Angestoßen hat das Erinnern an mein Gastgeben der Roman Kochen im falschen Jahrhundert von Teresa Präauer. Darin hat ein Hetero-Paar jenseits der 40 in einer österreichischen Großstadt zum ersten Mal Gäste zum Abendessen. Das wird in mehreren Versionen erzählt, in einer Mischung von personalem und auktorialem Erzähler, mit unterschiedlicher zeitlicher Abfolge. Immer wieder fragt diese Erzählstimme “Erinnerst du dich daran” – und das mag mein Erinnern ausgelöst haben.
Die Gäste des Romans bleiben in allen Versionen gleich, das sind immer ein Ehepaar mit recht frischem Baby und ein Schweizer Freund. Es wird schnell klar: Das soll keine realistische Schilderung sein, sondern ein Sittengemälde mit bestimmten gesellschaftlichen Typen (es gibt keine einzige wirklich charakterisierte Figur, sie haben nicht einmal Namen). Das allerdings in meinen Augen nur offene Türen einrennt, die Instagramisierung des Lebens samt Hashtags, zeitgenössische Distinktion mit Statussymbolen und Markennamen etc. etc. (Warum sich die Gastgeberin “im falschen Jahrhundert” dabei fühlt, wurde mir allerdings nicht klar, dazu hätte sie eine Persönlichkeit gebraucht.) Daniela Strigl nennt den Roman in der FAZ “ein Stück Popliteratur und dessen satirische Verfremdung”, damit trifft sie am ehesten.
Doch selbst für Freude an der Satire muss ich die Prämissen nachvollziehen können, muss ich einen Bezug zum Satirisierten haben. Der fehlt mir in diesem Fall völlig, ich kenne die Umstände, die verzerrt werden, nur aus zweiter Hand, nämlich aus der Fiktion und aus Feuilleton-Essays darüber. Möglicherweise erklärt sich eine Minderheit, die zufällig besonders häufig Was Mit Medien arbeitet, für repräsentativ – und ist es in Wirklichkeit gar nicht?
Das beginnt mit dem Umstand, dass jemand jenseits der 40 zum ersten Mal Abendessensgäste hat, das erwähnte ich bereits. Oder die Haltung: Den guten Crémant trinkt das einladende Paar voher selbst, die Gäste bekommen den aus dem Supermarkt.
Auf die Gefahr, kitschig zu klingen (ich gehöre zu den von Max Scharnigg geschmähten Münchner Hausmeisterinnen, unten im Text): Ich kenne das halt anders herum. Wenn man etwas besonders Gutes hat, lädt man sich dazu Gäste ein, eine besonders edle Flasche oder aus dem Urlaub mitgebrachte, ferne Spezialitäten lässt man Freunde mitkosten. So kenne ich es von daheim, so kennt es Herr Kaltmamsell.
Hier also mein Gastgeben – das sich sicher ebenso satirisieren lässt, nur kommen darin keine für den Pop-Roman so essenziellen Markennamen vor.
Zum Attrakivsten an der eigenen Wohnung gehörte bei meinem Auszug aus dem Elternhaus mit 19 Jahren: Leute einladen zu können.
Unter anderem lud ich schon als Volontärin die drei Kolleg*innen und den Chef der Lokalredaktion in die mitbenutzte Wohnküche meine Dachkämmerchens in Eichstätt ein. Ich kochte zum ersten Mal selbst spanischen Cocido und erinnere mich vage an ein furchtbares Gemetzel mit dem gekochten Huhn, da ich a) noch keine Geflügelschere besaß und b) sehr wahrscheinlich noch nie Geflügel zerteilt hatte.
Es kamen ja alle auf meine Einladung – wie hätte ich denn herausfinden sollen, dass daran irgendwas nicht angemessen war? Wie überhaupt praktisch immer fast alle kamen, die ich einlud. Rückblickend wird mir klar, wie unkonventionell so manche meiner Einladungen gewesen sein muss. Doch dann geriet ich mit 25 Jahren auch noch an einen Partner (den heutigen Herrn Kaltmamsell), der mich darin unterstützte und eine ähnliche Auffassung vom Gastgeben hat. Auch lernte ich sehr spät, dass es unter Erwachsenen wohl eine Gesamtrechnung an Einladung und Gegen-Einladung gab, die zumindest mittelfristig ausgeglichen sein musste, sonst schlechtes Benehmen. Ich wäre nie auf die Idee gekommen, dass meine Gäste von einer Verpflichtung zur Gegeneinladung ausgehen könnten. (Dass ich auch in vieler anderer Hinsicht überhaupt kein Gespür für Menschliches habe, wurde mir erst Jahrzehnte später klar.)
Selbst rückblickend irrelevant waren solche Mechanismen zu Studienzeiten: Ich lud immer wieder Freunde und Freundinnen zu mir zum Essen ein – bei welcher Gelegenheit hätte ich sonst spannende neue Rezepte ausprobieren sollen? Oder mich mal an einen ganzen großen frischen Fisch wagen? (Den man mir am Augsburger Stadtmarkt ungeschuppt verkauft hatte, was ich erst nach dem Garen merkte, es war ein sehr fieseliges und anstrengendes Essen.)
Dazu kamen ausgedehnte und reichhaltige Frühstücke, Essenkochen für und mit Übernachtungsbesuch, Partys. Ich lehnte jedes Angebot ab, Speisen beizusteuern – war das doch wieder eine Gelegenheit, ganz Vieles auszuprobieren oder thematische Buffets zu gestalten, ich erinnere mich an ein rotes Buffet zum Roten Fest und an eines, für das ich ein neu erworbenes israelisches Kochbuch durchkochte. Zu anderer Leut’ Partys brachte ich aber gerne etwas mit, wenn gewünscht.
Und zwischendurch zum Geburtstag open house, das ich einmal wegen akuten Geldmangels mit großen Mengen frisch gekochter Maiskolben bestritt – es wurden alle satt. Wie ich ohnehin seit Auszug von Elterns meine Vorratshaltung in erster Linie daran bemaß, dass ich vier Überraschungsgäste damit satt bekam. Inklusive Wein und Saft.
Meine wilde Studienzeit (war überhaupt nicht wild und) fand nicht in Kneipen und Discos statt (oder hießen die schon damals Clubs?), sondern in den Wohnungen meiner Freundinnen und Freunde. Von Frank lernte ich die westerwälder Küche seiner Großmutter, Gisi konnte besonders gut Fleischgerichte und servierte köstliches Boeuf Bourguignon und Chili con carne (Fleisch in winzigen Stücken, mit Schokolade abgeschmeckt), bei Lisa (Eltern mit Gemüsegarten) aß ich meine erste Kürbissuppe und stellte fest, dass ich Rhabarber wirklich, wirklich scheußlich finde, bei Max machte ich erste Bekanntschaft mit Fenchel, Andrea brachte mir nach ihrem Thailand-Urlaub Tom Kha Gai bei, in Annes Lindenstraßen-WG wurde Besuch immer herzlich mitverköstigt (u.a. mit Sahne-Chicoree mit Kartoffeln). So sah meine kulinarische Bildung vor Einstieg ins Berufsleben aus. Wir trafen uns natürlich nicht nur zum Essen, sondern auch zum Filmschauen, Spielespielen – oder einfach so. Unter anderem, weil wir alle wenig Geld hatten und Ausgehen teuer war.
Ich bekam schon mit, dass manche nie zu sich einluden, doch ich ging davon aus, dass das denen halt nicht so viel Spaß machte wie mir oder sie nicht autark genug wohnten.
Zuletzt lebte ich solch einen großen und wohl unkonventionellen Einladungs-Impuls aus, als ich 2007 einen Job in der Zentrale eines Dax-Unternehmens antrat und mich dort sofort sehr wohl fühlte: Ich lud alle ca. 20 Kolleginnen und Kollegen der Abteilung samt Chef zu mir zum Essen ein, stückelte einen großen Esstisch zusammen, lieh mir bei Nachbarn Stühle aus, es gab mit großer Unterstützung von Herrn Kaltmamsell Spanisches in mehreren Gängen, über Tage vorbereitet.
Was ich bei aller Blindheit für Menschliches nur wenig zu spät bemerkte: Manche Gäste fühlten sich durch den Aufwand eingeschüchtert, in den ich mich gerne für Einladungen warf – nach Eintritt in die freie Wirtschaft gesteigert durch neue finanzielle Freiräume. Mangels Talent versuchte ich mich zwar nie an Tisch-Deko, doch anständig gedeckt war die Tafel bei mir auch zu Studienzeiten (frische und gleiche Teller für jeden Gang, passendes Besteck, passende Gläser, Servietten), und besonders elaborierte Speisenfolgen schrieb ich schon auch mal auf Karten für den Tisch. Um dann einmal besonders deutlich zu merken, wie zwei erstmalige Gäste völlig verschüchtert und steif auf ihren Stühlen saßen. Großen Aufwand gibt es seither nur für vertrautere Gäste und mit deren vorherigem Einverständnis.
Aber spätestens seit der Lektüre von Kochen im falschen Jahrhundert bin ich auf der Hut: Vielleicht ist, was ich für Gastfreundschaft hielt, ja doch nur Habitus und Distinktion und ich vergesse lediglich, die Hersteller von Geschirr und Tischwäsche zu nennen.
Illustrierende Fotos habe ich in meinen Alben nur zwei gefunden. Damals wurde halt fast nie fotografiert – ich kann das nicht besser finden als den heutigen Foto-Schatz, der mir zu praktisch jeder Erinnerung zur Verfügung steht, aus mir wird nie eine Feuilletonistin.
Das Album vermerkt lediglich:
“November ’92
Essen bei mir”
Das im Vordergrund bin ich, das um mich herum ist meine geliebte Wohnung am Augsburger Elias-Holl-Platz, im Hintergrund das Fenster zur Küche, die wohl einst eine Räucherkammer war.
Israelisches Buffet zu meiner riesigen Geburtstagsfeier 1995, für die ich eine Schnitzeljagd durch Augsburg organisiert hatte. Das Foto ist praktisch der Gegenschuss zum vorherigen, es zeigt eben diese Küche. (Und ich bin sehr froh darüber, erinnere mich dadurch an viele längst vergessene Ausstattungsdetails und Werkzeuge.)