Mary Beard, SPQR. A History of Ancient Rome

Sonntag, 3. Januar 2016 um 18:03

160103_07_SPQR

Das Jahr fing gleich mal mit einem Lektüre-Highlight an. Mit 61 Jahren ist Mary Beard, Professorin für Altphilologie an der Universität Cambridge, wahrscheinlich auf dem Höhepunkt ihres Forscherinnenlebens (während Naturwissenschaftlerinnen und Naturwissenschaftler statistisch eher vor dem 35. Lebensjahr zu nobelpreisverdächtigen Forschungsergebnissen kommen, werden Geisteswissenschaftlerinnen tendenziell über ihr Forschungsleben hinweg immer besser). Schöpfend aus einem ungeheuren Wissensfundus hat Beard jetzt ein Buch über die ersten tausend Jahre des römischen Reichs geschrieben.1

Den Endpunkt des Römischen Reiches, über das sie schreibt, setzt sie, als Caracalla alle Bewohner römischen Territoriums zu römischen Bürgern machte. Danach, so führt sie am Ende kurz aus, war alles anders.

Mary Beard benennt und hinterfragt die Bilder, die wir vom Römischen Reich im Kopf haben – ich fühlte mich so treffend bei meinem wischiwaschi Viertelbildungshintergrund abgeholt, als hätte Beard das Buch genau für mich geschrieben. Inklusive den paar Brocken Latein, die mir noch geblieben sind: Selten, aber doch zitiert sie lateinisch.

Beard beginnt bei Ciceros bekannter Rede im Senat gegen Catilina: Zum einen um sie uns gleich wieder wegzunehmen, denn die Motive und Hintergründe, die man mir seinerzeit in der Schule beigebracht hat, sind anscheinend genauso wenig haltbar wie die berühmten Gemälde der Szene. Beard bietet erheblich wahrscheinlichere Erklärungen. Zum anderen gibt es bis Augustinus nun mal niemanden in der Geschichte, von dem wir so viel wissen wie über Cicero, vor allem anhand seiner eigenen Schriften (Briefe, niedergeschriebene Reden, Bücher) sowie anhand von Schriftzeugnissen über ihn. Cicero ist dann auch der rote Faden, auf den sie sich immer wieder bezieht, angefangen vom Gründungsmythos Roms und wie Cicero ihn verwendet.

Zum Beispiel wissen wir aus seinen Aufzeichnungen auch, wie viel Cicero für sein Haus am Palatin gezahlt hat. Hier weist Beard aber auf die praktische Lücke hin, die weder sie noch andere Forscherinnen bislang füllen konnten: Wie funktionierte ganz konkret der Zahlungsvorgang?
So wie hier kommt sie immer wieder von gesicherten Erkenntnissen zu blankem Unwissen oder zu einer sehr wackligen Faktenlage und wieder zurück.

Stringent und lesefreundlich strukturiert, hinterfragt Beard praktisch alles, was wir aus populären Darstellungen über das römische Imperium zu wissen glauben – selbst wenn diese auf römischen Quellen basieren. Zum Beispiel die bunten Luxus- und Grausamkeitsgeschichten über die Kaiser, die fast alle nach deren Ermordung aufgeschrieben wurden: Mary Beard untersucht, ob da vielleicht jemand nachvollziehbare Vorteile hatte, wenn er sie so schilderte und nicht anders. Manche besonders saftige Details entlarvt sie als schlichte Fehlübersetzungen.

Immer wieder thematisiert sie die Bevölkerungsschichten, über die es keine zeitgenössischen schriftlichen Quellen gibt: die 99 Prozent einfache Leute. Hier greift sie auf Erkenntnisse aus archäologischen Funden zurück, für die frühe Kaiserzeit vor allem aus Pompeii und Herculaneum. Dazu kommen als Quellen ab dieser Zeit auch Grabinschriften, die oft das Leben der Verstorbenen skizzieren. So diskutiert Beard den Alltag von Kindern oder geht Hinweisen nach, von welcher Durchschnittsbildung der römischen Bevölkerung wir ausgehen können.

Das Buch profitiert enorm davon, dass Beard auf Jahrzehnte eigener Forschung zurückgreifen kann: Über Pompeii hat sie ein eigenes Buch geschrieben, ihre jüngste wissenschaftliche Veröffentlichung behandelt Komik in der Antike – so zitiert sie auch in SPQR an passender Stelle einige ziemlich gute Witze. Beard schlägt immer wieder den Bogen von großer Politk (unter anderem die sehr unordentliche Thronfolge in der Kaiserzeit) zu lebenswichtigen Alltagsfragen (wie funktionierte die Landwirtschaft?).

Natürlich enthält das Buch auch viele, viele Abschnitte, von denen ich noch nie etwas gehört hatte (oder im Schulunterricht verschnarcht), zum Beispiel über den Social War, also den Bundesgenossenkrieg im 1. Jahrhundert v.d.Z. (Mary Beard verwendet die religionsneutralen Abkürzungen BCE und CE): Hier geht Beard der offensichtlich immer noch ungeklärten Frage nach, was die Aufständischen eigentlich wollten.

An anderer Stelle erklärt sie für mich erstmals nachvollziehbar, warum das Christentum für das römische Reich etwas wirklich Neues und Bedrohliches war (auch über die Rolle von Religion in der Antike gibt es einige Veröffentlichungen von ihr).

Auf Fußnoten verzichtet Beard, daher konnte ich das Buch schnell weglesen (ich tendiere nämlich dazu, Fußnoten nachzulesen). Sie nennt im Text durchaus Quellen, aber nicht für alle indirekten Zitate oder für alle Thesen, die sie abwägt. Auch das ermöglicht flüssigeres Lesen, weil nicht schon wieder ein Name auftaucht. Genauere Quellenangaben (allerdings nicht bis runter auf die Seitenzahl) finden sich im Kapitel “Further Reading”: Dort nennt sie durchaus auch Werke, die ihren Schlussfolgerungen widersprechen oder die alternative Interpretationen anbieten.

Rund wird SPQR durch zahlreiche Illustrationen, der Anhang liefert eine ausführliche Zeittafel und einen Index.

Eine ganz große Leseempfehlung. Wäre ein klasse Weihnachtsgeschenk gewesen.

  1. In den Acknowledgements schreibt Beard dann auch: “SPQR is the work of about fifty years.” []
die Kaltmamsell

Journal Donnerstag/Freitag, 31. Dezember 2015/1. Januar 2016 – Nizzasilvester

Samstag, 2. Januar 2016 um 7:31

Dass ich Silvester in Nizza verbrachte, war Zufall: Das ist halt Ende Dezember. Nachdem aber bereits Nicht-Silvester-Nächte in der Altstadt ein rechter Remmidemmi ist, war ich auf Eskalation gefasst: Für viele Menschen ist der Kalenderwechsel mit starken Emotionen verbunden, gerne auch mit aushäusigem Feiern.

Vormittags ging ich mit Herrn Kaltmamsell auf den kleinen Fischmarkt (an diesem Tag wurde nur an drei Ständen verkauft), wir holten Tintenfisch fürs Abendbrot. Ohne Backofen ist meine kulinarische Kreativität eher eingeschränkt. Während mein Reisebegleiter die restlichen Einkäufe für den Abend erledigte, ging ich bei trübem Himmel Laufen an der Promenade des Anglais.

Den Rest des Tages verbrachte ich hauptsächlich mit dem Lesen von Mary Beards dickem SPQR, weiter gebannt und begeistert. Nach draußen zog es mich nicht nochmal. Ich verbloggte meine Bücher 2015, nahm mir mal wieder vor, im nächsten Jahr nun aber wirklich immer sofort Notizen zu ausgelesenen Büchern zu machen, um nicht wieder am Jahresende vor einem Haufen Arbeit zu stehen.

Der Pulpo wurde gekocht und angerichtet, während mich auf Twitter Meldungen über Terroralarm in München erreichten. Oh je – werden wird uns an solche Situationen gewöhnen müssen?

151231_02_Silvesteressen

151231_03_Silvesteressen

Herr Kaltmamsell hatte einen lokalen Wein gefunden: Appellation Bellet kommt aus Nizza. Er hatte auch recherchiert, dass die angegebene Traubensorte Rolle die örtliche Variante des Vermentino ist. Danach schmeckte der Wein nun gar nicht, er stellte sich als rechter Holzbomber mit wenig Säure heraus: Mein Begleiter mochte ihn sehr, mir sind derzeit andere Weißweine lieber.

Ins Bett gingen wir wie sonst halt auch im Urlaub, so nach elf. Unglaublicher Lärm draußen, auch ohne Böller: Wo es sich in den Nächten davor einfach nach Party angehört hatte, war ich jetzt sehr an Fußballfans in der Münchner Fußgängerzone erinnert – Brüllen, Johlen, Gröhlgesänge, Hauptsach’ d’Luft scheppert. Mit geschlossenen Fenstern und Ohropax ging es, ich bin ja Oktoberfest-geübt.

§

160101_01_Balkonblick

Bedeckter Abschied von Nizza. Um 10 Uhr kam unser Vermieter zur Schlüsselübergabe. Wir nahmen den Bus hinaus zum Flughafen. Ereignislose Rückreise, im Flughafen Nizza wird gerade umgebaut.

die Kaltmamsell

Twitterlieblinge Dezember 2015

Freitag, 1. Januar 2016 um 9:20

01_Tweetfav

02_Tweetfav

03_Tweetfav

04_Tweetfav

05_Tweetfav

06_Tweetfav

07_Tweetfav

08_Tweetfav

09_Tweetfav

10_Tweetfav

11_Tweetfav

12_Tweetfav

13_Tweetfav

14_Tweetfav

15_Tweetfav

16_Tweetfav

17_Tweetfav

18_Tweetfav

19_Tweetfav

20_Tweetfav

21_Tweetfav

22_Tweetfav

23_Tweetfav

24_Tweetfav

25_Tweetfav

26_Tweetfav

27_Tweetfav

Weitere Lieblingstweetlisten treu und redlich gesammelt von Anne Schüssler.

die Kaltmamsell

Bücher 2015

Donnerstag, 31. Dezember 2015 um 17:26

Mit * versehene Bücher haben mir besonders gut gefallen, ich empfehle sie. Die anderen waren ok, außer ich schimpfe explizit.

1 – Batya Gur, Mirjam Pressler (Übers.), Am Anfang war das Wort

2 – Laura Waco, Good Girl

3 – Alistair Macleod, No great mischief

4 – Cory Doctorow & Jen Wang, In Real Life*
Graphic novel um ein Schulmädchen und ihre Abenteuer als Gamerin im fiktiven Multiplayer Role Game Coarsegold. Sie ist dort Teil einer Mädchengilde, die ein eigenes soziales System bildet, und sie lernt Figuren/Spieler in China kennen, die mit dem Spiel ihren Lebensunterhalt bestreiten – allerdings durch Regelverstöße. Mir gefiel der Zeichenstil sehr, in dem die Computerspielästhetik immer wieder eine Rolle spielte, ich mochte, dass die Protagonistin ein ganz normales dickliches Mädchen ist. Unter den Gamerinnen zeichnen sich unterschiedliche Typen ab, und die Eltern der Hauptfigur spielen auch eine Rolle (ich lernte, dass es heute wohl sowas wie digitalen Stubenarrest gibt: Internetverbot).

5 – Harry Mulisch, Annelen Habers (Übers.), Das Attentat*
Mulischs Werk hat mir eine neue literarische Welt eröffnet, sowohl in Erzählstil als auch Erzählwelt.

6 – Steven Uhly, Königreich der Dämmerung*
Hätte fürchterlich daneben gehen können: Der Weg dreier Familien nach 1945, wie sie dorthin kamen, wohin sie gingen. Doch Uhly macht das großartig, wählt meist die personale Sicht von Opfern und von Tätern, hält sich mit Wertungen fast völlig zurück. Ein besonderer Roman unter anderem, weil er einen zuvor nahezu unerzählten Handlungsstrang über überlebende Juden enthält, die nach dem Horror der KZs wieder in Lagern landeten, nämlich in denen für “displaced persons”.

7 – Nicole Stich, Reisehunger*
Großartige Bilder, attraktive Rezepte – und dazwischen Geschichten über Reisen, auf denen auch mal etwas schief geht.

8 – Granta 130, India. Another Way of Seeing*
Wieder ein Granta, das meine festgefahrenen Bilder auflöste, diesmal die von Indien. Eine Welten öffnende Mischung aus Sachtexten über gesellschaftliche Umbrüche und aus Fiktion, die ich nicht bei indischen Autorinnen und Autoren erwartet hatte.

9 – Fred Vargas, Tobias Scheffel (Übers.), Im Schatten des Palazzo Farnese

10 – Doris Dörrie, Für immer und ewig

11 – Italo Svevo, Barbara Kleiner (Übers.), Ein gelungener Streich

12 – Terry Pratchett, Men at Arms

13 – Wolfgang Herrndorf, Bilder deiner großen Liebe: Ein unvollendeter Roman.

14 – Laurie Lee, Cider with Rosie

15 – James Rebanks, The Shepherd’s Life. A Tale of the Lake District*
Hier ausführlich besprochen.

(16 – Fred Vargas, Julia Schoch (Übers.), Der vierzehnte Stein)
Noch nie habe ich einer Übersetzung so misstraut wie dieser: Es kommen zahlreiche Frankokanadier in dem Roman vor, und die sprechen wohl seltsames Französisch. Aber dass Fred Vargas sie erfundene Wörter und Verbformen sprechen lässt, bezweifle ich – dafür hat Julia Schoch sich in ihrer Übersetzung entschieden. Außerdem habe ich nun wirklich genug von psychopathischen Serienmördern. Wenn, dann will ich künftig Krimis mit banalen Verbrechen, mit den Abgründen ganz normaler Menschen.

17 – Graham Greene, Brighton Rock*
Nach acht Jahren wiedergelesen, sogar noch besser gefunden als damals.

18 – Granta 131, The map is not the territory

19 – Wolfgang Herrndorf, In Plüschgewittern

20 – Horace MacCoy, They shoot horses, don’t they?

21 – Adam Thorpe, Ulverton

(22 – Henry David Thoreau, Walden)
Habe ich nicht bis zum Ende durchgehalten, zu sehr nervte mich das selbstherrliche und unreflektierte Geschwalle von Herrn Thoreau. Sagt wahrscheinlich viel über die USA aus, dass sich die Gesellschaft über dieses Buch fast schon definiert.

23 – Bov Bjerg, Auerhaus*
Hier ausführlich besprochen.

24 – Christoph Schröder, Ich pfeife!*
Für Fußball interessiere ich mich ja ganz ausgesprochen nicht, doch als geschätzten Kollegen hatte ich einen jungen Fußballschiedsrichter kennengelernt: Eine völlig neue und im Gegensatz zu Fußball höchst interessante Welt. Christoph Schröder ist Feuilletonist und seit 27 Jahren Fußballschiedsrichter. Aus seinen Erfahrungen hat er ein hochspannendes Buch gemacht.
Hier ein Auszug daraus.

25 – Vladimir Nabokov, Lolita*
Man kann ja auch mal ein Buch der Weltliteratur empfehlen. Dieses ist auf unzähligen Ebenen ein Meisterwerk. Beim Wiederlesen fiel mir vor allem die erzähltechnische Ebene auf, wie die Erzählstimme uns den Blick vernebelt, in ihre Sicht lockt – bis wir sogar bereit sind, Mitleid mit dem Mann zu haben, der sich immer wieder ganz, ganz mies fühlt und zerfressen von schlechten Gewissen über den Umstand, dass er das Leben eines Kindes zerstört hat.

26 – Granta 132, Possession

27 – E.L. Doctorow, The Book of Daniel*
Doctorow starb vergangenes Jahr – Anstoß, endlich mal etwas von ihm zu lesen. Dieser Roman von 1971 gefiel mir ausgesprochen gut. Hintergrund ist die Verurteilung und Hinrichtung des Ehepaars Rosenberg im USA der 1950er, sie heißen im Buch Lewin. Doch die Geschichte ist technisch kunstfertig aus der Sicht des Sohnes erzählt, in zwei Zeitebenen: Gegenwart der End-60er und Rückblick auf die Kindheit. Und in zwei Erzählebenen, denn diese Daniel-Stimme wechselt zwischen Ich und Er, manchmal sogar im selben Satz. Es wird viel Stimmung und Information aus den 50ern transportiert, und das Rechtssystem der USA kommt ausgesprochen schlecht weg, daneben die menschlichen Folgen der damaligen Kommunistenhatz.

28 – Patricia Cammarata, Sehr gerne, Mama, du Arschbombe*
Die Geschichten kannte ich fast alle aus Patricias Blog – das für mich bis heute kein Muttiblog ist, dafür kenne ich es schon zu lange. Ich las darin vor Jahren, wie sie in der Arbeit irgendwen im Aufzug anschwärmte (und weiß bis heute nicht, ob das der Vater ihrer Kinder ist), wie ein Partner in ihrem Blog auftauchte, der ein Kind hatte, wie sie nach langer Blogpause als Mutter wiederauftauchte und von einer schrecklichen Schwangerschaft berichtete. Schon immer liebte ich den Surrealismus der Geschichten von dasnuf (manche davon wunderbar vertont von MC Winkel, bitte klicken Sie hier), davon werden auch Patricias Kinder- und Muttergeschichten getragen.
Im Grunde bietet Sehr gerne, Mama, du Arschbombe etwas für alle: Kinderfans finden genau die Geschichten, die sie Kinder lieben lassen, auch Kindernichtfans lachen über die Geschichten und finden sich darin bestärkt, Kinder großräumig zu meiden.

30 – Ian McEwan, The Children Act

31 – Raúl Aguayo-Krauthausen, Dachdecker wollte ich eh nicht werden
Diesem eigentlich fesselnden Buch wünschte ich von Herzen ein besseres Lektorat, das sich der vielen sprachlich unbeholfenen Passagen angenommen hätte.

32 – Dana Grigorcea, Das primäre Gefühl der Schuldlosigkeit

33 – Amos Oz, Ruth Achlama (Übers.), Black Box

34 – Neil Gaiman, Coraline*
Düsterer Roman um ein Mädchen, das sich nach einem Umzug in ein altes Haus mit wirklich grusligen Erscheinungen beschäftigen muss. Ihre vorherigen Probleme werden unwichtig – unter anderem ein Vater, der immer wieder statt etwas Anständigem ein recipe kocht, das man nicht essen kann. (“Hast du etwa wieder ein recipe gekocht?” ist in unserem Haushalt stehende Wendung, seit Herr Kaltmamsell das Buch vor Jahren las.)

35 – Julie Schumacher, Dear Committee Members

36 – Jean-Yves Ferri, Didier Conrad, Der Papyrus des Cäsar*
Schönes Geschichte, schöne zeichnerische Gags, schöne Anspielungen auf heutige Kommunikation.

37 – Louise Fitzhugh, Harriet the Spy*
Hatte mir Herr Kaltmamsell schon länger empfohlen, und das zurecht. Ein Klassiker der amerikanischen Jugendliteratur, der, wie alle gute Jugendliteratur, gute Literatur ist. Harriet ist eine sehr gewöhnungsbedürftige Heldin: Sie schreibt unentwegt auf, was ihr passiert und wer ihr begegnet – das allerdings mit abschreckendem Mangel an Empathie, dafür umso kälterer Abschätzigkeit. Dafür muss sie einen Preis zahlen (so weit, so konventionell), aus dem sie aber nicht etwa das lernt, was man erwartet.

38 – Oskar Maria Graf, Das bayrische Dekameron*
Ein weiteres Highlight des Jahres: Graf sammelt anzügliche bayrische Geschichten und schreibt sie sehr original mündlich auf. So genau habe ich mein heimisches Bayerisch noch nie getroffen gesehen – ohne dass es für nicht-Muttersprachler unverständlich wäre.

39 – Jane Gardam, Old Filth*
Der Roman um einen alten britischen Juristen vor dem Hintergrund des verschwindenden Commonwealth, des britischen Klassensystems und des heutigen Großbritanniens erzählt scheinbar leichtfüßig – und doch stecken in diesem gar nicht so dicken Buch ungemein viele Geschichten, Perspektiven, Einblicke. Gardam ist eine Meisterin des significant detail: Auch ohne ausführliche Beschreibungen von Räumen und Umgebungen ist die visuelle Seite der Geschichte jederzeit detailliert und lebhaft. Die anderen beiden Bände der Trilogie will ich unbedingt lesen, schon um mehr über die Zeit in Hongkong zu erfahren und über die Ehefrau der Hauptfigur, Betty, die aus seiner Perspektive als wenig bemerkenswerte „Frau an seiner Seite“ geschildert wird, doch zu seiner großen Überraschung nach ihrem Tod einen ausführlichen Nachruf in den Zeitungen bekommt – sie scheint außerhalb seiner Wahrnehmung eine bedeutende gesellschaftliche Rolle gespielt zu haben.

40 – Granta 133, What have we done

41 – James Rebanks, The illustrated Herdwick Shepherd*
Mit demselben Humor und denselben tiefen Einblicken hat Rebanks nun auch ein Buch mit Bildern aus seinem Hirtenleben veröffentlicht.

42 – John Irving, Avenue of Myteries
Leider auch diesmal keine positive Überraschung. Geradezu mechanisch sind die erwartbaren Irving-Versatzstücke zusammengestellt: Zirkus (Son of the Circus), Kind mit komischer Stimme (Owen Meany), Abtreibungsdiskussion (Cider House Rules), Transgender (Garp, In One Person). All diese Irving-Romane tauchen auch selbst wenig verbrämt auf, im Mittelpunkt des Romans steht der gealteter Romanautor Juan Diego, der sie geschrieben hat. Womit auf einer weiteren Ebene der Bogen zu Irvings Romanen geschlagen wird: Wo wir im Meisterwerk The World According to Garp die Anfangsjahrzehnte eines Schriftstellers bekamen, haben wir jetzt die Endphase eines Schriftstellerlebens. Inklusive – ich frage mich, ob die alten Schriftsteller Roth, Rushdie, McEwen, Irving und Konsorten da einfach eine zotige Männerwette laufen haben – fond memories of vagina: Der alte Juan Diego hat Sex mit einer sehr jungen Frau. Das ist zwar gebrochen dadurch, dass er auch mit ihrer Mutter schläft und das ebenso gerne, lässt mich dennoch Augen rollen. Die beide Frauen sind mystische Wesen, tauchen wie Erscheinungen auf und verschwinden, haben kein Spiegelbild (ein Nicken in Richtung des magic realism von García Márquez?). Als exotischen nicht-US-amerikanischen Hintergrund haben wir diesmal Mexiko, in dem die Kindheit und Jugend des Schriftstellers spielen.

Das Element der Groteske, das Irving früher so leichtfingrig und humorvoll beherrschte, hat mittlerweile etwas sehr Angestrengtes bekommen. Und wo seine Sexszenen früher von ihrer liebevoll sachlichen Schilderung profitierten, lesen sie sich jetzt wie pflichtgemäße Trainingseinheiten beim Gewichtheben – bar jeder Sinnenfreude.

Auch diesmal wedelt ein erhobener Zeigefinger vor der Nase der Leserin, wieder und wieder:
1. Literatur spiegelt nicht die persönlichen Erlebnisse des Autors.
2. Katholizismus ist unlogisch und voller innerer Widersprüche.

Der Spiegel war begeistert von dem Roman.
The daily beast mochte den Roman sehr.
Vielleicht sind John Irvings Bücher ja gar nicht schlechter geworden. Vielleicht haben seine Romane und ich uns einfach auseinander entwickelt.

43 – Flix, Schöne Töchter*
Eines meiner Lieblingsbücher des Jahres, graphic short stories über die Liebe. Flix nutzt die Erzählmittel des Zeichnens ganz wunderbar, so manche Geschichte musste ich zweimal lesen, weil die Pointe zeichnerisch am Ende auf den Anfang verwies.

44 – Alison Bechdel, Are You My Mother?

die Kaltmamsell

Journal Mittwoch, 30. Dezember 2015 – Nizza 5

Donnerstag, 31. Dezember 2015 um 9:14

151230_07_Promenade_des_Anglais

151230_08_Promenade_des_Anglais

151230_16_Promenade_des_Anglais

Manchmal nervt mich meine tiefe Konventionalität schon arg. Am klarsten erkennbar an meinen Fotos: So durchschnittlich sieht mein Blick wirklich aus. Doch ich übe mich ja weiterhin im Zurechtkommen mit der Realität. So bin ich halt, das ist schon in Ordnung. Wer ein so großes Bedürfnis nach Sicherheit und Halt hat, wird naheliegenderweise von Konventionen geleitet.

§

Nachmittags im Théâtre de la Photographie et de l’Image Charles Nègre, Ausstellung mit Fotos von Henri Cartier-Bresson. Ein schönes altes Gebäude, Fotografieren verboten.

Abendessen im L’Escalinada: Gute Regionalküche, jetzt kenne ich Kutteln auch auf Nizzanisch.

die Kaltmamsell

Jahresrückblick 2015

Mittwoch, 30. Dezember 2015 um 18:42

Zugenommen oder abgenommen?
Zugenommen: Alle Kleidung sitzt knapp. Was immer noch schafft, mich zu bedrücken.

Haare länger oder kürzer?
An manchen Stellen kürzer (Deckhaar), an manchen länger (Nacken).

Kurzsichtiger oder weitsichtiger?
Anderssichtig, langsam macht das Alter das Sehen spannend: Vor einer Woche festgestellt, dass ich in 25 cm Entfernung ohne Brille besser sehe als mit.

Mehr bewegt oder weniger?
Weniger, glaube ich. Im neuen Job habe ich das zweite Halbjahr über keinen Sportrhythmus für die Arbeitstage gefunden.

Mehr Kohle oder weniger.
Mehr – wenn auch nicht so viel mehr wie erwartet: Aus 900 Euro mehr brutto im Monat ab Jahresmitte wurden rubbeldieKatz nur knapp 300 Euro mehr netto.

Mehr ausgegeben oder weniger?
Weniger, weil ich keine halbe Küche gekauft habe.

Der hirnrissigste Plan?
Mir fällt keiner ein.

Die gefährlichste Unternehmung?
Die von der Hausärztin verschriebenen wirkmittelfreienhomöopathischen Medikamente EINFACH NICHT ZU NEHMEN.

Die teuerste Anschaffung?
Unterwäsche

Das leckerste Essen?
Gegrillter Octopus mit mediterranem Gemüse im Marais soir im September.

Das beeindruckenste Buch?
James Rebanks, The Shepherd’s Life. A Tale of the Lake District

Das enttäuschendste Buch?
Fred Vargas, Julia Schoch (Übers.), Der vierzehnte Stein

Der ergreifendste Film?
Inside Out (der beste aber war Hot Fuzz)

Die beste Musik?
Soundtrack von Sherlock – Series 2

Das beste Theater?
König Lear an den Kammerspielen

Die meiste Zeit verbracht mit…?
Berufstätigkeit

Die schönste Zeit verbracht mit…?
Herrn Kaltmamsell – dessen Anwesenheit schöne Momente halt noch schöner macht.

Vorherrschendes Gefühl 2015?
Es geht weiter.

2015 zum ersten Mal getan?
Eine Klobrille ausgetauscht

2015 nach langer Zeit wieder getan?
Eine Fremdsprache gelernt

3 Dinge, auf die ich gut hätte verzichten mögen?
Einen jungen Burschen zu Grabe tragen zu müssen, die eine oder andere Jobabsage, die daraus resultierende Niedergeschlagenheit

Die wichtigste Sache, von der ich jemanden überzeugen wollte?
Mich einzustellen

Das schönste Geschenk, das ich jemandem gemacht habe?
Klappe halten

Das schönste Geschenk, das mir jemand gemacht hat?
Eine Halskette

2015 war mit 1 Wort…?
Neustart

Vorsätze für 2016?
Kopf hoch!

die Kaltmamsell

Journal Dienstag, 29. Dezember 2015 – Nizza 4

Mittwoch, 30. Dezember 2015 um 10:03

Nach elf Stunden Schlaf aufgewacht, reichlich durcheinander. Für mich als ungeübte Langschläferin war ein Großteil des Tages weg, ich musste mich neu sortieren. Die geplante Stunde Lauf ließ ich ausfallen, um halbwegs in einen Tagesrhythmus zu kommen. (Außerdem würde die Pause wahrscheinlich meinen schmerzenden Achillessehnen gut tun.)

Statt dessen Einkauf auf dem Markt auf dem Cours Saleya, der bereits kurz vor Abbau stand: Artischocken für abends, in einer Bäckerei auf dem Weg Pain de Campagne.

Den Nachmittag im Musée d’Art Moderne et d’Art Contemporain MAMAC verbracht. Interessant am Museumsbau selbst: Viele Möglichkeiten, nach draußen zu schauen, immer wieder schöne Anblicke. Dazu kam ein heller Linoleum(?)boden, in dem sich die Kunstwerke spiegelten, was immer wieder zu einer Dopplung bis Erweiterung führte.

151229_10_MAMAC

151229_12_MAMAC

Gelernt: Yves Klein war Nizzaner. Zu ihm wie auch zum Ausstellungsteil mit Werken von Niki de Saint Phalle gab es eine Wand mit ausführlichen biografischen Informationen. Mir als Laiin half das sehr bei der Einordnung dessen, was ich sah.

151229_16_MAMAC

In einem anderen Raum eine weitere Spiegelung, diesmal auch im Glas, das das Gemälde bedeckte.

151229_23_MAMAC

Die oberste Ebene des Museums sind Dachterrassen – mit Kunst, aber auch Ausblick.

151229_29_MAMACAussicht

151229_33_MAMACAussicht

Für weitere Einkäufe suchten wir den großen Carrefour-Supermarkt Tnl auf und guckten uns dort gründlich um. Gelernt: Foie Gras ist hier wirklich, wirklich wichtig, noch mehr an Weihnachten und Neujahr. Nicht nur wurden acht große Kühltruhen davon angeboten – es gab sogar eine eigene Truhe mit Halal-Versionen, Symbol für das sich wandelnde Europa auf so vielen Ebenen.

151229_34_Carefour

Rückweg über einen Käseladen, um das Abendessen zu komplettieren. Das dann so aussah:

151229_36_Nachtmahl

151229_38_Nachtmahl

Internet gelesen, dann das am Vorabend angefangene SPQR von Mary Beard, das mich von der ersten Zeile an einnahm. Wie immer ist sie in der Reflexion des eigenen Blicks sehr zeitgemäß, gleichzeitig nie überheblich gegenüber ihren Vorläufern und Vorläuferinnen. Der Unterschied zu der Art und Weise, in der ich zu meiner Schulzeit die Antike vermittelt bekam, ist eklatant. (Mary Beard wäre die erste, die betonen würde, dass das frühere Vermittlungsweisen nicht schlechter macht, lediglich anders.)

die Kaltmamsell