Als Arbeiterkind an der Uni
Freitag, 28. Juni 2013Der FU Berlin ist es ein Anliegen, dass die Minderheit der Studierenden, die aus Arbeiterfamilien kommt, die gleichen Aufstiegsschancen wie Studierende aus Akademikerfamilien hat. Das begrüße ich. Dummerweise ist ein Ergebnis eine “didaktische Empfehlung“, die total in die Hose ging (wie wir Arbeiterkinder so sagen). Laut SZ-Berichterstattung1 (das Original ist bereits von der Website der FU verschwunden) hieß es darin:
Mangelnde finanzielle oder ideelle Unterstützung durch das Elternhaus, Vorbehalte gegenüber dem beruflichen Nutzen eines Studiums und Schwierigkeiten mit Konkurrenzdruck unter Studentinnen und Studenten können das Studium gravierend beeinträchtigen.
(…)
Besser fördern und integrieren können Sie diese Studentinnen und Studenten, indem Sie versuchen, Studentinnen und Studenten die Angst vor Redebeiträgen zu nehmen, sie zu Diskussionen ermutigen und jeden Redebeitrag – unabhängig von der Qualität – wertschätzen.
Zudem mögen Dozentinnen “akademische Fach- und Fremdwörter unaufgefordert definieren”.
Auf Telepolis hat bereits Arbeiterkind Dr. Dr. Peter Riedlberger heftig den Kopf geschüttelt. Vielleicht wäre es tatsächlich eine gute Idee gewesen, sich erst mal mit realen Studierenden aus Arbeiterfamilien zu unterhalten. Im Gegensatz zu Riedelberger spürte ich seinerzeit nämlich vor allem am Anfang meiner Studienzeit durchaus einen Unterschied zwischen mir, meinen Freunden und Freundinnen aus Arbeiterfamilien und den Freunden und Freundinnen aus Bildungsfamilien:
– Ich wusste vor dem Studium nicht, dass es außer Vorlesungen in Hörsälen auch noch andere Lehrveranstaltungen gibt.
– Ich wusste vor dem Studium nicht, dass es neben Professoren noch anderes Lehrpersonal gibt. (Studium und Uni kannte ich ja nur aus dem Fernsehen. Entsprechende Szenen spielen dort immer in Hörsälen und mit Professoren.)
– Ich wusste nicht, dass man mit exzellenten Noten so bald wie möglich Stipendien beantragen sollte.
Aber:
– Mit Fremdwörtern kam ich zurecht, vielen Dank auch (pssst: kleines Latinum, großes Graecum).
– Als Diskutantin war ich bereits in der Grundschule anerkannt bis gefürchtet; das mag ein Grund gewesen sein, warum ich neun Klassen lang zur Klassensprecherin gewählt wurde.
– Klar war das Geld knapp, wie bei fast allen Kommilitonen und Kommilitoninnen. Wir gingen halt nebenher arbeiten.
– Wenn jemand Leistungsdruck und hohe Erwartungen kannte, dann ich: Ich hatte all die Möglichkeiten, die meinen Eltern verwehrt worden waren. DARAUS HATTE ICH JA WOHL GEFÄLLIGST WAS ZU MACHEN! (Das war Innere Stimme.)
Soweit ich mitbekomme, gibt es heute an Unis viele Veranstaltungen, die bereits Gymnasiasten an die Hochschulwelt heranführen. Super! (Allerdings müssen Gymnasiallehrer ihre Schüler darüber informieren und bestenfalls selbst hinschleppen.)
Arbeiterkinder fördert man an der Uni, indem man ihre tatsächlichen Leistungen anerkennt, und zwar nicht “unabhängig von Qualität” (!) (!!), sondern unabhängig von persönlichem Auftreten inklusive Dialekt/Akzent/Aussehen. Man lässt sich ja hoffentlich auch nicht von geschliffenen Manieren, Siegelring, Mama in Staatskanzlei beeinflussen – ODER?
- Bitte trotz Unterstützung des Leistungsschutzrechts nicht für Link und Zitat abmahnen! [↩]