Journal Sonntag, 5. September 2021 – Sommersonntag, #WMDEDGT

Montag, 6. September 2021 um 6:40

Ein Beitrag des Freundeskreises Tagebuchbloggen und Antwort auf Frau Brüllens Frage: Was Machst Du Eigentlich Den Ganzen Tag?

Etwas unruhige Nacht, aber nach dem wiederholten Aufwachen kurz vor sechs konnte ich nochmal einschlafen.

Ich zog die Rollos hoch zu herrlichem Sonnenschein: Am letzten Tag vor Wiederarbeiten bekam ich den Sommer nachgeliefert, der mir eigentlich in den beiden Wochen davor sehr gut gefallen hätte. Er soll auch noch ein paar Arbeitstage bleiben.

Pflanzen gegossen, es gab keine Todesopfer in den sechs gieß-freien Tagen. Waschmaschine gefüllt und gestartet.

Für einen Balkonkaffee war es leider zu kühl, ich bloggte innen mit offener Balkontür.
Maniküre auf Küchenbalkon in der Sonne.

Die beiden Koffer ausgepackt (mit übermenschlicher Anstrengung hatte ich es geschafft, sie am Vorabend einfach nur aufgeklappt rumstehen zu lassen), Wäsche aufgehängt.

Unverhofft verhalf mir das schöne Wetter zu einem weiteren Freibad-Schwumm; am Vorabend hatte ich nachgelesen, dass mit der der Neuregelung der Corona-Maßnahmen keine Buchung mehr nötig ist. Vormittags machte ich mich auf zum Schyrenbad – und kehrte auf halbem Weg um, weil ich meine Maske vergessen hatte. Beim zweiten Druchqueren des Alten Südfriedhofs beobachtete ich ein rotes Eichhörnchen, dass sich an der Weihwasserschale eines Grabmals zu schaffen machte – es klang leer, also hatte es eher dort etwas vergraben als getrunken.

Am Eingang des Schyrenbads musste ich meine Kontaktdaten hinterlassen – dass die Stadtwerke München dafür nur die private Luca-App anbieten, nicht aber die Eincheck-Möglichkeit der offiziellen Corona-Warn-App, finde ich ärgerlich. Ich füllte einen Zettel aus.

Das Becken war ziemlich voll, dennoch konnte ich meine 2500 Meter flüssig runterschwimmen – sogar besonders schnell, weil mir trotz Sonnenschein kalt war.

In der Umkleide trocknete ich mich ab, sonnencremte mich und wechselte von Badeanzug in Bikini. In der Sonne wärmte ich mich auf und hörte zwei Stunden NDR-Corona-Podcast mit Prof. Drosten, wieder eine Menge gelernt. Unter anderem:
– wann ein Schnelltest für Geimpfte sinnvoll ist (vor Zusammensein mit Ungeimpften, zum Beispiel Kindern),
– was “Impfdurchbruch” heißt und was nicht, welche Studien welche verschiedenen Maßstäbe dafür anlegen (die einen testen systematisch eine große Gruppe Geimpfter und zählen alle positiven Ergebnisse, die anderen nur Geimpfte mit Symptomen),
– dass der Begriff “Herdenimmunität” meist falsch verwendet wurde (er bedeutet nicht das Verschwinden aller Corona-Infektionen),
– dass die Delta-Variante noch tückischer ist, als sich anfangs abzeichnete,
– warum sich wirklich, wirklich alle impfen lassen sollten, die es dürfen (Drosten hatte vor dem Sommer für Ende August eine Impfquote von 85 Prozent prognostiziert, die vor dem Herbst den Übergang in die endemische Phase ermöglicht hätte, in der Corona einfach ein weiterer Schnupfen wäre – so aber hält er die Notwendigkeit von Kontakteinschränkungen im Herbst für wahrscheinlich),
– dass in Ländern, in denen die Pandemie besonders verheerend gewütet hat, bei Betrachtung der Impfquote beachtet werden muss, dass insgesamt die Immunität in der Bevölkerung durch Infektionen bedeutend höher ist, also z. B. in Spanien und UK,
– wie weit Impfungen für Kinder sind (Hochrisikogruppen können bereits mit reduzierter Menge geimpft werden, es gibt Erfahrungswerte).

Dabei immer wieder Ameisen beobachtet, die auf mir krabbelten – nach dem Vortrag des jungen Formiculogen in Berlin habe ich einen völlig neuen Blick auf die Viecher. (Kann es sein, dass eine Ameise eine tote kleinere abtransportierte?)

Schöner Spaziergang zurück nach Hause, dort aß ich Joghurt mit Weizenkleie und Apfel. Anschließend Duschen mit ausführlicher Körperpflege.

Die Koffer zurück in den Keller geräumt, festgestellt, dass auch mein Zweit-Werkzeugkoffer (Papas Geschenk, als ich zwei Jahre lang eine Zweitwohnung in Augsburg bewohnte) keinen Gürtellocher enthält. Ich muss die betreffenden Gürtel zum nächsten Elternbesuch mitnehmen.

Twitter- und Zeitunglesen auf dem sommerlichen Balkon. Vorsichtiger Check meines Berufs-Postfachs: Scheint nichts wirklich Schlimmes angefallen zu sein.

Als Aperitif gab es einen Gin Tonic mit alkoholfreiem Gin von Heimat, den mein Bruder mir geschenkt hatte – brauchte für meinen Geschmack unbedingt das Tonic Water, weil er pur nach Medizin schmeckte. Mit Tonic entwickelte er ein angenehmes Tannennadel-Aroma.

Als Nachtmahl servierte Herr Kaltmamsell den ersten der beiden Berliner Zucchini (den gelben) in Stücken aus der Pfanne mit getrockneten Shiitake-Pilzen, Beluga-Linsen, Sahne – sehr gut.

Abendunterhaltung: Comedian Aurel Mertz hat jetzt beim ZDF seine eigene Show, Aurel Original. Ich sah mir die erste Folge an. Joah, das Thema bearbeitet meiner Meinung nach Die Anstalt besser und witziger, vielleicht muss sich das Team erst aufs neue Format eingrooven.

die Kaltmamsell

Journal Samstag, 4. September 2021 – Berlin 5: Rückreise / Ein 80. Geburtstag

Sonntag, 5. September 2021 um 9:13

Wecker auf früh, denn wir wollten vorsichtshalber früh am Bahnhof sein.

Abschied vom Zimmer mit angemessener Nummer, name’s Bond. (Wenn Sie sich tiefer für dieses besondere Hotel Oderberger interessieren, möchten Sie vielleicht meinen ersten Aufenthalt vor drei Jahren nachlesen, hier gibt’s Fotos, hier mehr Fotos, hier mit Hintergrundinfos.) Wir rollkofferten durch ein morgennebliges Berlin zum Hauptbahnhof, die alte Gehwegpflasterung machte uns in den leeren Straßen zu genau der Lärmbelästigung, wegen der Anwohnende Touristen fürchten.

Stickerkultur.

Im Hauptbahnhof war es ruhiger als erwartet, ich war in der aktuellen Streiksituation auf gestrandete und aufgeregte Passagiere gefasst gewesen – doch am dritten Streiktag wurde wohl niemand mehr überrascht. Die DB-Infotheke am Eingang war gut besetzt, eine zusätzliche Bahn-Servicekraft lief herum und kümmerte sich direkt um die Menschen in der Schlange davor. Wir ließen uns bestätigen, dass die reservierte Verbindung nach München über Hannover und Nürnberg noch existierte und gingen Kaffeetrinken.

In der 1. Klasse, die wir für unser ursprüngliches Schnäppchenticket gebucht hatten, war es dann sogar ruhig (die paar Euro Aufpreis machten sich sowas von bezahlt) mit vereinzelten leeren Sitzen. Ich bastelte bei funktionierendem (!), aber wackligem WLAN den gestrigen Blogpost. Umstieg in Hannover mit einer Stunde Aufenthalt; Herr Kaltmamsell nutzte sie für ein Mettbrötchen zur Brotzeit. Auch der nächste Abschnitt Hannover-Nürnberg verlief ruhig, ich aß zwei Äpfel und ein Stück Eiweißriegel, las auf meinem Smartphone die Süddeutsche vom Wochenende. In Nürnberg hätten wir über anderthalb Stunden auf den nächsten Zug warten müssen, doch kurz vor Ankunft informierte eine Durchsage, es stehe ein extra ICE nach München bereit, gleich im Anschluss am Gleis gegenüber. Darin erfuhren wir, dass es sich um einen Zug handelte, der eigentlich nur bis Nürnberg gefahren wäre und jetzt zur Entlastung bis München fuhr – well played, Deutsche Bahn. Ankunft 16.40 Uhr, nach knapp sieben Stunden.

In München schien warme Sonne, die Menschen waren sommerlich gekleidet. Wir brachten schnell unsere Koffer heim, banden eine Schleife um ein Mitbringsel und nahmen eine U-Bahn nach Obersendling: Freunde hatten uns zur Nachfeier eines 80. Geburtstags der Frau Mama eingeladen. Dort konnten wir die Dame hochleben lassen, liebe Gesichter wiedersehen, und wir bekamen fränkische Köstlichkeiten serviert – ich freute mich besonders über die sauren Zipfel und das Kellerbier. Allerdings waren wir so durch, dass wir uns schon kurz nach neun wieder verabschiedeten.

§

Ja, der Lokführer-Streik hat unsere Rückreise unbequemer gemacht (und uns trotzdem am selben Tag fast 600 Kilometer nach Hause gebracht). Aber das hat nichts mit dem Bahnfahren zu tun, ich erinnere an die jüngeren Streiks in der Luftfahrt. Vor allem aber halte ich das Streikrecht für eine enorme gesellschaftliche Errungenschaft und wünschte manchmal sogar, es würde öfter genutzt. Siehe diesen taz-Kommentar:
“Wo bleibt die Solidarität?”

Wer in Deutschland streikt, erfährt mehr Wut als Solidarität. Tief verwurzelt ist der Neid auf alle, die es wagen, für ihre Forderungen einzutreten.

(…)

Der Job ist entweder unterbezahlt oder stressig und voller Überstunden oder das Klima zwischen Kol­le­g*in­nen vergiftet – wenn man richtig Glück hat, geht gleich alles drei zusammen. Ab und zu hört man vom Burn-out als Volkskrankheit des 21. Jahrhunderts. Wenn man selbst betroffen ist, geht man in Therapie und sucht das Problem bei sich. Kann man machen. Echte Veränderung kann es aber nur geben, wenn Arbeit und Arbeitsbedingungen als etwas Politisches gesehen werden.

Grund für Wut war im Gegensatz dazu im August 2006 der vereitelte Anschlag auf Flugzeuge mit Flüssigbombe, der unsere Anreise nach Brighton verhinderte und uns die Mühe kostete, am nächsten Tag per teurem Nachtzug über Paris anreisen zu müssen.

die Kaltmamsell

Journal Freitag, 3. September 2021 – Berlin 5: Spreefahrt und Gärtnerei-Essen im Tisk

Samstag, 4. September 2021 um 13:04

(Vorabinfo zu Samstag und Rückreise per bestreikter Bahn: Ich schreibe im Zug, wir haben es bereits nach Hannover geschafft und sitzen jetzt im Zug nach Nürnberg.)

Ausgeschlafen, draußen herrlichster Sonnenschein.

Deko-Element am Oderberger, leicht gruslig.

Herr Kaltmamsell hatte uns Tickets für eine Spreeschifffahrt gesichert, erst mal für die Standardstunde. Auf meiner Unternehmungsliste für Berlin steht auch eine ausführliche Fahrt inklusive Seitenarme, das mache ich bei einem anderen Besuch.

Auf dem Weg zur Anlegestelle zweimal Morgenkaffee mit Zeitunglesen, ich genoss die Farben des Sonnenlichts durch Blätter, auf den gepflasterten Wegen, zwischen den vielen Draußensitzenden vor den Cafés.

Esskastanie im Monbijoupark.

Spreefahrt durch Regierungs- und Nikolaiviertel, mal mit Wind von vorn (ich freue mich sehr auf den Friseurtermin in zehn Tagen), mal von hinten. Die gut hörbaren Erklärungen vom Band enthielten durchaus Neues.

Weil wir schon mal da waren und ich ihn noch nie besucht hatte, sahen wir uns den Tränenpalast an. Gut aufbereitete Informationen, die den Ort zum Anlass nehmen, die Teilung der Stadt, Mauerbau und Fall der Mauer zu erzählen. Es flasht mich immer wieder, dass der Mauerfall jetzt länger her ist, als es die Mauer überhaupt gab – da ich mit einem geteilten Deutschland groß geworden bin, hat mich das nachhaltig geprägt.

Beispiel für ein Westpaket – für mich Erinnerung an den Back-Kakao meiner Kindheit und Jugend.

Am frühen Nachmittag spazierten wir zurück Richtung Hotel. Wir kehrten ein im Mogg in der ehemaligen jüdischen Mädchenschule – endlich konnte ich Herrn Kaltmamsell das dortige legendäre Pastrami-Sandwich servieren. Ich aß Shakshuka, das gut tat, aber nicht an das von Herrn Kaltmamsell heranreicht.

Unsere Bewegungsfreiheit im Hotel war eingeschränkt: Dreharbeiten. Zumindest mussten wir nicht auch noch leise sein. Wegen des anhaltenden Lokführer-Streiks recherchierten wir Bahnverbindungen, die uns am Samstag nach München bringen würden. Die am Dienstag reservierte gab bereits nicht mehr, wir reservierten eine neue über Hannover und Nürnberg. Samstag würden wir halt früh morgens am Bahnhof sein und dort aktuelle Auskunft erbitten.

Fürs Abendessen hatten wir einen Tisch im Tisk reserviert; das Konzept „Farm to table“ mit eigener Gärtnerei und die Gemüse-zentrierte Speisekarte hatten mich sofort angezogen – so sähe es vermutlich aus, wenn es ein Kartoffelkombinat-Restaurant gäbe.

Den Aperitif nahmen wir in der Bar des Hotel Oderberger: Rechts Norway Muse für mich, herbsüß, links Birne für Herrn Kaltmamsell, frisch. Besonders interessant: Meine Deko-Kirsche war stark mit Gewürznelke aromatisiert.

Wir nahmen nur für die Hauptstrecke die U-Bahn nach Neukölln, gingen die erste und letzte Viertelstunde zu Fuß zum Gucken. Neukölln gefiel mir wieder ganz besonders gut, im milden Wetter saßen auch hier die Menschen draußen, bunt und vielfältig.

Im Tisk wurden wir herzlich empfangen. Auf der Theke zur offenen Küche (wir saßen drinnen, denn sobald die Sonne verschwindet, ist es mir Prinzesschen auf der Erbse draußen zu kühl) lag dekorativ neben Kürbissen eine stattliche Zucchini. Auf dem Weg hatte ich mich mit Herrn Kaltmamsell über die Schwierigkeit unterhalten, fürs klassische spanische Pisto solche großen Exemplare zu bekommen (die geschält, entkernt und kleingewürfelt werden), da mittlerweile nur noch junge, saftige und auch roh verwertbare Exemplare angeboten werden. Darauf sprach ich unseren Gastgeber bei der Bestellung an, der zustimmte, dass man die heutzutage wahrscheinlich eigens bestellen müsse, und dann einfach meinte: „Ich gebe Ihnen die mit, erinnern Sie mich doch, bevor Sie gehen.“ Auf mein überraschtes: „Echt?!“ brachte er gleich eine grüne und eine gelbe, große Zucchini, warnte lediglich, die gelbe sei schon älter, da müsse man wahrscheinlich mehr wegschneiden. Berlin farm to Munich table.

Erst wurde selbst gebackenes Knäckebrot mit Hummus zu Dippen auf den Tisch gestellt. Und dann aßen wir Gemüse. Vorspeisen:

Für mich gab es rote Bete mit Spinat, Kapuzinerkresse, Mirabellen, Tagetesblättern – ganz wunderbar.

Herr Kaltmamsell hatte Brokkoli mit knusprigen Mangoldblättern und Majonese.

Als Hauptgericht aßen wir beide Steckrübe mit Trompetenpilzen, Ei und Hollerbeeren – köstlich: Die Steckrübenscheibe war gegart und dann noch bis zur Karamelisierung gebraten.

Im Glas einen rheinhessischen Huff Doll Grauburgunder. Die kleine Weinkarte hatte auch orange wine angeboten, da ich diese konkreten aber nicht kannte und die Mostnote vieler Naturweine nicht mag, scheute ich davor zurück. An anderen Tische sah ich zweimal das berühmteste Gericht des Tisk gebracht: Broiler, ein ganzes Brathuhn mit Füßen, das man sich am Tisch selbst teilt.

Nachtisch war ein Tiramisu-Eis mit Pistazie, ebenfalls ausgezeichnet.

Abschließend bekam Herr Kaltmamsell Espresso, ich bat um einen Schnaps und folgte der Empfehlung Williamsbirne. Ich hatte mich noch nie zuvor aus einem Restaurant mit zwei Zucchini unterm Arm verabschiedet, aber irgendwann muss man halt damit anfangen.

Rückweg mit Neukölln-Ansichten:

Strudlhofstiege auf Berlinerisch?

An der Karl-Marx-Straße.

Ungewöhnliches Mitbringsel vom Fine Dining: Zwei je 40 Zentimeter große Zucchini aus der Restaurant-Gärtnerei. Hier am Hermannplatz.

Zurück in Prenzlauer Berg guckten wir wieder Wahlwerbung: In Berlin wird am 26. September auch das Abgeordnetenhaus gewählt, ich lerne aus den Plakaten viel.

§

Gute Gedanken von Jagoda Marinić in der Süddeutschen dazu, wie verzwickt das Thema Migration und Diversität inzwischen im politischen Diskurs Deutschlands ist (€):
“Vielfalt im Wahlkampf:
Wir sind hier nicht gemeint”.

Fast sehne ich mich zurück nach einem Sturkonservativen wie Edmund Stoiber, der zwar nur Klischees von integrationsunwilligen Ausländern in die Welt setzte, aber ihm konnte man noch widersprechen. Im Triell fand Migration als Thema überhaupt nicht statt. Nach Jahrzehnten der Wahlkämpfe, in denen Einwanderung meist nur missbraucht wurde, um Rechtskonservative zu mobilisieren, fehlt der Politik eine Strategie dafür, wie man mit Diversität auch Wahlen gewinnen könnte.

(…)

Ich gebe zu, dass dieses Mal nicht allein die Mehrheitsgesellschaft verantwortlich für diesen Missstand ist, sondern auch ein Teil der Minderheiten. Zu viele verstehen ihre Rolle als Empörungs-Twitterer, die Fehler anprangern, ohne zu sagen, was sie verbessern wollen.

(…)

Die einen wollen den altmodischen Integrationsdiskurs zurück, andere wirtschaftsaffin über Diversität reden, wieder andere den postkolonialen Diskurs einer breiteren Öffentlichkeit zugänglich machen, um nur einige der Akteure zu beschreiben. Für Politiker ist diese Zersplitterung bequem: Man muss keine Minderheiten als Ganzes in demokratische Prozesse einbeziehen, sondern ein Foto oder Event pro Gruppe reicht, gerne mit einer profilierten Persönlichkeit, fertig!

die Kaltmamsell

Journal Donnerstag, 2. September 2021 – Berlin 4: Sonne, Kunst und eine Reihe Essen

Freitag, 3. September 2021 um 9:00

Gut geschlafen, noch vor dem Weckerklingeln aufgewacht: Ich wollte wieder Schwimmen gehen.

Diesmal kam ich früher ins Wasser. Es waren mehr Menschen im Becken, doch die wollten ebenfalls wirklich schwimmen, daher kamen wir uns nicht in die Quere. Zum ersten Mal seit Hüftekaputt traute ich mich ein wenig Brust zu schwimmen, sogar mit Power im Beinschlag – ging gut!

Blick vom Obergeschoß des Hotels rüber in die Schwimmhalle.

Mittags waren wir mit der Berliner Verwandtschaft von Herrn Kaltmamsell in Kreuzberg verabredet, genauer: mit einem Kusin, einer Kusine und ihren beiden erwachsenen Kindern. Bis dahin tranken wir Morgenkaffee, Herr Kaltmamsell frühstückte.

Das bekam ich auf meine Bestellung “ein Cortado”, weil ich ihn auf der Tafel entdeckt hatte.

Weil das Wetter endlich richtig schön und sonnig war, gingen wir die gute Stunde zu Fuß nach Kreuzberg.

Von der Schillingbrücke.

An der Köpenicker Straße.

In Kreuzberg bekamen wir eine Führung durch das professionelle Tonstudio des Herrn Kusin. Was er denn darin so mache, fragte ich. “Alles außer Kunst.”

Zu sechst gingen wir ins Mikito am Schlesischen Tor und aßen zu Mittag. Austausch von Neuigkeiten, auch über andere Familienmitglieder, Abgleich von Auswirkungen der Pandemie auf Beruf und Privatleben (Beruf: man kann ein Bekleidungsgeschäft auch vom Gehweg davor aus führen; Tonaufnahmen braucht im Lockdown niemand; drei Semester Studium nur über Internet und Bildschirm verhindern wissenschaftlichen Austausch und Netzwerken). Zu essen hatte ich mir eine Gemüse-Bowl bestellt, die sehr gut schmeckte.

Mit der U-Bahn fuhren wir danach zum Nollendorfkiez, um eine kleine Ausstellung in der Galerie ep.contemporary anzusehen: Ein Münchner Bekannter stellt darin mit aus und hatte darauf hingewiesen, und wenn uns der Zufall schon mal gleichzeitig nach Berlin führte, wollte ich das nutzen. Bis zur Öffnung der Galerie spazierten wir durchs Viertel und setzten uns in die Sonne. Die Ausstellung war tatsächlich interessant.

Mit einer Kombination Spaziergang und U-Bahn-Fahrt kehrten wir zurück ins Hotelzimmer, lasen bis zur Abendverabredung: Wieder in Kreuzberg gingen wir mit @FrauIndica georgisch Essen.

Georgische Vorspeisen, georgischer Weißwein, Khachapuri. Viel über die aktuelle Gastroszene in Berlin erfahren, Luftschlösser um einen möglichen Münchenurlaub gebaut.

In wieder frischer Nacht mit der Tram zurück zum Hotel gefahren.

§

In unserer Kartoffelkombinat-Gärtnerei sieht’s nicht gut aus.

die Kaltmamsell

Journal Mittwoch, 1. September 2021 – Berlin 3: Jüdisches Museum in Neu

Donnerstag, 2. September 2021 um 9:32

Nicht lang genug geschlafen, leicht verkatert aufgewacht.

Die ersten Stunden brauchte ich fürs Bloggen, währenddessen recherchierte Herr Kaltmamsell das Tagesprogramm. Wir planten ein wenig hin und her: Das Wetter hatte nicht mitgeschrieben, als ein sonniger Tag vorhergesagt wurde, der Himmel war bedeckt. Die Spreeschifffahrten, die uns am besten gefielen, waren bereits ausgebucht. Für einen Ausflug nach Potsdam war uns der Tag bereits zu fortgeschritten. Doch mir fiel ein, dass das Jüdische Museum seit anderthalb Jahren eine neue Leitung hatte, Hetty Berg, und dass ich in der Süddeutschen über die kürzliche Neueröffnung der neuen Dauerausstellung gelesen hatte: Die wollten wir sehen.

Wir verließen das Hotel erst mal auf der Suche nach Frühstück. Zum Morgen-Cappuccino aß ich sogar ein Stück Käsekuchen (das mir dann stundenlang quer kneifend im Magen lag).

Auf dem Weg zum Jüdischen Museum sahen wir uns auf der Museumsinsel um, jetzt ist ja ein weiterer Bauabschnitt beendet. Vielleicht brauche ich das fertige Gesamtensemble, um ihn richtig einschätzen zu können (Pergamonmuseum ist noch komplett Baustelle), im Moment sah das neue Stück für mich sehr abweisend aus.

Wir mäanderten zum Jüdischen Museum, es war einfach gewesen, einen Besuchstermin zu buchen (anders als bei der eben fertig restaurierten Neuen Nationalgalerie, die auf Monate ausgebucht ist).

Meine Eindrücke der folgenden beiden Stunden sind gemischt. Zum einen war ich angetan vom künstlerischen Anspruch und der Ästhetik der neuen Dauerausstellung. Zwar schien es es mir, als seien weniger Inhalte als in der Vorgänger-Ausstellung dargestellt (mein letzter Besuch ist allerdings zehn Jahre her), sehr viele als Kunstwerke/Installationen. Und daraus folgt das Zum anderen: In diesem Museum ist ohnehin die Architektur von Daniel Libeskind so dominant, dass sie manche Inhalte überstrahlt, jetzt gibt es einen weiterer Vordergrund für das, was erzählt und erklärt wird – ich frage mich, ob der Hintergrund, die eigentlichen Inhalte damit manchmal verdeckt werden. Nehmen wir als Beispiel das Thema Musik, das so präsentiert wird:

Am Anfang erklärt eine Tafel kurz die Präsenz musikalischer Elemente in jedem Bereich des Judentums, man hört sie in Nischen oder durch Berühren von Metallrohren. Die Wellen des Kettenvorhangs bekomme ich durchaus in eine Verbindung mit Schallwellen, doch die Erklärungen zu den einzelnen Sound-Stückchen sind sehr kurz (ich kann ein Shofar-Horn anhören, doch wozu dient es?) und das Eruieren der Technik zum Abrufen braucht zusätzliche Aufmerksamkeit.

Nach meinem Eindruck gehen all die originellen Präsentationsideen auf Kosten der Zugänglich- und Nahbarkeit, möglicherweise werden damit nur noch Menschen angesprochen, die bereits sehr viel über das Judentum und seine Geschichte in Deutschland wissen. Ich wüsste gerne, wie eine Besucherin das Museum erlebt, die sich vorher noch sehr wenig mit dem Thema befasst hat. (Ich hatte allerdings nicht den Audio-Guide genutzt, aber dort wären die fehlenden Inhalte auch nicht ideal aufgehoben.)

Präsentation des Themas Sabbath.

Immer wieder humorvolle Elemente.

Unter grauem Himmel spazierten wir gemütlich zurück ins Hotel. Ich holte eine Stunde tiefen Schlaf nach.

Abends waren wir in der Nähe bei einer Freundin aus Studienzeiten zum Essen eingeladen. Ich lernte einen sehr freundlichen Corona-Hund kennen und freute mich sehr über die Gelegenheit, die vergangenen beiden Jahre an Lebensinfo nachzuholen. (Und bekam eine Menge Spannendes vom hauseigenen Hobby-Formiculogen erzählt.) Es gab köstliches geschmortes Schweinfilet mit Oliven und Pflaumen, dazu Salat und gebratene Polenta. Wein ließ ich lieber aus.

In sternenklarer und sogar milder Nacht spazierten wir zurück.

§

Nachgeholt: Auf mehrfachen Wunsch ein Bild der Neuerwerbung aus dem Gemäldegalerie-Museumsshop an Kleid.

die Kaltmamsell

Journal Dienstag, 31. August 2021 – Berlin 2: Von Spätgothik bis Revuebeine

Mittwoch, 1. September 2021 um 10:09

Von Herrn Kaltmamsell habe ich ja eigentlich gelernt: Auf Reisen jeden Tag nur eine Unternehmung, der Rest ergibt sich. Gestern ging das halt nicht und es wurden vier Unternehmungen daraus.

1. Schwimmen im Stadtbad Oderberger

Darauf hatte ich mich seit Buchung des Hotelzimmers gefreut und hatte lange gebangt, ob das Bad bis zu unserer Reise reaktiviert sein würde – schließlich ist das der Clou an einem Hotel, das mal ein Stadtbad war. War es, und so duschte ich mich nach dem Aufstehen kurz und trank ein Glas Wasser, schlüpfte dann in Badeanzug und den bereitgestellten Bademantel. An der Rezeption ließ ich mir eine Zugangskarte geben und ging in die herrlich renovierte alte Schwimmhalle. Das Becken (20 Meter) war in zwei Bahnen geteilt, die im Oval beschwommen wurden, anfangs hatte ich eine Bahn für mich. Nach zehn Minuten Kraulen kam aber ein halbes Dutzend weiterer Schwimmerinnen dazu – mir war von vornherein klar gewesen, dass ich hier keine Trainingseinheit absolvieren würde. Dennoch tat die gute halbe Stunde Schwimmen gut.

2. Gemäldegalerie

Nachdem wir bei unserem ersten Besuch vor lauter Faszination nicht über die ersten drei Räume hinausgekommen waren, wollten wir nochmal die Gemäldegalerie besuchen. Das Wetter war grau, aber trocken, also machten wir uns zu Fuß auf den Weg, blieben unterwegs in einem Café in der Choriner Straße hängen und tranken dort unseren Morgen-Cappuccino.

Federfund im Tiergarten.

In der Gemäldegalerie kamen wir zu früh für unseren gebuchten Eingangstermin an, leider war die Cafeteria geschlossen, dann saßen wir halt rum. Wir ließen uns Audio Guides geben und sahen uns erst mal ausführlich in der Sonderausstellung Spätgothik um (Audio-Erläuterungen gelesen von Regierungssprecher Steffen Seibert).

Die Ausstellung fand ich ganz hervorragend aufgebaut und erklärt, unter anderem weil sie eingangs klar machte, was der rote Faden der Zusammenstellung war (technischer Fortschritt in der Kunst der Zeit): Mit dem im Hinterkopf konnte ich die ausgestellten Werke einordnen. Ich lernte eine Menge, sah hochinteressante Kunst, der Audioguide wies mich immer wieder auf Details und Zusammenhänge hin, die mir sonst entgangen wären. Und Fotografieren war ausdrücklich erwünscht.

Anschließend machten wir noch einen Abstecher in die ständige Ausstellung, waren aber beide nicht mehr wirklich aufnahmefähig.

Für einen Besuch im Museumsshop reichte die Aufmerksamkeit noch: Ich kaufte nicht nur Postkarten, sondern gab mir einen Ruck, als eine Halskette von Georg Jensen meinen Blick nicht mehr losließ: Ich kaufte sie, auch weil sie perfekt zu dem Kleid für die Abendverabredung passte.

Essengehen zählt nicht als Unternehmung.
Zum Essen wollten wir eigentlich ins Mogg in der ehemaligen jüdischen Mädchenschule, ich hatte Herrn Kaltmamsell Reuben Sandwich versprochen. Doch dann bogen wir am Eingang nicht rechtzeitig ab und landeten statt dessen im Garten des House of Small Wonder. Die Speisekarte sah sehr interessant aus, mischt Japanisches mit dem Rest der Weltküche. Und so aß ich Mentaiko Spaghetti mit Kabeljaurogen, Nori-Algen und Jakobsmuscheln, Herr Kaltmamsell bestellte geschmorten Schweinebauch.

Satt und zufrieden spazierten wir zurück ins Hotel, mittlerweile war sogar die Sonne herausgekommen.

Erst mal organisierten wir zur Beruhigung unsere Heimreise: Auch der umgebuchte Zug fällt wegen Streiks aus, wir reservierten Sitzplätze in einer alternativen ICE-Verbindung mit Umsteigen in Nürnberg – drücken Sie mit uns Daumen, dass das klappt.

Bis zum Abendprogramm war ich mit der Zusammenstellung der Lieblingstweets August beschäftigt.

3. Eine Show im Friedrichstadtpalast

Seit sehr langem wollte ich mal solch eine klassische Tanzrevue sehen mit aufwändigen Kostümen und bombastischen Spezialeffekten. Herr Kaltmamsell als Freund der alten MGM Musicals war schnell dafür gewonnen. Vor diesem Berlinbesuch dachte ich rechtzeitig daran Karten zu buchen und freute mich sehr auf schöne Frauen mit endlosen Beinen und Federbuschen auf dem Kopf. Die aktuelle Show heißt Arise, die Vorstellung war noch eine Vorpremiere.

Noch geübt wurde auch das Eintrittsprozedere: Mit der aktuellen Regelung mussten wir vor Betreten des Gebäudes nicht nur Ticket, sondern auch Impf-Zertifikat plus Identifikation vorzeigen, es bildeten sich lange Schlangen. Leider hatte uns unser Ticket zum falschen Eingang geschickt – das erfuhren wir natürlich erst, als wir endlich drankamen und es vorzeigten. Also nochmal an einer neuen Schlange angestellt, wir schafften es aber pünktlich zum Vorstellungsbeginn auf unsere Sitze.

Und was für eine Vorstellung! Wir saßen recht nah an der Bühne, so sah ich nicht nur die sensationellen Kostüme, sondern in den Gesichtern auch die wirklich unterschiedlichen Persönlichkeiten. Tolle Choreografien, darin auch eine unerwartet ernste Nummer ganz glitzerfrei, die Inszenierung arbeitete großartig mit der riesigen Bühne, auch das Orchester war zu sehen. Und es gab artistische Einlagen inklusive Trapez – das hatte ich zuletzt vor 30 Jahren live gesehen. Zudem bekam ich ganz viele lange Beine: Ich lernte, dass “die Reihe” mit allen Tänzerinnen, die untergehakt ihre Beine hochwerfen, ein fester Bestandteil jeder Revue ist.

4. After-show-Drinks mit Frauen aus dem Internet

Schon in der Pause waren wir auf zwei Bloggerinnen der ersten Stunde gestoßen, Frau Indica und Creezy, die sich nach Absprache mit uns spontan um Karten für die Show bemüht hatten. Mit ihnen zogen wir in Café Nö, wo eine befreundete Maskenbildnerin der Show zu uns stieß, die ich seit Jahren von Twitter kenne (aber nicht gewusst hatte, dass sie dort arbeitet). Sie versorgte uns mit vielen spannenden Hintergrundinfos zur Inszenierung, ich erfuhr unter anderem, dass während der Show zehn Maskenbildnder*innen im Einsatz sind und dass der ständige Kostümwechsel genau so viel exakte Planung und Orga erfordert, wie ich mir das so vorgestellt hatte.

Dazu gab es Wein (bei mir zu viel – es war eine dumme Idee nachzubestellen), die Herrschaften um mich stillten ihren Hunger. Ein wenig Update mit den vertrauten Bloggerinnen.

Nach Mitternacht (!) nahmen Herr Kaltmamsell und ich eine U-Bahn von der Mohrenstraße zurück zum Hotel.

§

Sie erinnern sich, wie am Anfang der Pandemie nach und nach Probleme mit den globalen Lieferketten auftauchten? Sie sind immer noch da. Die New York Times schildert, wie viele Bereiche weit entfernt von vorherigen Zuständen sind, unter anderem das britische Gesundheitssystem, das bestimmte Bluttests nicht durchführen kann, weil Teile dafür fehlen.
“The World Is Still Short of Everything. Get Used to It.”

Ich finde durchaus interessant, wie jetzt die so umjubelte lean production mit Just-in-time-Lieferung der benötigten Teile zurückschlägt, die Lagerkosten und -raum sparen sollte – und das Risiko auf die Zulieferer schieben (ich habe seinerzeit detailliert mitverfolgt, wie José Ignacio López de Arriortúa dieses System bei Volkswagen einführte).

§

Ausdruckstanz am Limit.

via @Klugscheisser

die Kaltmamsell

Lieblingstweets August 2021

Dienstag, 31. August 2021 um 17:56

Urlaub hin oder her – ich freue mich ja auch, wenn ich die später hinterherlesen kann.

die Kaltmamsell