnte Lippencreme benutzt, damit ich lächeln konnte, ohne dass die Haut platzte.)

Nebeneffekt der seit sechs Monaten ungeschnittenen Haare: Ich lerne, dass ich mit dem Altern Locken bekommen habe, zumindest Wellen.

Emsigkeit in der Arbeit. Zu Mittag gab es Birnen mit einem Stück Käse.

Überraschender Rücksendegrund eines bei mir bestellten Pakets:

Auf dem Heimweg Corona-Koller: Steigende Infektionszahlen, keine Aussicht auf wirkungsvolle Maßnahmen zur Beendigung der Pandemie (die Politik scheint sie lediglich dauerhaft verwalten zu wollen), daher auch keine Aussicht auf ein Ende des Ausnahmezustands vor Ende dieses Jahres – ich war durch und durch niedergeschlagen. Wieder vereinzelte Schneeflocken, das verbesserte meine Laune nicht. Unterwegs Obst und Gemüse für die nächsten Tage eingekauft.

Zu Hause eine kurze, aber anstrengende Einheit Yoga (erster Versuch Baum wurde eher bodendeckendes Gebüsch), die mache ich nochmal.

Fürs Abendessen war ich zuständig. Ich versuchte eine Köstlichkeit aus Studienzeiten (1990er) nachzubauen, die Freund Frank gerne im Ausgburger Annapam aß: Tortellini in Schinken-Sahne-Soße (mit Erbsen). Ganz falsch wären dafür Zutaten von einer Qualität gewesen, die wir heutzutage anstreben, doch selbst bei Aldi fand ich nicht mehr die billigen getrockneten Tortellini von damals. Das Gericht wurde also durchaus wohlschmeckend, aber nicht wirklich wie seinerzeit. Dazu gab es Gurkensalat.

Zu viel Schokolade zum Nachtisch (leichte Übelkeit).

§

Dasselbe Thema schon wieder – auch mich langweilt es schon seit Langem, aber davon geht es nicht weg. Weil:

Die allermeisten Männer haben keine Ahnung davon, was Frauen alles tun, um sich vor übergriffigem Verhalten von Männern zu schützen. Das können praktische Dinge sein wie: nicht allein im Dunkeln bestimmte Wege gehen, Selbstverteidigung lernen, Pfefferspray in der Jackentasche haben oder Fake-Telefongespräche führen, in der Bahn dicke Kopfhörer tragen, obwohl da gar keine Musik rauskommt, oder einen BH anziehen, obwohl es nicht nötig wäre. Oder es können eher psychische Vorgänge sein: dumme Sprüche ignorieren, sich Situationen schönreden oder Hinweise auf Gefahren ausblenden, um sich nicht permanent ablenken zu lassen.

So beginnt Margarete Stokowski ihre aktuelle Spiegel-Kolumne:
“Die Unschuldsvermutung gilt nicht nur für Männer”.
Was dann folgt, wurde ebenfalls unzählige Male berichtet und analysiert: Wie Frauen bis heute in Fällen sexualisierter Gewalt immer erst mal eine Mitschuld zugeschrieben wird. Margarete Stokowski nimmt ein weiteres Mal auseinander, was das anrichtet.

die Kaltmamsell