Weiterhin tapfer ohne Ohropax geschlafen, das geht eigentlich ganz gut – allerdings schließe ich in den frühesten Morgenstunden beim Klogang das Fenster, um nicht von Vogel- oder Straßenreinigungslärm geweckt zu werden.
Es tagte eher trübe, auf meinem Weg in die Arbeit bekam ich vereinzelte Regentropfen ab. Und ich begegnete in dieser Dämmerung einem hochgewachsenen, als Punk gekleideten Mann wie aus dem Bilderbuch: Riesiger, perfekt coiffierter Irokesenschnitt in zwei Farben, Bomberjacke, schwarze Schnürstiefel bis fast hoch zum Knie, schwarze Hose reingesteckt, über dem Po hingen Hosenträger, das alles mit schlurfendem Gang und Bierflasche in der Hand. So viel Mühe würde sich doch niemand für Fasching machen?
Vormittags wechselnd trüber Himmel, mittags fand ich Zeit für einen Cappuccino im Westend. Mittagessen am Schreibtisch: Quark mit Joghurt, Apfel, Mandarinen.
Der Nachmittag blieb draußen trübe, aber trocken und sehr mild. Ich konnte einige Dinge erledigen.
Auf dem Heimweg nach pünktlichem Feierabend Wochenendeinkäufe beim Vollcorner, weil ich dort keine Petersilie fürs Abendessen bekam, ging ich auch beim Süpermarket Verdi vorbei (und erfuhr, in welchem Lokal meine vertrauteste dort Angestellte Geburtstage feiert).
Daheim eine Runde Yoga-Gymnastik, nach der heftigen Hüftdehnung der Folge 20 aus Adrienes Flow gab es diesmal wieder Bewegung.
Die Zubereitung des Abendessens übernahm ich: Ich hatte Miesmuscheln vorgeschlagen, die Herr Kaltmamsell besonders gern isst. Er hatte sich für das Rezept aus meiner Familientradition entschieden, also mit Knoblauch, Petersilie, Tomate, von meiner Mutter hatte ich mir bei einem Telefonat am Nachmittag noch den Tipp abgeholt, die Dosentomatenstücke erst am Ende dazuzugeben, sonst würde das Muschelfleisch gerne mal zäh. Die Muscheln selbst hatte Herr Kaltmamsell besorgt; sie waren sehr klein, aber bereits so sauber geputzt, dass ich fast nichts zu tun hatte.
Davor gab’s Martini-Cocktails zu reichlich Nüsschen aus der Landwehrstraße, zu den Muscheln Baguette und baskischen Weißwein Txakoli. Danach Schokolade.
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Ewald Arenz, Der große Sommer ausgelesen – und zwar recht überraschend: Das E-Book aus der Stadtbibliothek war bei 82 Prozent plötzlich aus. Der Rest, so stellte sich heraus, bestand aus Werbung und Leseproben. Für meinen Leseprozess ist sowas verheerend: Wenn ich noch 20 Prozent Papier auf der rechten Seite des aufgeklappten Buchs sehe oder eben noch vor mir auf dem Lesegerät zu haben glaube, schätze ich die Handlung entsprechend ein: Da kommt noch was, eine Auflösung, eine Episode, vielleicht taucht eine Figur nochmal auf. Ich grolle dem Verlag.
Insgesamt fand ich den Roman eher mittel. Der große Sommer des Titels wird aus der Ich-Perspektive des jugendlichen Friedrich erzählt, der in der geschätzten ersten Hälfte der 1980er im Gymnasium sitzengeblieben ist (wohl in der 10. Klasse, denn in der 11. wäre es damals bereits um Leistungskurswahl gegangen). Deshalb fährt er nicht mit seiner Familie in den Sommerurlaub, sondern verbringt ein paar Wochen bei seinen Großeltern, um sich auf die Nachprüfung vorzubereiten.
Der Roman erzählt das in einer Collage aus ganz besonderen Einzelszenen, die sich aber in meinen Augen nicht recht zu einem Ganzen verbinden: Große Liebesgefühle, das Entdecken des Vorlebens der Großeltern (das in den 1980ern noch von Krieg und Nachkriegszeit geprägt ist), ein Erlebnis im Tigerkäfig des Zoos, außer Kontrolle geratener Schabernack mit einem Bagger. Auch nervte mich das (meiner Ansicht nach unnötige) regelmäßige foreshadowing: “Das war der Tag, an dem sich alles ändern würde” etc. Da traute Arenz seiner eigenen Erzählkunst nicht.
Aber ich mochte auch einiges: Die Schilderungen erinnerten mich sehr realistisch ans Jungsein, an die Zeit, in der ich Flügel bekam und ein eigenes Leben mit eigenen Plänen begann. Mich irgendwo mit Freundinnen und Freunden traf, alles daran spannend und neu war, nichts schonmal gemacht und gesehen mit anderen. Das konnte ein Treffen am eigentlich vertrauten Baggersee sein, aber halt ohne Eltern, selbst eine Verabredung zum Stadtfest am Nachmittag, aber eben ohne Eltern. Nichts daran war noch selbstverständlich.
Und auch hier mochte ich wie schon in seinem Alte Sorten, wie Arenz zwischenmenschliche Kommunikation beschreibt und schreibt. Anders als in Fernsehserien-Drehbüchern wird nämlich in der Realität fast nie etwas direkt ausgesprochen oder gefragt. Das meiste sind Annahmen, Vermutungen im eigenen Kopf – und auch das beschreibt Arenz gut im Kopf seines Protagonisten. (Ich habe ja aus der Evolutionsforschung gelernt, dass der ständige Energieaufwand, das Innenleben anderer Menschen zu entschlüsseln, kein Hindernis für Fortschritt ist, sondern sehr wahrscheinlich der Erfolgsfaktor der menschlichen Art.) In einem Roman kann man auch realistisch schildern, dass man Leuten eben meist nicht ansieht, was in ihnen vorgeht (im Film muss man Inneres auch äußerlich zeigen). Auf Unerwartetes reagiert kaum jemand groß und sichtbar.
Der dritte Pluspunkt: Das offene Ende. Es wird ein Spannungsbogen aufgebaut, indem hin und wieder der Ich-Erzähler in kursiv gesetzten Abschnitten und offensichtlich in einer Gegenwart Jahrzehnte nach der Haupthandlung auf dem Friedhof nach einem Grab sucht, das durchaus auch in der Haupthandlung auftaucht: Was genau hat es damit auf sich?
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Sandra Bosetti sagt mal wieder kluge Sachen, diesmal zu den Demos gegen rechts:
“Die eigentliche Forderung einer Demo für die Demokratie ist also: Lasst uns vernünftig streiten.”