Mein Hamburger Kiez: Ludwigsvorstadt-Kliniken in München
Mittwoch, 21. November 2012Maximilian Buddenbohm (früher Merlix) hat angefangen, indem er versuchte zu erklären, warum er nirgendwo wohnen möchte als in seinem Hamburger Kiez. Dann lud er dazu ein, andere Hamburger mögen ihre Wohnviertel beschreiben. Die Grenzen Hamburgs wurden immer großzügiger ausgelegt, bis Helga Birnstiel kurzerhand München Hamburg zuschlug und über ihren Kiez Neuhausen schrieb. Zwar kann ich mir durchaus vorstellen, in anderen Teilen Hamburgs zu leben. Aber in meinem Eck der Münchner Ludwigsvorstadt wohne ich schon sehr gerne.
Viertel ohne Image
Ich glaube, der Bezirksteil 7 Ludwigsvorstadt-Kliniken des Stadtbezirks Ludwigsvorstadt-Isarvorstadt hat in München gar kein Image. Zumindest habe ich noch nie jemanden in welcher Weise auch immer über das Viertel sprechen hören. Halt! Einmal doch: Bei der Wahl im März 2008 nannte eine ortsfremde Wahlhelferin die Gegend ein Glasscherbenviertel („des Glasscheamviertl do“), in dem sie lieber nicht allein herumlaufe. Da war ich dann doch sehr stolz auf uns hier. Zumal der Park zwischen Lindwurmstraße und Nußbaumstraße schon auch mal von Lokalzeitungen zum gefährlichen „Hot Spot“ erklärt wird und darin regelmäßig Polizisten und Polizeiautos patroullieren. (In die Schlagzeilen kam der Park allerdings durch eine Amokprügelei externer Besucher vor drei Jahren.)
Wenn mich jemand fragt, wo in München ich wohne, sage ich also nicht „Ludwigsvorstadt“, das ist zu wenig bekannt. Isarvorstadt können die Leute einordnen, das Glockenbachviertel eh. Die Ludwigsvorstadt liegt genau im toten Winkel dazu zwischen Sendlinger Tor und Bahnhof. Meist sage ich, dass ich am Sendlinger Tor wohne.
Meine emotionalen, subjektiven Ausmaße des Viertels, in dem ich zu Hause bin: Die Straßenblöcke zwischen Lindwurmstraße, Goethestraße, Bayerstraße und Sonnentraße. Richtig gewohnt wird hier eigentlich nicht, vielleicht hat deswegen die Gegend kein richtiges Profil. Und wenn überhaupt luxussaniert wird, entstehen keine Wohnungen, sondern Hotels und Pensionen, der Nähe zum Bahnhof geschuldet.
Münchens Klein-Istanbul
Bild aus dem Jahr 2005, das Hotel Goethe sieht aber immer noch so aus.
Es ist hier sehr lebendig, und zwar auf eine in München einmalige Art und Weise: Ausgerechnet die Goethestraße ist nämlich Münchens Klein-Istanbul (west-östlicher Diwan, anyone?). Zwischen Bahnhof und Beethovenplatz reihen sich Süpermarket an Import-Export und wieder an Süpermarket, im Süden wird diese Einkaufsmeile abgeschlossen von der Bäckerei Sultan Backparadies (besonders empfehlenswert sind das Urfa Pide und Baklava) und von einem großen Geschäft für türkische Braut- und Festmode. Vor allem am Samstag wuselt es hier von Menschen, die nach Türkei aussehen, nach Nah-Ost, nach Balkan. Verkehrssprache ist Deutsch…isch. Und da die Goethestraße in diesem Bereich eher schmal ist, in beide Richtungen von Autos befahren wird, da die Gehsteige zwar überdurchschnittlich breit sind, aber zur Hälfte von Gemüse- und Obstkisten belegt, ist am Samstag zwischen 11 und 19 Uhr kein Durchkommen. Auch nicht in und an den Süpermarkets, denn ein ausführlicher Einkauf von unübersehbar riesigen Mengen TomatenPaprikaGurkenPetersilieLammkeulePideJoghurtRotbarbe wird nur mit einem ausführlichen Schwatz perfekt. Mittendrin knien und hocken auf dem Gehsteig rumänische Bettlerinnen und wimmern: „Entschuuuuldigung … Entschuuuuuuldigung … Biiiitte … Biiiiitte …“
Ich wunderte mich lange, warum ausgerechnet hier Münchens Klein-Asiens blüht, wo doch die Kundschaft ganz sicher nicht hier wohnt. Bis ich las, dass das Viertel mindestens zehn Moscheen unterschiedlichster muslimischer Glaubensrichtungen beheimatet, in Hinterhöfen und Obergeschoßen. So skeptisch ich gegenüber Religiosität bin, mag ich es doch sehr, inmitten von Protestantismus (St. Matthäus), Judentum (Synagoge am Jakobsplatz) und Islam zu leben. Eine wirklich sichtbare Moschee fände ich noch schöner.
Medizintourismus
Das orientalische Element zieht sich bis hinauf in die Pettenkofer, die Nußbaum- und die Ziemssenstraße: In meinem Viertel liegen zahlreiche Kliniken und Institute der medizinischen Fakultät der Münchner Uni. Und im Sommer flanieren hier deshalb die Angehörigen der Medizintouristen aus der arabischen Welt, in weißen Kleidern und mit MBT-Schuhen die Herren, in bodenlangem Schwarz von Kopf bis Fuß die Damen. Ganzjährig hasten Weiß- und Grünkittel über die Straßen, sehe ich Pulks von Medizinstudentinnen auf dem Weg zum Seminar, werde ich von Passanten nach dem Weg gefragt: „Können Sie mir sagen, wo hier das Krankenhaus ist?“ (Ich reagiere je nach Laune sachlich: „Welches genau?“ oder albern: Ausladende Armbewegung und „Suchen Sie sich eins aus!“)
Diese Innenstadtkliniken sorgen für ein etwas seltsames Straßenbild. An meiner Haustür ziehen immer wieder Raucher in Bademantel und Hausschuhen vorbei, ihren Infusionsständer vor sich her rollend. Und einige ambulante Patienten der Psychiatrischen Klinik sind mir inzwischen so vertraut, dass ich bei Begegnungen ahne, wie es ihnen gerade geht: Der junge, aufgeschwemmte Mann, der immer ein Handtuch über der Schulter trägt (es hat ihn wohl immer noch kein Raumschiff mitgenommen) sah vorgestern gar nicht gut aus und trug nur einen Schuh. Im Frühjahr war er einmal so munter gewesen, dass er fast entgegenkommenden Passanten ins Gesicht gesehen hätte.
Nicht missen möchte ich die täglichen Treffen der Johanniter-Krankenwagen an der Kreuzung Nußbaum-/Ziemssenstraße (bis zu acht gezählten): Sie behindern zwar den Radverkehr, geben aber immer ein kuschliges Rudelbild ab.
Matthäus und Motetten
Zu meinem Viertel gehört auch die frei stehende Kirche St. Matthäus, deren frühbetonische Architektur aus den 50ern ich sehr mag. Ich profitiere davon, dass der exzellente Münchner Motettenchor hier zuhause ist (regelmäßige Umzingelung der Kirche durch Wagen des Bayrischen Rundfunks): Im Sommer lassen die Sänger und Sängerinnen machmal beim Proben die Fenster auf, und ich kann sie bis in mein Schlafzimmer hören.
Einen sensationellen Anblick bietet die Kirche jedes Jahr im Mai: Dann treffen sich auf dem Platz davor die Evangelischen Motorradfreunde St. Matthäus München (I kid you not) zu ihrem Corso und lassen die Chromteile ihrer mächtigen Maschinen um die Wette glitzern mit den Nieten auf ihren Jeansjacken.
Versuche in Bahnhofsviertelatmosphäre
Die größte Anstrengung in Sachen Bahnhofsviertelatmosphäre unternimmt München in der Schillerstraße, wo sich Computerbastelläden mit Striplokalen und Spielkasinos abwechseln, eingestreut ein paar Dönerbuden – mehr bekommt München an Verworfenheit nicht hin. Dazu passen leider die Tagelöhner aus den neuen EU-Ländern, die an den Ecken Landwehrstraße/Goethestraße und Landwehstraße/Schillerstraße ihre Arbeitskraft anbieten.
Möglicherweise in die Kategorie Bahnhofsviertel/Vergnügungsviertel fällt die Sonnenstraße. Dass hierher zahlreiche Münchner Clubs gezogen sind, weiß ich aus der Zeitung. Aus eigenem Erleben kenne ich die hiesigen Kinos City, Atelier, Eldorado. Sie zeigen Arthouse-Filme, ein paar davon unsynchronisiert, und das City-Kino gehört zu den dreien (?) in München mit handgemalter Kinoplakatfront.
Gleichzeitig ist die Sonnenstraße das Münchner Tanzschulzentrum: Mindestens ein halbes Dutzend hat sich hier angesiedelt – ob das am nahe gelegenen Deutschen Theater (mit eigener Tanzschule, derzeit in Komplettrenovierung) liegt? Ebenfalls definitorisch für die Sonnenstraße: Regelmäßige Sperrungen wegen Trachtenumzügen/Stadtläufen/Demonstrationen.
Anonymität mitten im Menschenstrom
Nein, ich kenne niemanden persönlich, auch wenn ich seit 13 Jahren hier lebe. Zwar hätte ich einen Blumenladen um die Ecke, doch der Besitzer ist mir nach ein paar fremdenfeindlichen Bemerkungen so unsympathisch, dass ich nicht bei ihm einkaufen möchte. Am nächsten kam ich noch dem Besitzer des Zeitschriftenladens, bei dem ich oft meine Zigarretten holte, als ich noch rauchte. Was ich seit zehn Jahren nicht mehr tue. Der winzige Buchladen daneben hat schon vor vielen Jahren dicht gemacht und wurde durch einen gesichtslosen Backshop ersetzt. Und für das Sortiment der putzigen Läden in der Landwehrstraße (u.a. Foto-Equipment, Lampenschirme) habe ich keinen Bedarf.
Weil man hier eigentlich nicht wohnt, gibt es auch keinen typischen Bewohner. Das Fehlen einer Gruppe, zu der ich gehören oder von der ich mich abgrenzen wollen könnte, entspannt mich ungemein. Wie ja überhaupt die Anonymität inmitten von Menschen. Die Einkaufsmöglichkeiten sind auch abseits von Klein-Istanbul hervorragend, der zentralen Innenstadtlage als Shopping-Gegend geschuldet (Kaufhäuser, Geschirr- und Bekleidungsgeschäfte). An der Sonnenstraße gibt es sogar eine richtige Post, am Stachus einen Tengelmann, in der Erdbeer-Saison gehe ich zum wechselnden Obststand am Sendlinger Tor. Am dortigen Blumenstandl kaufe ich auch meine Blumen ein. Was mir zusammen mit dem Bahnhof und der MVG-Drehscheibe Sendlinger Tor den größten Luxus überhaupt ermöglicht: Ich brauche kein Auto. Nie.
Gute Restaurants? Gibt es in meinem eigentlichen Viertel nicht so richtig, das vegane Max Pett noch am ehesten. Ansonsten schwärme ich zum Essen oder für ein Stündchen im Café in angrenzende Straßen aus, die ich innerlich nicht völlig zu meinem Zuhause-Viertel zähle: Thalkirchnerstraße und angrenzendes Glockenbachviertel (z.B. Aroma, Rothmund), Jakobsplatz (Stadtcafé), Hackenviertel (Lemar).
§
Doch, ich lebe sehr gern hier, in dieser Mischung aus viel Grün, Internationalität, touristischer Innenstadt und Historischem (die zwei verhassten Wochen Ende September, Anfang Oktober mal ausgenommen). Vielen Dank an Maximilian und Helga für den Anlass zu dieser Erkenntnis!