Journal Mittwoch, 28. Oktober 2020 – Heimkehr in eskalierende Pandemie
Donnerstag, 29. Oktober 2020 um 7:28In der Rehaklinik hatte ich mir einen frühen Wecker fürs Kofferpacken gestellt, wachte noch davor auf.
Ich brachte mit nur wenig Gewalt alles unter in Koffer und Rucksack; vor mir stand also im Empfangsbereich der Klinik wirklich nur ein Koffer zwischen all den Gepäckinseln aus Koffern, Taschen und Tüten anderer Patientinnen und Patienten, die gestern heim fuhren. (Im Gegensatz zur Sommer-Reha 2019 hatte ich diesmal nur ein Set Zivilkleidung dabei.)
Frühstück mit Schwarztee, Abschied von der wirklich angenehmen Tischgenossin: Obwohl wir uns in praktisch allen Vorlieben und -abneigungen unterschieden (Erbsen, Spätaufstehen, Kinder, Joggen, Schwimmen, Religion), verstanden wir einander sehr gut.
Den Heimtransport unter dicken Wolken teilte ich mir mit einer weiteren Patientin, die vor mir in Neuperlach abgesetzt wurde, dennoch war ich schon nach anderthalb Stunden um halb elf zu Hause. Mir fielen mal wieder meine beschränkten Münchenkenntnisse als Innenstadtbewohnerin und U-Bahn-Nutzerin auf: Zwischen Neuperlach Süd und Prinzregentenstraße war ich auf der Fahrt völlig orientierungslos. Ich freute mich über den zähen Verkehr um den Friedensengel: So konnte ich ihn ausgiebig begrüßen.
Die heimische Wohnung roch völlig fremd und leer. Ich drehte erst mal Heizungen auf und packte in aller Ruhe aus. Erste Maschine Wäsche angeschaltet, Sichtung der Papierpost. Kurz vor zwölf gab es den lange vermissten Milchkaffee und ein mächtiges Schinkenbrot (Herr Kaltmamsell hatte auf meine Bitte selbstgebackenes Brot aus der Gefriere geholt und Kochschinken eingekauft).
Auch in München neigte sich der Herbst seinem Ende zu.
Nun stürzte ich mich mal wieder in Spaß mit der Deutschen Rentenversicherung. Mit der Post war nämlich ein Stapel Unterlagen von dieser Behörde gekommen, datiert vom 16.10.2020: Diese Formulare möge ich bitte einige Tage vor Beginn meiner Reha am 7.10.2020 ausgefüllt einreichen. (Wieder eine Organisation, die das Raum-Zeit-Kontinuum zu überlisten versucht.) In der Gebrauchsanweisung des Anschreibens standen weitere sich widersprechende Anforderungen. Zum Glück hatte ich im Reha-Vortrag der Sozialstelle einige Hintergrundinfos bekommen, also pickte ich mir die Anweisungen heraus, die ihnen entsprachen.
Während ich dafür drei Maxibriefe fertigmachte, kam Herr Kaltmamsell heim. Es war großes Herzen und Küssen, ab sofort sind wir wieder ein Haushalt. (Dass er als Lehrer ein potenzieller Hochrisiko-Vireneinsammler ist, mussten wir ignorieren; die Alternative wäre, dauerhaft voneiander isoliert zusammenzuleben.)
Frischluft und Bewegung wollte ich auch an diesem Heimfahrttag (ab Donnerstag absolviere ich das Heim-Sportprogramm, dass mir die Rehaklinik ausgearbeitet hat), also zog ich gegen 15 Uhr auf eine kurze Krücken-Runde los (leerer würde es draußen eher nicht mehr im Lauf des Tages), durchgehend mit Maske. Kurzer Abstecher in einen fast leeren Drogeriemarkt. Krückengehen ging gut, weiter mit sehr erträglichen Heilungs-/Bewegungsschmerzen.
Zurück daheim richtete ich mir nach einem weiteren Schinkenbrot eine Möglichkeit des Beinhochlegens ein: Ich heizte mein Schlafzimmer und stapelte mir Kissen als Rückenpolster ins Bett. So war es fast so gemütlich wie in einem Bett mit hochstellbarem Kopfteil.
Nach fünf Wochen ohne freute ich mich auf Alkohol, dachte gründlich darüber nach, auf welchen ich am meisten Lust hatte. Es wurde ein edler Luxemburger Cremant zum Anstoßen mit Herrn Kaltmamsell.
Ich hatte allerdings bereits nach anderthalb Gläsern genug.
Fürs Nachtmahl hatte Herr Kaltmamsell auf meine Bitte den Spaghettikürbis aus dem letztwöchigen Ernteanteil aufgehoben.
Da er dann doch noch größer war als erwartet, teilten wir uns eine Hälfte, aßen sie mit Butter, Salbei, Frühlingszwiebeln, geriebenem Parmesan. Zum Nachtisch heimische und Schweizer Schokolade.
Gestern haben die Bundesregierung sowie die Regierungschefinnen und -chefs der Länder endlich härtere Maßnahmen zur Pandemie-Bekämpfung beschlossen, hier der Wortlaut. Kanzlerin Merkel hätte sie gerne schon vor zwei Wochen so oder ähnlich gehabt, bei dieser Gelegenheit die Entwicklung der Infektionszahlen exakt so berechnet, wie sie dann auch verlief und verärgert prognostiziert, dann werde man sich halt in zwei Wochen wiedersehen. (Ich stelle mir vor, wie sie gestern in der Videokonferenz wieder und wieder auf einer Tafel die arithmetischen Basics vorrechnete – bis alle kapierten, dass das Virus kein Verhandlungspartner ist, sondern der Gegner.)
Für mich heißt das unter anderem: Kein Schwimmen (Schwimmbäder werden geschlossen), kein Besuch bei meinen Eltern oder der Bruderfamilie noch sonstige Besuche oder Treffen, auch nicht mit meinem Lesekreis, Termine so legen, dass ich sie außerhalb der Stoßzeiten mit Öffentlichen Verkehrsmitteln erreichen kann. Ob meine Nach-Reha nächste Woche beginnt, hängt davon ab, ob diese ambulante Rehaklinik als Fitnessstudio eingeordnet wird oder als therapeutische Einrichtung. Ja, die wirtschaftlichen Auswirkungen auf einige Branchen sind wieder hart; doch zum einen umfassen die Maßnahmen diesmal weitreichende Unterstützungen, zum anderen ist derzeit gesamtgesellschaftlich die Eingrenzung der Pandemie vorrangig. Ich bin mir sehr bewusst, dass die Opfer, die ich bringen muss, im Vergleich mit den allermeisten anderen, lächerlich gering sind.
























