Journal Dienstag, 20. April 2021 – Die Sonderstellung russischer Immigration
Mittwoch, 21. April 2021 um 6:27Die gute Nacht war noch vor fünf zu Ende – aber ich hatte genug Schlaf bekommen.
Draußen wurde es zu einem weiteren bleigrauen Tag hell, halbwegs.
Die Schreinerei hatte ein Computer-generiertes Bild meines künftigen Einbauschranks geschickt, dazu Zeichnungen des Innenaufbaus – ich war schockverliebt.
Immer noch sehr kalter Fußweg in die Arbeit.
Was mich an den rausgewachsenen Haaren stört (über sechs Monate sind’s jetzt), ist keineswegs der Anblick – den halte ich weiterhin für ertragbar, auch wenn ich mich nicht damit identifiziere. Mich stört, dass meine Haare mir bewusst sind und mir damit Aufmerksamkeit rauben. Ich spüre sie über den Ohren, im Nacken, muss sie von den Augen wegstreichen oder per Kopfbewegung wegschütteln, merke, wie sie der Wind mir ins Gesicht weht. Wenn sie mindestkurz sind, bemerke ich sie überhaupt nicht, bei ein wenig Rauswachsen höchstens, wenn ich sie fürs Schwimmen (SCHWIMMEN! BUHUHUHU!) mit Schwimmkappe aus dem Gesicht halten muss. Ist ein bisschen wie Fingernägel: Idealkurz sind sie gar nicht da; wenn sie so lang sind, dass ich sie bemerke, nerven sie und ich möchte sie dringend schneiden. Die Ansprüche an Pflegeprodukte für meine Haare sind folglich mit denen von Casino identisch:
es funktioniert wie es soll, die haare sehen nach der wäsche gewaschen aus, und nach dem bürsten frisiert. mehr kann, nach meiner lebenserfahrung, kein mensch erwarten.
(Plus alle paar Wochen Lila-Shampoo gegen Gelbstich, die Flasche hält anderthalb bis zwei Jahre.)
Mittags gab es eine Käsesemmel und einen Apfel, nachmittags ein paar getrocknete Pflaumen und Nüsse.
In der Arbeit viel Manuelles und Fußwege.
Auf dem Heimweg sah sogar die Sonne ein wenig raus, ich konnte die Handschuhe wegstecken.
Zu Hause Familienkontakt (es gibt weitere Impfmeldungen, hurra!), eine Einheit Yoga. Zum Abendessen servierte Herr Kaltmamsell Nudeln mit gelben Beten aus Ernteanteil und Feta, ein wenig Schärfe durch Pul Biber. Nachtisch war die letzte Osterschokolade.
Der Hinweis von Kommentatorin Anna brachte mich zum Nachdenken über die Sonderform der Einwanderung in Deutschland durch Russen und Russinnen, die sich auch nach mehreren Generationen im Ausland als Deutsche definierten, “Russlanddeutsche” genannt (rein sprachlich eine Ausnahme, sehr wahrscheinlich ist nie von “Spaniendeutschen” oder “Brasiliendeutschen” die Rede, egal wie sehr sie sich in ihren Heimatländern als Community oder “Colonia” über Generationen isolieren.) Denn schlagartig wurde mir bewusst, dass diese Einwanderungsgruppe (mir ist klar, dass sie genausowenig homogen ist wie jede andere) in den Migrationsdiskussionen in meinem Blickfeld fast nicht vorkommt – weil sie sich eben gar nicht als Einwanderer sehen.
Was mir erst mal einfiel:
– Meine Mutter, die in der Integrationsdebatte der 1980er (als das offizielle Deutschland noch versuchte, durch schlichte Behauptung einfach kein Einwanderungsland zu sein) gerne auf die Bigotterie hinwies, dass von Einwanderern nach Deutschland verlangt wurde, die mitgebrachte Kultur aufzugeben und ganz in einer anderen aufzugehen, dasselbe Deutschland aber stolz darauf war, dass seine Auswanderer im Zielland die mitgebrachte Kultur über Jahrhunderte unintegriert pflegte (wie es in einigen Ländern Südamerikas bis heute ist).
– Die Geschichten von russische Einwandererfamilien mit mehreren Generationen, deren Teenager ungefragt und unfreiwillig mitkamen, kein Deutsch sprachen, mit der von Eltern und Großeltern glorifizierten “deutschen Kultur” nichts anfangen konnten (die ohnehin in dieser konservierten Form gar nicht existierte) und sich in der neuen Heimat doppelt ausgegrenzt sahen.
– Diese russischen Einwandererfamilien, die in Deutschland feststellen mussten, dass sie von ihrer Alltagsumgebung wie beliebige andere Einwanderer angesehen wurden (also traditionell ablehnend und ausgegrenzt) und oft lieber unter sich blieben.
– Ein Erklärungsansatz der Nähe zu nationalistischen bis rechtsradikalen politischen Tenzenden. Dieser NZZ-Artikel stellte 2018 einen Bezug her zwischen AfD-Wählertum in Ingolstadt und der besonders großen russischen Einwanderer-Community dort. Ich hatte das reflexhaft mit meinem (peinlichen) Stereotyp des Russen erklärt, der nun mal Nationalist ist was will man machen. Viel schlüssiger aber ist die Erklärung, dass sich diese russischen Einwanderer über Blutlinien als Deutsche definieren und deshalb ein schwieriges Verhältnis zu anderen Deutsch-Definitionen haben.
Herr Kaltmamsell gab mir den Tipp, Hintergründe auf der Website der Bundeszentrale für politische Bildung zu recherchieren – Volltreffer.
“Identität und Ethnizität bei Bundesbürgern mit russlanddeutschem Migrationshintergrund”.
Identität und Identifikationen von Russlanddeutschen sind seit Beginn ihrer massenhaften Migration in die Bundesrepublik Deutschland seit Ende der 1980er Jahre ein Thema, das die soziologische, anthropologische, kulturwissenschaftliche, erziehungswissenschaftliche und psychologische Forschung beschäftigt. Ausgangspunkt ist der elementare Identitätskonflikt, den viele Russlanddeutsche durchmachen mussten, nachdem sie aus der (ehemaligen) Sowjetunion nach Deutschland kamen und der oft in dem Satz zusammengefasst wird: “Dort waren wir die Deutschen (oder: die Faschisten), hier sind wir die Russen.”
In diesem Aufsatz wird aufgeschlüsselt, wie vielfältig die Selbstdefinition dieser Einwanderergruppe ist.
Und hier ein Aufsatz über die Instrumentalisierung der Unterdrückungsgeschichte vieler russischer Einwanderer mit deutschen Wurzeln:
“‘Als ob sie kein Leben gehabt hätten’
Russlanddeutsche Alltagsgeschichte zwischen Stalinismus und Perestroika”.
Zunächst zu den Gründen für das bis heute sehr partielle Wissen über das Sowjetische in russlanddeutschen Biographien: Ausgehend von den traumatischen Erfahrungen der stalinistischen Zwangsumsiedlungen und der anschließenden Zwangsarbeit in der “Arbeitsarmee” (Trudarmija) ist die dominierende Erzählung russlanddeutscher Geschichte bis heute die eines “Volks auf dem Weg”, eine Erzählung von Leistungsträgern, die vermeintlich “leere” und “wüste” Steppen in “blühende Landschaften” verwandelt haben und dann ab Ende des 19. Jahrhunderts und insbesondere ab 1917 zu Opfern wurden. Eine solche Deutung hat zweifellos ihre Berechtigung, nicht nur mit Blick auf die sowjetische Politik während des Zweiten Weltkriegs.
Zugleich werden jedoch durch den in hohem Maße emotional besetzten Absolutheitsanspruch, mit dem eine solche Interpretation der “eigenen” Geschichte vertreten wird, all jene Facetten der russlanddeutschen Erfahrungen verdeckt, die nicht dieser Interpretation entsprechen. Dabei liegen inzwischen genügend Untersuchungen vor, in denen gezeigt wird, dass das Opfernarrativ eines “Volks auf dem Weg”, das sich trotz aller Repressionen wie in einem Identitätscontainer über mehr als zwei Jahrhunderte und mehrere Kontinente hinweg eine unveränderte “deutsche Identität” bewahrt habe und dessen “Weg” nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion mit der Ankunft in der deutschen “Urheimat” ein erfolgreiches Ende gefunden habe, weder den vergangenen noch den gegenwärtigen Realitäten russlanddeutscher Lebenswelten gerecht wird.
Und als wäre das nicht schon kompliziert genug, gibt es unter uns ja auch noch jüdische Kontingentflüchtlinge. Wer sich für Geschichte und Abgrenzung interessiert:
“Jüdische Kontingentflüchtlinge und Russlanddeutsche”.
(Das Thema Aussiedler ignoriere ich erst mal, wird zu viel. Aber ich parke den Begriff “Deutsche Volkszugehörigkeit” – Art 166 Grundgesetz – in meinem Hinterkopf und versuche ihn zu verarbeiten.)