Archiv für September 2020

Journal Dienstag, 22. September 2020 – Golden mit Hitze, Beifang aus dem Internetz

Mittwoch, 23. September 2020

Genug geschlafen, geradezu putzmunter aufgestanden.

Eine Runde Crosstrainer vor dem Radeln in die Arbeit.

Goldenes Licht über dem Kaiser-Ludwig-Platz.

Goldenes Licht über der Oktoberfest-freien Theresienwiese.

Mittags restliches Hühnerfleisch mit Nudeln in Senfhühnchensoße.

Nachmittags stempelte ich aus, um zur Anfasserin zu fahren: Ich bat sie um Hilfe bei meiner schmerzenden Nacken-Schulter-Muskulatur, vor allem mit Aussicht auf eine Weile Krückengehen. Es war sehr warm geworden, die Sonnenstrahlen stachen schwül.

Warten auf die S-Bahn am Hirschgarten.

Frau Physio gab mir viele viele Tipps, auch zur Vorbereitung aufs Krückengehen (Trizeps!), außerdem Druck auf die schmerzenden Muskeln.

Zurück im Büro verdunkelte sich langsam der Himmel und grollte. Doch ich kam noch locker trocken heim, es regnete erst kurz vor acht.

Zum Nachtmahl servierte Herr Kaltmamsell auf meinen Wunsch Linsen (MEIN EISEN!) mit Kartoffelbrei und gebratenem Mangold, ein Genuss.

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Auch wenn sich der Medienkonsum allgemein Richtung Sehen und Hören verlagert: Ich bevorzuge Buchstaben, Text vermittelt mir Informationen am schnellsten.
Deshalb freute ich mich über das Interview mit Christian Drosten im Tagesspiegel:
“‘Wir alle sind die Welle'”.

Ein Glück, dass Drosten nicht nur ein brillanter Wissenschaftler ist, sich präzise und nahbar ausdrücken kann, sondern auch unbehindert scheint von Befindlichkeiten – ohne gefühlskalt zu wirken. Ich wünsche ihm und uns allen von Herzen, dass er bald wieder aus der öffentlichen Aufmerksamkeit verschwinden kann und zu seinem inhaltlich sicher ausreichend aufregendem Forscherleben zurückkehren.

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Pagan Kennedy hat für die New York Times die abenteuerliche Geschichte recherchiert, wie Marty Goddard in den USA der 70er eine Methode entwickelte und erkämpfte, die Vergewaltigung als Verbrechen verfolgbar machte – und dann in Vergessenheit geriet.
“The Rape Kit’s Secret History”.

via @OnThisDayShe

Einer der Artikel, bei deren Lektüre ich wiederholt Pause machen musste zum Durchschnaufen – so viel Frauenfeindlichkeit, die gerade mal 50 Jahre her ist (und noch lang nicht ausgestorben).

A Chicago police training manual from 1973 declared, “Many rape complaints are not legitimate,” and added, “It is unfortunate that many women will claim they have been raped in order to get revenge against an unfaithful lover or boyfriend with a roving eye.”

(…)

Ms. Goddard’s insight was that the only fix for this dysfunctional system would be incontrovertible scientific proof, the same kind used in a robbery or attempted murder. The victim’s story should be supported with evidence from the crime lab to build a case that would convince juries. To get that evidence, she needed a device that would encourage the hospital staff members, the detectives and the lab technicians to collaborate with the victim. On the most basic level, Ms. Goddard realized, she had to find a mechanism that would protect the evidence from a system that was designed to destroy it.

(Im Film-Einsatz haben wir dieses rape kit unter anderem in Grey’s Anatomy gesehen.)

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Nackt oder Akt? Ein BBC-Artikel von Lizzie Enfield beleuchtet, warum es so schwierig ist, zwischen Kunst und Photografie Pornografie zu unterscheiden – warum wir aber unbedingt darüber sprechen müssen:
“The fine line between art and pornography”.

Journal Montag, 21. September 2020 – Corona wird deutlicher

Dienstag, 22. September 2020

Viel geschlafen (die Kategorie “gut” hebe ich mir für andere Zeiten auf), aber mit Kopfweh aufgewacht. Gleich Angst, das könnte ein weiterer Migräne-Anfall sein (sie hat jetzt oft genug bewiesen, dass sie keinen Alkohol als Auslöser braucht), doch eine Tablette Paracetamol half.

Eine Runde Bankstütz, um die wichtigste Muskulatur zu erhalten.

Sonniges Radeln in die Arbeit, die Temperaturen machten die langärmlige Jacke nötig.

Mein Bürovormittag wurde strukturiert von Technik-Kämpfen.
Mittags ein Senfhuhnschenkel und Hefezopf. Nachmittagssnack mehr Hefezopf (der am zweiten Tag nicht mehr sehr schmeckt, aber halt satt macht).

Mein Büronachmittag wurde strukturiert von externen Anrufen (möchten Sie auch mal versuchen, Athenerinnen Eulen zu verkaufen?).

Zum vierten Mal, seit ich sie nutze, zeigte die Corona-Warn-App auf meinem Handy eine “Risiko-Begegnung mit niedrigem Risiko” an. Ich verlegte meine Einkaufspläne für den Abend in einen hässlichen, aber weitläufigen Edeka. Dort wollte ich in erster Linie Leergut loswerden, doch wenn ich schon mal da war, besorgte ich Obst für Brotzeit sowie Süßigkeiten.

Mit drei Tagen Verpätung reagiert München auf die hohen SARS-CoV-2-Infektionszahlen und das fehlende Problembewusstsein von Oktifestfans: Unter anderem mit Maskenpflicht in der Innenstadt, Auflagen für Treffen mit anderen Menschen.

Telefonat mit Eltern, derzeit sammeln wir in der gesamten Familie ausgiebig (geplante) Krankenhauserfahrungen. Da sich im Kreis gesorgt wird, reden wir tatsächlich hauptsächlich über Körperlichkeiten. Ich hoffe, das wird auch mal wieder anders.

Herr Kaltmamsell machte aus Zucchini, Kartoffeln, Karotten eine Kugel aus einem unserer jüdischen Kochbücher (Herr Kaltmamsell hat es auch online gefunden). Schmeckte auch diesmal nach überraschend mehr als die Summe der Einzelteile und sehr gut.

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Mein Verdacht, seit ich mich mit KI beschäftige, bereits bestätigt von Herrn Kaltmamsell und jetzt auch von Boris Hänßler in der Süddeutschen:
“Wo künstliche Intelligenz draufsteht, steckt oft nur simple Software drin.”

Journal Sonntag, 20. September 2020 – Schofar-Erfahrung und Fünf Kugeln in Kamin

Montag, 21. September 2020

Recht gute Nacht, lang geschlafen.

Entspanntes ausführliches Bloggen (ich genieße es sehr, wenn ich dafür Muße habe), draußen beschien die Sonne kühle Morgenfrische.

Schwimmpläne abgeblasen. Vielleicht war ich einfach träge, doch ich rationalisierte das flugs mit Minderung von Ansteckungsrisiko sowie mit körperlicher Schonung vor OP (wenn untrainierte Körper vor einer Hüft-OP aufgebaut werden müssen, sollten trainierte Körper vielleicht die zwangsläufige Fehlbelastung langsam runterfahren?).

Statt dessen kurzentschlossen Teig für einen Sonntagszopf geknetet, fürs Zweistrang-Flechten wieder in der Videoanleitung gespickt.

Aus dem Schwimmen wurde ein seltenes Vollbad. Als ich gerade angezogen war, rief mich Herr Kaltmamsell ans Fenster: Er hatte einen Grünspecht erspäht! Den Ruf kann ich ja seit einigen Monaten identifizieren, weiß daher, dass es mindestens zwei in Hörweite gibt, doch die Viecher hatten sich nie gezeigt. Jetzt saß einer im Gras vorm Haus und pickte nach Würmern.

Noch vor Anschneiden des Zopfs gingen wir raus in den schönen, sonnigen Tag zur Synagoge – und jetzt weiß ich, wie ein Schofar klingt: Die Israelitische Kultusgemeinde hatte zum öffentlichen Blasen anlässlich Rosch Haschana auf den Jakobsplatz eingeladen, ich hatte die Meldung im Lokalteil der Süddeutschen entdeckt. (Klingt eher hell: “träääät”.) Fröhliche Anblicke: Der Bub mit Kippa und Skateboard unterm Arm, der Kippaträger in Lederhosen und Wadlstrümpf – jüdisches München halt.

Rückweg durch die Sendlinger Straße. Neben Body Shop haben zwei weitere etablierte Läden auf der Länge von 100 Metern aufgegeben.

Zum Frühstück machte ich mir zum frischen Zopf Rührei – unter anderem als Lösung für mein altes Problem: Wohin mit dem restlichen Ei vom Gebäckbestreichen?

Nachmittag auf dem Balkon mit ausführlicher Eichhörnchen-Show.

Ich las Polly Hobson, Katharina Boje (Übers.), Fünf Kugeln in Kamin aus. Das Ende der Geschichte (Familie wiedervereint, weil die Mutter ihren Beruf als erfolgreiche und bekannte Modedesignerin aufgegeben hat) bereitete mir zwar Unbehagen, doch ich konnte immer noch gut nachvollziehen, warum ich das Buch als Kind wieder und wieder gelesen habe. Unter anderem wegen der Illustrationen von Margret Rettich.

Hier habe ich ziemlich sicher zum ersten Mal von “Puritanern” gelesen. Was das bedeutet, lernte ich erst Jahre später.

Aus Text und Illustration geht hervor, dass die Buben und Mädchen (um die 11 bis 13 Jahre alt) ganz unbefangen miteinander baden. Das gefiel mir.

Englisches Internatsleben – das kannte ich ja aus der Dolly- und der Hanny-und-Nanny-Reihe von Enid Blyton. Allerdings war mir damals nicht klar, wie speziell englisch es war.

Bei der neuen Lektüre fiel mir allerdings die an vielen Stellen amüsant verfehlte Übersetzung von Katharina Boje auf – kann es sein, dass Boje einfach nie in England gewesen war? Der “bequeme Stuhl” zum Beispiel war ziemlich sicher ein comfy chair – also ein Sessel.

Herr Kaltmamsell schlug vor, den ziemlich durchgelesenen Band mit halb abgerissenem Rücken von der Buchbinderin reparieren zu lassen. Ja, das möchte ich gerne.

Die Wäsche vom Wochenende gebügelt, auf dem Balkon Internet gelesen, Apfel und noch mehr Hefezopf gegessen.

Zum Nachtmahl machte Herr Kaltmamsell Senfhuhn: Das Rezept hatte mich in der Süddeutschen angelacht. Schmeckte sehr gut.

Abendunterhaltung: Wir sahen die erste Folge Oktoberfest 1900 in der Mediathek an, auf Freundesempfehlung. Hmja, ausgesprochen waghalsige Kamera, ungewohnte Maske (Glanz, Furchen und große Poren), wilde Musikzusammenstellung – aber ich bekam viel zu wenig interessante Menschen oder interessante Geschichte, als dass mich weitere Folgen reizen würden. (Ich kann das mit den Serien nicht.)

Im Bett das nächste Buch angefangen: Irène Némirovsky, Die Familie Hardelot.

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Verfang.
(Ich weiß ja nicht, ob die beiden dasselbe Spiel spielen.)

Journal Samstag, 19. September 2020 – Ersatzoktifestchen und Karosh Taha, Im Bauch der Königin

Sonntag, 20. September 2020

Nach verhältnismäßig ruhiger Nacht (dreimal unterbrochen, aber jedesmal schnell wieder eingeschlafen) erst mal eine Maschine Wäsche versorgt und gebloggt. So sah ich erst verspätet die Twitter-Timeline der Nacht, die durch die Nachricht vom Tod der US-Richterin Ruth Bader Ginsburg dominiert war (lesenwerter und persönlicher Nachruf in New York: “The Glorious RBG”).

Ich versuchte, meinem geschundenen Körper (gestrern zwickte es auch im Kreuz) genau richtig viel Bewegung zu verschaffen: Bankstütz und eine Runde Rücken-Yoga.

Fürs Frühstück ging ich um die Mittagszeit raus zum Semmelholen. Es war das perfekte Wetter für den Start des schon vor Monaten abgesagten Oktoberfests: golden sonnig, kurzärmelwarm. München hatte sich einen Ersatz für die größte Drogenparty der Welt ausgedacht: “WirtshausWiesn”. Der wurde nicht abgesagt, obwohl am Freitag der kritische Grenzwert von 50 positiven Corona-Tests pro 100.000 Einwohner überschritten worden war, bei dem die Regionen eigentlich einschränkende Maßnahmen verhängen sollen. Und so kam ich auf meinem kurzen Weg an einigen Ersatz-Saufereien vorbei.

Auch im Nußbaumpark wurde Oktifestchen gespielt, ohne Mund-Nasen-Schutz (geht schlecht beim Saufen) oder Abstand. Ein Blaskapellchen spielt auf, Repertoire wie ich es vom Biergarten am Chinesischen Turm kenne: Alles von Landler bis Oh sole mio, ohne Oktoberfest wäre “Rosamunde” vermutlich eine längst vergessene Weise.

Frühsück mit Semmel sowie Resten der Focaccia und des Steaks vom Vorabend. Ich las im Pulli die Wochenendzeitung auf dem Balkon und beschloss, dass Kastanien-Klonken ohne Rosamunde ohnehin eine unvollständige Geräuschkulisse ist. Große Eichkätzchen- und Meisen-Show vorm Balkon. Nach der Zeitung begann ich den im Regal wiederentdeckten persönlichen Kindheits-Klassiker Fünf Kugeln im Kamin von Polly Hobson, Katharina Boje (Übers.) zu lesen und freute mich, dass das wirklich eine sehr schöne Geschichte ist, dass mich die Illustrationen immer noch faszinierten.

Für den Abend waren wir verabredet, in der Fürstenrieder Schwaige im Münchner Westen – zu Fuß in zehn Minuten von der U-Bahn-Station Fürstenried West erreichbar, doch so klein und verwunschen, dass man sich weit weg von der Stadt wähnt. Wir holten unsere Freunde von daheim ab (sie standen schon bereit und ich war um das Vergnügen gebracht, zu klingeln und in die Gegensprechanlage zu rufen: “Darf der Rainer runterkommen zum Spiiiiiiielen?”), wir spazierten mit Hund hinüber ins Grüne. Dabei kamen wir vorbei an Schloss Fürstenried, von dem ich noch nie gehört hatte (München ist dann doch größer, als eine Innenstadtbewohnerin meint); das einstige Jagd- und Lustschloss ist heute ein Exerzitienhaus des Bistums München und Freising.

Herrliche Sichtachse vom Schloss aus auf den heutigen Stolz Bayerns:

In der benachbarten Schwaige saßen wir lauschig draußen im Grünen (samt bei Dämmerung attackierender Stechmücken, ein Begleiter teilte zum Glück Abwehr zum Einreiben aus), aßen herzhaft, tauschten Neuigkeiten aus Familie und Beruf aus. Spät und bereits ziemlich verfroren spazierte ich mit Herrn Kaltmamsell ohne Umweg zur U-Bahn heim.

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Noch eine Buchempfehlung, nämlich das freitags ausgelesene Im Bauch der Königin von Karosh Taha. Ich hatte es für unsere Leserunde vorgeschlagen, nachdem mir die Besprechung in der Süddeutschen aufgefallen war (hier kostenlos zu lesen: “Die Komödie der unkonjugierten Verben”): Offensichtlich erscheinen jetzt die Romane von Einwandererkindern, auf die ich schon lange warte (Tahas Buch war nur eines von mehreren, die mir in den vergangenen Monaten ins Auge fielen).

Attraktiv wurde mir der Roman auch gemacht durch die Veröffentlichung als Wendebuch von zwei Seiten. Das stellte sich allerdings als einzige Enttäuschung der Lektüre heraus: Das Feature hat keine Funktion. Die beiden Teile sind nicht nur aus der Perspektive von zwei deutsch-kurdischen Protagonist*innen geschrieben, sondern folgen auch chronologisch aufeinander – das hätte man gradsogut hintereinander in derselben Richtung veröffentlichen können. (Ich habe sofort die Dumont-Marketingabteilung als Schuldige im Verdacht.) Dabei war diese Veröffentlichungsform der einzige Grund gewesen, den Roman als gedrucktes Buch zu kaufen, denn sie lässt sich im E-Book nicht abbilden. Damit endet mein Genörgel bereits, abgesehen davon möchte ich den Roman nämlich loben.

Die Geschichte spielt irgendwo im Ruhrgebiet und beginnt aus der Sicht des Mädchens Amal. Ihre Familie ist aus dem irakischen Kurdistan hierher gekommen, doch der Vater hält ein Leben nicht aus, in dem er als studierter und einst erfolgreicher Architekt seinen Lebensunterhalt mit ungelernten Hilfsarbeiten verdienen soll. Er geht zurück. Dieser Teil bleibt ganz nah an dem widerborstigen Mädchen, das sich in keine Erwartungen einfügen will, an ihrer klugen und assoziativen Wahrnehmung der Wohnblockumgebung und seiner Menschen, an ihren sprunghaften Gedanken, an ihrer Freundschaft mit dem Nachbarsbuben Younes. Dessen Mutter ist die titelgebende Königin, ebenfalls eine zurückgelassene Ehefrau, doch sie sondert sich mit einem Leben außerhalb der Konventionen von der kurdischen Exil-Gemeinschaft ab. Amal bewerkstelligt schließlich eine Begegnung mit ihrem Vater im Irak.

Ich war gespannt, ob Taha es schaffen würde, dem anderen Romanteil eine klare andere Stimme zu geben: Oh ja, das tut sie und zwar hervorragend. Jetzt folgen wir Raffiq, einem weiteren Nachbarsbuben Amals. Doch er ist älter, erzählt stringenter und gleichzeitig mündlicher eine ganz andere Atmosphäre. Dadurch erfahren wir weitere Seiten des Aufwachsens in der kurdischen Exil-Gemeinschaft, der Protagonisten, der Umgebung, der Freundschaften, Feindschaften. Einer der deutlichen Unterschiede: Raffiq erzählt eine Männerwelt, während Amal die Frauenwelt transportierte.

Mir fiel auf, wie viel interessanter und anziehender ich den Männerteil des Romans fand. Nicht überraschend: Auch im Spanien meiner Kindheits- und Jugendurlaube bei der Familie meines Vaters hatte ich mich viel lieber an meinen Kusin und seine Freunde gehängt als an meine Kusine und ihre Freundinnen. Die Spiele und Themen interessierten mich mehr, während die Mädchengruppe nie über langweilige Äußerlichkeiten und Geplauder hinauszukommen schien und nie etwas Spannendes spielte.

Man hätte den Roman ohne Weiteres als Jugendliteratur vermarkten können – das wäre ein Fehler gewesen wie bei so vieler young adult fiction: Jugendliche im Mittelpunkt einer Geschichte beschränken doch wohl nicht den Leserkreis.

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Apropos angebliche Jugendliteratur: Vor zehn Jahren erschien Wolfgang Herrndorfs Tschick. Die FAZ erinnert an den umgehenden Erfolg und veröffentlicht Leser*innenzuschriften an Herrndorf aus seinem Nachlass:
“Herr Herrndorf, wie haben Sie das gemacht?”

Journal Freitag, 18. September 2020 – Geschöfft und Geburtstag

Samstag, 19. September 2020

Ich hatte mir den Tag frei genommen: Morgens ein Einsatz als Schöffin, außerdem hatte Herr Kaltmamsell Geburtstag – da ließ ich doch mal ein paar Überstunden so springen, statt sie mir auszahlen zu lassen.

Nach gemischter Nacht stand ich früh auf, um Herrn Kaltmamsell Geburtstags-Milchkaffee servieren zu können, bevor er in die Arbeit musste. Und für eine Runde Crosstrainer.

Chronistinnenpflicht: So sehen die Kastanien vorm Haus heuer um die Zeit aus, also nur mittel niedergefressen von Miniermotten.

Das Radeln zum Gericht dauerte doppelt so lang wie von Google Maps veranschlagt: In der Rush Hour waren so viele Fahrräder unterwegs in einer weiterhin nicht auf Radverkehr ausgerichteten Infrastruktur, dass nicht nur jede Ampel bei Ankunft auf Rot stand, sondern auch so viele Fahrräder davor warteten, dass einmal nicht alle bei einer Grünphase durchkamen. Statt Tempo zu versuchen, schwamm ich in der Radlmasse mit, um mich nicht zusätzlich in Gefahr zu bringen.

Corona-Maßnahmen am Eingang des Justizzentrums: Meine Schöffinnen-Ladung hatte ein vorausgefülltes Formular mit Kontaktangaben umfasst (Service!), das musste ich nur noch unterschreiben und abgeben.

Den Sitzungssaal fand ich erst mal nicht – ein erstes Mal, denn die Bezeichnung der Säle folgt eigentlich einem nachvollziehbaren System. Ein freundlicher Polizist vor einem anderem Saal konnte mir helfen und die Richtung weisen; dass ich nicht die erste mit diesem Problem war, sah ich an vereinzelten auf dem Weg mit Tesa befestigten Zetteln, auf denen die Saalnummer stand. Doch eine Gerichtsangestellte bat uns ohnehin kurz vor angesetztem Start um Umzug: Die Verhandlung fand in einem anderen, deutlich größeren Sitzungssaal statt.

Ausstattung für Corona-Infektionsprävention: Im Zuschauerteil war ein Großteil der Sitze gesperrt, die Plätze auf Anklage- und Richterbank waren durch stabile Plexiglaswände in sauber geschreinerten Holzfassungen getrennt. Keine Maskenpflicht im Sitzungssaal (aber sonst im gesamten Gebäude) – nachvollziehbar, da Mimik im Gesamtgeschehen eine große Rolle spielt. Die Staatsanwältin nutzte jede Gelegenheit zum Lüften.

Verhandelt wurde zwei Stunden lang ein Verstoß gegen das Betäubungsmittelgesetz. Ich lernte wieder eine Menge nicht nur über Gesetzliches, sondern auch über die Arbeitsweise von Richterinnen und Richtern sowie über Ermittlungsarbeit. Neue Wörter: in Tatmehrheit, überschießendes Geständnis.

Vom Richterzimmer aus entdeckte ich, dass im Innenhof des Strafjustizzentrums richtige Apfelbäume stehen.

Anschließend radelte ich an den Josephsplatz: Ich hatte Kleingeld eingesteckt, um nach vielen Monaten mein Projekt Alterungsdokumentation im Fotoautomaten fortzusetzen – am Sendlinger Tor gibt es ja wegen der Bauarbeiten keine Fotoautomaten mehr.

Auf dem Heimweg besorgte ich noch Semmeln, die mit frischen Feigen und Käse mein Frühstück wurden.

Der Tag war gemischtwolkig kühler, doch jeder Sonnenstrahl heizte auf. Ich überlegte, welche Erledigungen anstanden – doch mir fielen keine bis zur Abendessenszubereitung ein. Ich hatte wirklich frei! So setzte ich mich auf den Balkon und las Zeitung, dann ein wenig Internet, dann Karosh Taha, Im Bauch der Königin aus. Dazwischen kam Herr Kaltmamsell aus der Arbeit, dazwischen aß ich eine weitere Semmel und einen Ernteanteilsapfel (in Stücke geschnitten, ich möchte meinen ausgebesserten Schneidezahn nicht durch kraftvolles Zubeißen gefährden).

Für sein Geburtstags-Festmahl hatten wir uns schon vor einiger Zeit gegen einen Restaurantbesuch entschieden: Für einen Draußenplatz war es voraussichtlich zu kühl, und Gastro-Innenbereiche zeichnen sich immer deutlicher als Corona-Infektionsrisiko ab. Also ein Festmahl daheim.

Ich steuerte die Vorspeise bei: Focaccia al formaggio, ein ligurisches Rezept, das ich vor längerer Zeit oft nach Reinhardt Hess, Sabine Sälzer, Die echte italienische Küche zubereitet hatte, jetzt wiederentdeckt.

Diesmal habe ich auch das Rezept mit meinen Erfahrungen aufgeschrieben.

Hauptgang durfte Herr Kaltmamsell basteln.

Flanksteak mit Ernteanteil-Spinat und Süßkartoffel-Pommes aus dem Speisefön (zu lange geföhnt), dazu mallorquinischen Rotwein, zum Anstoßen auch für mich ein Gläschen.

Als Nachtisch war die Crème brûlée vom Vorabend geplant – die unerklärlicherweise nicht fest geworden war. Gab’s halt gehaltvolle Crème anglaise mit Zuckerkruste.

Jähes Ende des Abends: Mir wurde schlecht. Sehr. So blieb mir nur, mich bei Herrn Kaltmamsell für mangelnde Aufmerksamkeit auf seinen Geburtstag zu entschuldigen und schnell ins Bett zu gehen. Wo sich die Übelkeit zum Glück beruhigte und ich einschlief.

Journal Donnerstag, 17. September 2020 – Zerschlagen daheim

Freitag, 18. September 2020

Bis zum Weckerklingeln hatte ich sogar mehr als drei Stunden am Stück geschlafen, es weckte mich gründlich. Ich hätte mir sogar eine Zusatzstunde gegönnt, doch jetzt war ich wach und der Puls ging nicht wieder runter. Doch nach einigem Hin- und Herdenken überm Morgenkaffee und da mich die Migräne-Nachwehen immer noch nicht geradeaus schauen ließen, gab ich der grundsätzlichen und tiefen Zerschlagenheit nach: Ich meldete mich krank.

Erster Effekt nach Abfallen des Zusammennehmens: Ich konnte in mich horchen. Und fand dort unter anderem die Angst vor der OP. Meine Vernunft weiß sehr wohl all die Fakten, ich habe gründlich recherchiert, viele beruhigende Anekdoten gehört, bin auf dieser Ebene nicht nur ruhig und gefasst, sondern freudig aufgeregt: Erstens Abenteuer, zweitens Wissenschaft und Technik, drittens eine Lösung für mein langjähriges Problem.

Aber: HOLY SHIT! Man wird mein Bein aufschneiden, ein fast faustgroßes Stück Knochen aus meinem (!) Körper sägen, einen dreimal so großen Titankeil längs in den Oberschenkelknochen einhauen. In meinen Körper, dem schon die Vorstellung Unbehagen bereitet, Farbe unter die Haut nadeln zu lassen. Es ist meiner Ansicht nach völlig in Ordnung, dass mich das beutelt und verstört, auch diese Seite gehört zu mir.

Zweiter Effekt und Migräne-typisch: Nichts müssen. Über den gestrigen Vormittag weiß ich fast nichts mehr, ich schaute einfach nur migränisch blöd.

Dritter Effekt: Beim Hinterherlesen der Twitter-Timeline seit Mittwochnachmittag ein Dutzend assoziativ gelockerte Tweets rausgehauen. Weil zum einen Migräne eine neurologische Erkrankung ist und bei vielen Betroffenen zu Synapsengewitter führt (auch beschrieben hier von novemberregen), unter anderem bei mir. Weil zum anderen so früh am Morgen eh fast niemand auf Twitter ist. (Oh selig befreiende Irrelevanz!)

Gegen Mittag duschte ich und zog mich an. Erholsame frische Luft holte ich mir auf einer langsam erhumpelten Einkaufsrunde. Das Wetter war leicht abgekühlt und ein wenig wolkig.

Zurück daheim Frühstück mit eben geholten Semmeln, Käse, frischen Feigen, dann verlangte die Erschöpfung eine weitere Schlafrunde.

Nach diesen beiden Stunden fühlte ich mich ganz wiederhergestellt. Mittlerweile war Herr Kaltmamsell heimgekommen, hatte unterwegs den Ernteanteil der Woche abgeholt (für uns kein Kürbis, den hatten wir schon in der Woche davor, und statt Mangold Spinat – jetzt, wo wir so viele Haushalte geworden sind, gibt es öfter mal von einem Gemüse nicht genug für alle 1500 – völlig in Ordnung).

Ich setzte mich auf den Balkon und las die Süddeutsche des Tages. Vorm Balkon klackerten, plumpsten, raschelten, donnerten die Kastanien herab, je nach Landestelle. Dann kurze Küchentätigkeit: Für das Geburtstagsfestmahl am Freitagabend machte ich das Wunsch-Dessert Crème brûlée.

Auch für das Abendessen sorgte ich:

Gestern wieder mit Tahini-Dressing. Zum Nachtisch Schokolade.

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Frau Nessy verlinkte einen Fahrradklima-Test des ADFC. Ich fand den Fragebogen gut gemacht und empfehle Teilnahme hiermit weiter, der ADFC könnte als Lobby-Sprecher Gehör finden. Die Stadt der Zukunft MUSS andere Prioritäten als den Pkw-Verkehr haben.
“Und wie ist das Radfahren in Deiner Stadt?”

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Die Website Jobinklusiv fasst faktenreich und gut aufbereitet zusammen:
“Wie das System der Behindertenwerkstätten Inklusion verhindert und niemand etwas daran ändert”.

Dabei gibt es Behinderte, für die tatsächlich eine so betreute Berufstätigkeit ideal ist. Nur reichen die wohl nicht aus, um das System in der jetzigen Form am Laufen zu halten.

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Tierniedlichkeit: Igel mit Nachwuchs, bitteschön.

Journal Mittwoch, 16. September 2020 – Gesund ist was anderes

Donnerstag, 17. September 2020

Nacht zerstückelt von Aufwachen (mal wegen Schmerzen, mal einfach wegen wach) und lang nicht mehr einschlafen können. Völlig zerschlagen und mit leichter Übelkeit aufgestanden, nicht mal Energie für das kleinste Bisschen Bankstütz.

Über den Tag in der Arbeit (wie schon am Dienstag ständiger Wechsel zwischen Stehen und Sitzen weil Schmerzen in Hüfte und Kreuz) fühlte ich mich so benommen, dass ich kaum geradeaus schauen konnte.

Mittags ging ich kurz für Besorgungen raus (Orthopäde für Klinikeinweisung, Apotheke für Medikamente), es war sonnig und fast schon heiß. Mittagessen ein Laugenzöpferl, Nektarinen, etwas Feta.

Nachmittags gesellte sich zu meiner Benommenheit ordentlich Kopfweh, vielleicht war das ganze ja doch Migräne. Ich machte früh Feierabend, radelte durch den sonnigen schwülen Tag heim mit Umweg über eine online recherchierte Einkaufsgelegenheit – die entgegen allen Angaben dicht gemacht hatte.

Daheim marschierte ich direkt ins Bett und schlief erst mal. Zum Abendessen (Herr Nachtmahl hatte den Ernteanteil-Fenchel zu einem Pasta-Gericht mit Ei-Soße verarbeitet) stand ich nochmal auf, schaffte aber nur einen kleinen Teller und musste für das letzte Stück Tagesschau den Kopf auf dem Tisch ablegen.

Nachdem sich weitere Symptome dazugesellten, war klar: Migräne. Ich ging ins Bett, nahm mein Triptan und schlief nach einer weiteren Stunde Quälerei ein.