Journal Mittwoch, 14. Oktober 2020 – Geranienabtrieb und Gehen auf dem Mond

Donnerstag, 15. Oktober 2020 um 7:41

Hungrig aufgewacht. Ich fürchte, ich komme mit zwei zusätzlichen Konfektionsgrößen heim, da mein Hunger kein Pendant in Bewegung hat.

Morgenspaziergang nach dem Frühstück (kalt, ich sehnte mich nach einer Mütze): Ein Schwarm Bachstelzen schaute vorbei, war niedlich und leistete den Amseln, Rotschwänzen, Spatzen, Buchfinken, Kohlmeisen Gesellschaft.

Tagesprogramm (sieben Termine) startete mit Pilates, diesmal zu viert. Ich begriff nicht, wie das mit der Atmung/Spannung gemeint ist – es scheint etwas ganz anderes zu sein als beim Singen, beim Yoga, beim Joggen, beim Krafttraining, kein Versuch stellte die Trainerin zufrieden.

Die knappe Stunde Pause bis zum nächsten Termin verbrachte ich in der Lobby mit Blick nach draußen. Ich wurde dadurch Zeugin eines erhebenden jahreszeitlichen Naturschauspiels: Abräumen der Balkonblumen.

Das musste ich sofort mit instagram und Twitter teilen; wir waren uns einig, dass hier eine wertvolle Chance zur Festivalisierung verpasst wurde:

Herr Physio lockerte Muskeln und fragte dann, ob ich schon ohne Krücken gehen könne. Können tue ich ja schon, doch ich soll doch nicht? Er ließ mich auf dem Gang vorgehen und teilte mir seine Beobachtungen mit (OP-Bein rollt nicht richtig ab, Belastung darauf kürzer als auf heilem Bein). Ich fand heraus: Wenn ich im Kopf Musik spielen lasse und im Rhythmus gehe, also eigentlich tanze, fällt es mir viel leichter, beide Beine gleich stark zu belasten. (Mein Hirn griff dafür zu “Havana Moon” von Santana, das passte gut.) Das zog ich den Tag über durch (Hirn blieb leider bei diesem einen Song hängen) und hatte den Eindruck, dass ich mich schlagartig meinem früheren gesunden Gang annähere, den ein besuchender Schriftsteller mal “like a policewoman on a drug squad” beschrieben hatte. Und das, wenn ich kurz erinnern darf, nicht mal zwei Wochen nach OP.

Schlechte Nachrichten allerdings beim Thema Schwitz-Sport. Nachfrage bei Herrn Physio, ob da irgendetwas geht, ergab: Nein. Bis auf Weiteres nicht.

Anschließend eine Einheit Bewegungsschiene mit Musik auf den Ohren.

Der nächste Termin war Elektrotherapie: Auf Nierenhöhe wurden mir hinten zwei halb-kiwi-große Gumminäpfe mit Schwammfüllung angesaugt, durch die zehn Minuten lang Strom floß und rührendes Bitzeln auslösten. Ich konnte mir gut ausmalen, welche Witze mein Elektriker-Papa reißen würde. ABER! Durch die Kürze der Behandlung hatte ich Zeit für einen Cappuccino.

Zu Mittag war ich schon wieder richtig hungrig. Ich hatte zur Fleischvermeidung Dampfnudel mit Vanillesoße bestellt, aß davor ein wenig Couscous-Salat, danach Pfirsichkompott. Wie erwartet fiel ich anschließend in Kohlenhydrat-Schläfrigkeit.

Gleich nach Mittag war meine tägliche Sportrunde eingetragen. Ich kämpfte mit den Oberkörpermaschinen, die die Karte (Größe Kreditkarte) nicht erkannten, auf der meine Einstellungen gespeichert waren. Eine Trainerin half mir, musste letztendlich alles nochmal neu einstellen und speichern.

Dann durfte ich auf dem Mond gehen! Der Termin hieß “Gehtrain.Antigrav.” (Platzgründe, nehme ich an), man steckte mich in eine Antigravitationsmaschine, die aussah wie ein Laufband mit Zeltaufsatz für den Unterkörper. Die Trainerin ließ mich eine Neoprenhose anziehen, deren sehr weiter Bund in ein Loch im Zelt einreißverschlusst wurde. Dann blies die Trainerin die Kammer auf und ich war auf dem Mond, denn der Druck trug mich. Sie schaltete das Laufband ein, ich sollte gehen, und mein Gehen wurde gefilmt. Die Trainerin gab 20 Minuten lang Verbesserungshinweise zu meinem noch nicht wieder gleichmäßigen Gehen (OP-Bein mehr nach hinten strecken, Nicht-OP-Bein weniger schnell nach vorne führen etc.). Das war technisch spannend, aber ich hege Zweifel, dass die Übung Auswirkungen auf meinen irdischen Gang hat, wo die Schwerkraft zu 100 Prozent wirkt. (Die Trainerin verwendete statt dem deutlich attraktiveren Mond-Vergleich Wasser-Analogien, sie wird schon wissen.)

Letzter Termin war eine dritte Einheit Gehen: Gangschule in der Gruppe in der Turnhalle. Eine halbe Stunde quer duch die Halle mit Abrollen vorwärts, Gehen seitwärts, auch mit Kniehoch. Und nun signalisierte meine neue Hüfte, dass jetzt aber mal genug gegangen war für einen Tag, ich war wirklich erledigt. So sehr, dass ich sogar auf den Spaziergang nach dem Abendessen verzichtete.

Abendessen: Suppe, Hüttenkäse mit Kräutern, Butterbrot. Abenunterhaltung: Fernsehen, The Good Doctor.

die Kaltmamsell

Journal Dienstag, 13. Oktober 2020 – Evidenz-Skepsis

Mittwoch, 14. Oktober 2020 um 7:34

Fast fünf Stunden am Stück geschlafen!

Das Wetter war zunächst weiter kalt und grau, doch die Aussicht auf See und umliegende Berge ist durch die tiefen Wolkenbänke auch bei diesem Wetter interessant.

Beim Frühstück (wieder Lust auf Müsli mit Joghurt) verabschiedete ich meine Tischgenossin, deren Reha endete: Sie war sympathisch gewesen, und da sie sich wirklich auf freundlichen Smalltalk beschränkte, auch keine Belastung.

Ich lernte manuelle Lymphdrainage kennen: Der ausführende Physio wusste nicht zu erklären, wozu sie mir verschrieben wurde, auch nicht den Kompressionsstrumpf – mein operiertes Bein ist weiterhin nicht geschwollen. Laut ihm hätte ich beides am ehesten in den Tagen direkt nach der OP gebraucht. Wir einigten uns, dass ich im Tragen des doofen Strumpfs flexibel sein kann.

Bis zum nächsten Termin lungerte ich im Foyer herum (das hatte ich von der vergangenen Reha keineswegs vergessen: die vielen 20-30-minütigen Pausen zwischen den Terminen, mit denen nichts anzufangen ist) und las Zeitung auf meinem Handy. Dann endlich: Fango! Der Weg zur Behandlung war im labyrinthischen Bäder-Untergeschoß halbwegs nachvollziehbar. Da die Fango-Platte für den Rücken platziert wurde, ist auch ihr Nutzen mir unklar, aber die Wärme war angenehm.

Jetzt wäre ein Cappuccino schön gewesen, doch die Cafeteria hatte gestern um 11 Uhr noch keinen Betrieb.

Neugierig war ich auf “Pilates Einführung”. Im mittelgroßen Gymnastikraum waren wir nur zu dritt plus Trainerin. Sie erklärte Grundsätzliches, auf dem Boden wurden wir zu ersten Übungen angeleitet. Das könnte interessant werden.

Mittagessen in Bildern:

Gemüsesuppe mit deutlicher Kümmelnote.

Penne al arrabiata (die ich im Kopf vermutlich bis an mein Lebensende wie Darth Vader in der Death Star Canteen aussprechen werde).

Vanillepudding (cremig).

Inzwischen regnete es leicht. Ich krückelte dennoch meinen Verdauungsspaziergang im Park, nicht mal die Rauchergruppe war draußen.

Der nächste Termin war nochmal “Bewegungsschiene”. Diesmal kümmerte sich ein Physio und stellte die Schiene ein, auf die ich mein Bein lege und die es dann maschinell anwinkelt und ausstreckt. I’m not an expert, but – da ich dazu neige, im Zweifel $Medikament oder $Therapie in Verbindung mit dem Suchbegriff “Evidenz” zu recherchieren, sind meine Fragen nach dem Nutzen wohl berechtigt. Aber man kann’s vermutlich halt abrechnen.

Eine Runde “Med. Training”, also Trockenradeln (ich stellte mal auf deutlich aktiver, um den Puls wenigstens ein kleines Bisschen hoch zu bekommen) und Bewegungsmaschinen.

Tagesprogramm beendet, zurück im Zimmer zog ich mich um (also von Gymnastikhose und Funktionsoberteil in weite, warme Sporthose, T-Shirt und Pulli – Straßenkleidung habe ich hier tatsächlich noch nie getragen). Ich ackerte mich weiter durch Connie Willis, Doomsday Book. Von all den Details der Pesterkrankungen (auch hier wieder und wieder dieselben Beschreibungen in Varianten) wurde mir selbst ganz kränklich.

Abendessen Biryani, das gut schmeckte, allerdings fast ausschließlich aus Reis bestand. Davor eine Suppe. Über den Nachmittag war es trocken geblieben, ich drehte meine Abendrunde im Park sogar unter Sternen.

Abendunterhaltung war Auslesen des Romans. Die Grundidee der missglückten Zeitreise einer Geschichtsstudentin ins Mittelalter, startend von einer mittelnahen Zukunft Mitte des 21. Jahrhunderts, gefiel mir zwar gut, doch die Erzähltechniken sind sehr verbesserungsbedürftig. Ein Drittel der Auserzählungen (niemand geht einfach in einen Raum und setzt sich, sondern öffnet die Tür, schließt die Tür hinter sich, geht zum Stuhl und setzt sich erst dann) müsste man kürzen, dann bekäme die Geschichte Tempo. Interessantes Detail: Als Willis den Roman 1992 veröffentlichte, stellte sie sich eine Zukunft mit Bildtelefonie als Standard vor, doch die Menschen müssen dafür immer noch zu stationären Apparaten gehen. Offensichtlich gab sie der Mobiltelefonie, die damals ja bereits mit Aktenkoffer-großen Apparaten begonnen hatte, keine Chance.

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“9 (Kinda) Hilarious Lessons From My 99 Days on a COVID Ventilator”.

via @teresabuecker

die Kaltmamsell

Journal Montag, 12. Oktober 2020 – Lymphpneumatik, Schnee und Aussicht

Dienstag, 13. Oktober 2020 um 7:42

Langsam gewöhne ich mich daran, dass ich mich jetzt wieder langsam setzen kann und nicht mehr plumpsen muss.

Mittelgute Nacht, netto kam ich auf genug Schlaf. Bei einer Spazierrunde vorm Frühstück unter grauem Himmel entdeckte ich, dass die umliegenden Berggipfel über Nacht beschneit worden waren.

Endlich ein Tag mit Programm, wenn auch übersichtlichem. Der erste Termin nannte sich “Lymphamat”. Ich hatte natürlich gleich mal recherchiert: Es handelt sich um eine aufpumpbare Manschette, die eine Lymphdrainage simulieren soll.

Dafür fuhr ich in den dritten Stock des Haupthauses – und entdeckte, dass es unterm Dach eine ganze Therapie-Etage gibt.

Sensationelle Aussicht im Raum mit vier Lymphamat-Liegen, auf der Tonspur deshalb vierstimmig Pneumatisches. Doch der Einrichtungsstil lässt mich mittlerweile ständig ein Aufkreuzen von Maria und Margot Hellwig befürchten.

Anschließend schickte mich das Programm in ein Stüberl für den “Top Fit Vortrag” einer Diätassistentin. Ein Dutzend Patientinnen und Patienten durfte einem 7.-Klass-Referat über “gesunde Ernährung” beiwohnen. Mit Requisiten.

Arztvisite auf dem Zimmer, mir wurde die Sorge um eine harte, schmerzende Stelle über der Narbe wegerklärt (Blutansammlung von OP, die erst verschwinden muss, Nerven drunter, die rebellieren),

Gestern war ein Fresstag. Ich hatte schon zum Frühstück Hunger (Müsli mit Joghurt), aß zwischen Terminen eine Hand voll getrocknete Aprikosen, holte mir in der Cafeteria einen Cappuccino, freute mich aufs Mittagessen (Gemüse-Omelette mit Brokkoli und Tomatensalsa, davor Salätchen, danach Johannisbeerquark).

Spaziergang nach dem Mittagessen, es war zapfig kalt.

Nachmittagstermine: Sport 1 in Form von anstrengender Hüftgymnastik, Physio (Muskelstränge-Ausstreichen), dann wurde ich für den Programmpunkt “Bewegungsschiene” in eine Kabine gewiesen, brachte die Schiene aber ohne jede Anleitung nicht zum Laufen (ich guckte sogar bei YouTube nach, doch das Bedienungsteil zeigte etwas Anderes an). Ich zog also Sport 2 vor, Ergometerradeln (mag ich ja gar nicht, brachte auch meinen Puls nicht hoch, doch auf absehbare Zeit wird wohl keine echte Cardio-Bewegung möglich sein) und Oberkörpermaschinen.

Lesen bis zum Abendessen: Sehr guter Linsensalat mit viel Gemüse, fürs Sattwerden dazu zwei Butterbrote.

die Kaltmamsell

Journal Sonntag, 11. Oktober 2020 – Kaltes, graues Nichtstun

Montag, 12. Oktober 2020 um 7:23

Wieder ein Tag, an dem ich hauptsächlich heilte.

Trotz Schlaftablette war die Nacht kurz: Ich wachte um halb sechs auf. Duschen, im Stationszimmer um Hilfe beim Kompressionsstrumpfanziehen bitten, bloggen. Beim Frühstück ließ ich meiner Appetitlosigkeit freien Lauf, setzte auf einen Cappuccino später in der Cafeteria. Doch deren Öffnungszeiten sind erratisch: Nachdem sie am Samstag bereits um 9 Uhr in Betrieb war, blieb sie gestern vor meinem Sporttermin um 11 Uhr leer. Zum Glück hatte ich mir einen kleinen Pack Milch vom Frühstück mitgenommen, der musste als Energie reichen.

Eine Runde im Sportraum: Leichtes Radeln mit geringem Radius, Oberkörpermaschinen, Crunches am Boden.

Zu Mittag Salätchen, Sparghetti Pomodoro, Brombeer-Mousse. Wie schon nach dem Frühstück krückelte ich in der Parkanlage umher, das Wetter war grau und kalt, aber ohne Regen.

Großer Programmpunkt des Nachmittags: Wäschewaschen. Waschpulver hatte ich in einem Schraubglas dabei, Waschmünzen kaufte ich an der Rezeption, den Weg zur kleinen Waschküche im Schwimmbadtrakt hatte mir meine Tischgenossin beschrieben. Beim ersten Versuch waren beide Waschmaschinen belegt, zeigten aber die Restzeit an. So konnte ich den zweiten Versuch gezielt terminieren.

Während meine Wäsche wusch, holte ich nicht nur den Cappuccino nach, sondern bestellte ein großes Stück Käsekuchen dazu. Beides machte mich fröhlich, außerdem sollte ich damit nicht mehr so lang vor dem Abendessen hungrig werden.

Lektüre von Connie Willis, Doomsday Book. Bald las ich im Fast-forward-Modus, um mich nicht zu sehr über die erzähltechnischen Unzulänglichkeiten zu ärgern: Zum einen fehlt eine direkte Erzählstimme, also werden Informationen alle in Dialoge gepackt, bis zum “Hans, der, wie du weißt, dein Vater ist”-Blödheitsgrad. Zum anderen ist alles viel zu lang und und ausschweifend ausgeschrieben: Noch eine Person, die nie wieder auftaucht, noch ein Raum, noch ein innerer Monolog ohne Substanz, jede Bewegung wird in viel zu vielen Schritten erzählt – man könnte mindestens 30 Prozent streichen. Gab’s da keine Lektorin?

Zum Nachtmahl hatte ich den Couscous-Salat bestellt, mit einer Spinatsuppe davor wurde ich satt.

Abendunterhaltung nach der Tageeschau war weiter der Roman; wenn ich kursorisch auf der Suche nach Handlung las, war er ganz interessant.

die Kaltmamsell

Journal Samstag, 10. Oktober 2020 – Ich lerne Faulsein

Sonntag, 11. Oktober 2020 um 7:55

Da schau her: Schlafmittel macht Schlaf! Ich wachte nur wenige Male halb auf, weil ich mich vor lauter Entspannung fast auf die operierte Seite drehte. Ach, das hole ich mir doch gleich nochmal, diesmal mit Ausschlafen.

Ich aß sogar einen Happen zum Frühstück. Vormittags schien unter zuziehendem Himmel nochmal die Sonne, ich nutzte sie zu einem Spaziergang.

Als ich kurz vor Mittag eine kleine Geräterunde im Sportraum absolvierte (alles außer Hüfte), fing es an zu regnen.

Zu Mittag Reiberdatschi mit Apfelmus und Himbeeren. Ein süßes Mittagessen ist zwar nichts, was ich mir sonst aussuchen würde, aber ich wollte wirklich nicht das Fleischgericht. Davor Zwiebelsuppe, zum Dessert ein Stückchen Kirschkuchen, ich wurde sehr satt.

Ein herrlich fauler Tag. Kurz nach dem Mittagessen wurde ich müde: Siesta! Ich schlief tief, erwachte erschrocken aus einem grusligen Alptraum (Horrorfilmoptik bei Angriff von Maikäfer-Scharen).

Um nicht zu viel zu sitzen (schlecht für neue Hüfte), setzte ich mich zum Zeitunglesen auf mein Bett, das einen verstellbaren Kopfteil hat. Auslüften bei kleiner Draußenrunde im leichten Regen.

Weiterlesen.

Abends machte ich die Bekanntschaft mit der regierenden Katze, von der ich bereits reden hatte gehört.

Zum Abendbrot gab es köstliches Antipasti-Gemüse.

Spät im Bett begann ich neue Lektüre: Connie Willis, Doomsday Book.

Weil in Rebecca Makkais The Great Believers Krankenversicherung eine so große Rolle spielte und überhaupt: Ich fühle mich derart privilegiert, in einem System zu leben, in dem diese ganze riesige Hüft-Aktion widerstandslos von einer gesetzlichen Krankenkasse beglichen wird. (Jajaja, Verbesserungsbedarf an vielen Ecken, heute aber mal grundsätzlich.) Modernste Diagnostik, verlässliche Pflege, sorgfältige Ärztinnen und Ärzte, mehr als ausreichend zu essen und zu trinken, alle nötige Medikation und medizinisches Verbrauchsmaterial, und jetzt auch noch drei Wochen Reha (die allerdings gezahlt von der Deutschen Rentenversicherung). Im weltweiten Vergleich ist das sensationell.

§

Spaß beim Denken: Physikerin Sabine Hossenfelder erklärt, warum die Vorstellung von “Freiem Willen” Unsinn ist – das wiederum kein Grund zur Sorge.

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https://youtu.be/zpU_e3jh_FY

via @mspro

die Kaltmamsell

Journal Freitag, 9. Oktober 2020 – Gelassenheit und Rebecca Makkai, The Great Believers

Samstag, 10. Oktober 2020 um 9:28

Anstrengende Nacht mit zweistündiger Schlafpause, die ich irgendwann halt lesend verbrachte. Ich stand früh auf und nutzte die ruhige Zeit der Stationspflegerinnen, sie um Hilfe beim Anziehen des Kompressionsstrumpfs zu bitten (den DARF ich nicht allein anziehen). Die Helferin versicherte mir, dass das Tragen bald sehr viel besser werde, vor allem wenn es bereits morgens mit noch nicht geschwollenen Beinen beginne. Sie hatte recht.

Nach dem Frühstück erster Spaziergang – Anschlussversuche durch herzliche Einsilbigkeit abgewehrt. Vögel im noch ausgeschalteten Springbrunnen beobachtet, zum Teil beim Waschen: Amseln, Kleiber, Rotschwanz, und überm See Möwen.

Keine Möwe.

Lesen auf dem Zimmer bis zum einzigen Vormittagstermin, ein paar getrocknete Aprikosen gefrühstückt. Der Termin umfasste weitere Einweisung in Sportgeräte. Unter anderem wurde eine Reihe Oberkörper-Maschinen für mich eingestellt, die darf ich sogar täglich. Als Frau Physio vom Vortag mich ohne Krücken zwischen den Geräten gehen sah, war sie begeistert: “Nach sieben Tagen!” Plauderei mit dem Trainer unter anderem über die mangelnde Datenbasis vieler Sportgesundheits- und Trainingstipps. Die Einrichtung wird offensichtlich auch von Berufssportlerinnen und -sportlern genutzt: An der Wand bei der Anmeldung Fotos mit handgeschriebenen Danksagungen von prominenten Menschen, deren Namen sogar mir vertraut waren (und meine Zuguck-Sportkenntnis endet ungefähr bei Martina Navratilova und Klaus Allofs).

Charmantes Detail: Gesund für mein Hüftgelenk ist eine Sitzhaltung, bei der die Füße relativ eng stehen, die Knie aber auseinander fallen – fast genau die Sitzhaltung, die ich als Kind hatte, bevor man sie mir als ungehörig (ich erinnere mich nicht mehr an den Wortlaut) aberzog. Die Beine übereinander zu schlagen ist mir noch länger untersagt als das Abknicken der Hüfte über 90 Grad – was mir auch gestern nochmal erklärt wurde. Diesmal mit der Gelenkkapsel, die bei der OP stark verletzt wurde und jetzt erst wieder zusammenwachsen muss – idealerweise eng und dicht, um auch langfristig eine Luxation zu verhindern.

Mittagessen: Senfeier mit Spinat und Kartoffeln (vorher Salätchen, nachher Blaubeerquark). Ich war etwas verdutzt, dass die Senfsoße mit Rotisseursenf aromatisiert war und deshalb nicht wirklich nach Senf schmeckte, aber besser als gar kein Senf.

Eine Pflegerin brachte mir den nächsten Therapieplan aufs Zimmer, die nächste Woche sieht schon interessanter aus.

Über einem Cappuccino las ich in der Cafeteria Rebecca Makkai, The Great Believers aus – bis zuletzt gefiel es mir sehr gut. Mehr unten.

Erneuter Spaziergang. Dabei kam endlich das Gefühl an, dass ich erst mal nichts muss. Selige Gelassenheit.

Der eben verstorbene Herbert Feuerstein hat seinen Nachruf selbst hinterlassen. Ich sah ihn über die ARD-Mediathek an.

Vor dem Abendessen bat ich im Schwesternzimmer um eine Schlaftablette – und schämte mich eigenartigerweise dafür. DAs MüsSeN wIr uNS mAl GeNaUEr AnSehEN. (Psychoanalyse hat meine Reflexionsfähigkeit beschädigt.)

Nachtmahl war Matjes Hausfrauen Art, allerdings mit gekochten statt Bratkartoffeln – schmeckte gut!

§

Wie kann man die verheerendsten Jahre der AIDS-Epidemie in den USA literarisch verarbeiten? Es gibt wohl nicht viele, die das bislang versucht haben. Rebecca Makkai hat sich für ihren Roman The Great Believers klugerweise dafür entschieden, sie zum sehr dominanten, aber technisch doch Hintergrund für zwei Geschichten mit eigenem Spannungsbogen zu machen.

Der eine spielt in Chicago 1983-1991. Im Zentrum steht der junge schwule Yale Tishman, der mit dem Voranbringen einer Kunstgalerie beauftragt ist. Um ihn die gay community Chicagos, sein Partner Charlie gibt das größte Schwulenmagazin heraus. Während Yales Alltag durch das Thema AIDS bestimmt wird (wer wurde wie getestet, soll man überhaupt, wer ist wie krank, Entwicklung von Medikamenten, wer bezahlt), steht er vor einem sensationellen beruflichen Durchbruch: Die greise Verwandte seiner Freundin Fiona bietet der Gallerie eine Reihe von Zeichnungen weltberühmter Maler an, die sie aus ihrer eigenen Künstlerzeit im Paris der 1910er und 20er besitzt. Daraus entwickelt sich eine explizite Parallele zum Ersten Weltkrieg, der eine ganze Generation junger Talente auslöschte – so wie AIDS es jetzt tut.

Die Protagonistin des zweites Spannungsbogens im Jahr 2015 ist diese Freundin Fiona: Sie fliegt von den USA nach Paris, um ihre erwachsene Tochter zu suchen – diese hatte vor einigen Jahren den Kontakt abgebrochen. Wieder lesen wir über eine Künstlerszene, erleben Schwulsein 30 Jahre später.

Makkai ist deutlich zu jung (*1978), um eigene Erinnerung an das Grauen der Todesschneise zu haben, die AIDS schlug (kurze Erinnerung daran, dass es immer noch keinen Impfstoff gibt, diese Pandemie ist noch nicht vorbei). Selbst habe ich mich seinerzeit zwar mit der politischen Seite befasst (Stichworte Gauweiler vs. Süssmuth), auch mit der medizinischen, doch zum Glück musste ich keine Freunde wegsterben sehen. Doch Makkai schafft einen intensiven Eindruck von Zeit und Thema, mit vielschichtigen Charakteren und Zwischentönen, mit Zeitkolorit ohne Stereotypen (dass es in den 80ern Zauberwürfel und Walkmen gab, ist deutlich weniger wichtig als die Abwesenheit von Mobiltelefonen: ständig muss jemand nach einer Telefoniergelegenheit suchen). Die zweite Geschichte 2015 wirft die bedrückende Frage auf: Wie schlägt das Trauma der Überlebenden auf die nächste Generation durch?

Gutes Buch.

die Kaltmamsell

Journal Donnerstag, 8. Oktober 2020 – Erste Bekanntschaft mit Kompressionsstrumpf

Freitag, 9. Oktober 2020 um 7:54

Mittelgute Nacht, vielleicht lasse ich mir zum ersten Mal im Leben ein leichtes Schlafmittel geben, um mich an den Schlaf von früher erinnern zu lassen. Das Kopfweh werde ich wohl als Dauerbegleiter akzeptieren müssen (trinke genug, bekomme eigentlich ordentlich Schmerzmittel).

Zwei medizinische Termine noch vor dem Frühstück. Ich irrte ein wenig durchs Haus, weil die Raumnummern keiner äußeren Logik folgen, sondern auf geheimnisvolle Weise den Patientenzimmernummern zugeordnet sind: Wenn ich fragte “Ich muss zu Raum F3, wo ist denn der?” wurde ich von erfahreneren Insassinnen erst gefragt, welche Funktion der habe (Arztzimmer, Stationszimmer etc.), dann nach meiner Zimmernummer. Diese Kombination ergab dreimal korrekte Hinweise. Überhaupt hielt man sich bei Untersuchungen nicht mit Namen auf, ich lernte schnell, mich mit meiner Zimmernummer vorzustellen.

Frühstück in einem der beiden konsequent verzirbelnussten Restaurants (Angstellte alle in Dirndln). Die einzelnen Plätze sind mit Plexiglas-Wänden auf den Tischen getrennt, ich fand meinen an einem Zweiertisch. Das bedeutet deutliche erschwerte Kontaktvermeidung, denn je mehr Menschen an einem Tisch, desto einfacher kann sich eine wegducken. Da ich mit Krücken unterwegs bin, musste ich mir vom Personal helfen lassen; ich bat lediglich um süßen Schwarztee, Rückkehr zu alten Essgewohnheiten.

Blick aus meinem Zimmer.

Die Unterlagen der Klinik, die mir bereits vor Wochen nach Hause geschickt worden waren, enthielten auch Zugangsdaten für eine eigene App, mit der ich mir meinen Therapieplan auf dem Smartphone anzeigen lassen könne. Ein ausgezeichnetes Mittel gegen die Zettel-Schlamperei, die ich 2019 in der Reha erzeugt hatte. Also holte ich sie mir aufs Telefon, klickte und meldete ich mich durch die Anmeldebildschirme. Ergebnis: “Sie haben heute keine Termine” – der Therapieplan auf Papier listete vier auf.

Vormittags erster Termin Physiotherapie, mich begrüßte eine herzliche junge Frau und stellte sich vor. Heller Lichtblick: Jetzt fühlte ich mich gut aufgehoben und nicht mehr als Zimmernummer. Persönlich, freundlich, zugewandt, mir wurden viele Fragen gestellt, ich bekam viele Fragen beantwortet, und auf die Feststellung, dass ich bis Ende der Woche nur noch einen weiteren Bewegungstermin hatte, sorgte Frau Physio gleich mal für eine Maschineneinweisung am selben Tag. Am schärfsten betonte sie das Verbot des Beugens/Abknickens des neuen Gelenks in den ersten drei Monaten – na gut, dann nehme ich das halt ernster.

Zurück auf dem Zimmer Ärztevisite. Die Narbe sehe wunderbar aus, die Schwellung sei unwesentlich. Zu Letzterem hakte ich nach, weil ich die operierte Seite als deutlich dicker ist als die gesunde empfinde. Die Ärztin erklärte mir Hintergründe und welche Symptome tatsächlich Sorge machen würden – ich war beruhigt.

Die spontan eingeschobene erste Maschineneinweisung kollidierte allerdings mit dem Mittagessen. Ich snackte vorher eine Orange vom Frühstücksbuffet und eine Hand voll Nüsse aus meinem Notbestand, so ging’s. Im Sportkeller zeigte mir ein aufmerksamer Physio einige spezielle Hüft-Übungen, die ich in einer Einheit am Freitag intensivieren darf, setzte aber energisch das Wochenende als sportfreie Ruhetage an (“Alltagsbewegung” darf ich aber, ich habe gefragt): “Die aus Garmisch san so guad operiert, dass imma glei joggen woin.”

Gegen den Hunger setzte ich mich in die Cafeteria zu einem mächtigen Stück Kirschstreusel (sehr gut und sättigend) an Capucchino (mittel). Das hob tatsächlich bis zum Abendessen kurz vor sieben.

Das Wetter war herrlich, ich erkundete im warmen Sonnenschein die Grünanlage der Rehaklinik mit See-Anschluss – das erste richtige Draußen seit einer Woche.

Es gab sogar eine hauseigene Kapelle – wo ich der böse gebeutelten DonnerBella das versprochene Opferkerzerl aufstellen konnte. (Beim zugehörigen Ave Maria kniff ich allerdings, so weit geht mein Voodoo-Glaube nicht.)

Zurück im Zimmer war ich bettschwer: Eine Stunde Siesta, tief und erholsam.

Vorm Fenster Amseln, Spatzen, Mönchgrasmücke.

Einen Termin hatte ich noch, nämlich zur Anpassung eines Kompressionsstrumpfs für das operierte Bein. Bis gestern freute ich mich, dass ich die OP ohne größere Hämatome überstanden hatte. Doch als ich nach dem Grunde für diesen Termin fragte, deutete jemand auf die Rückseite des Beins. Hahaha nein, von hinten in den Spiegel hatte ich nicht geschaut, das, äh, oh.

Ein Exemplar für meine Maße hatte Herr Orthopädiehaus gleich dabei und zog ihn mir an. Angenehm ist was Anderes, das wurde über die nächsten Stunden auch nicht besser. Noch verstehe ich nicht, warum ich dem Hämatom nicht die Zeit zum Abbau geben soll, die es halt braucht und bilde mir ein, dass meine arme, ohnehin misshandelte Oberschenkelmuskulatur jammert: Das auch noch!

Hungrig ging ich kurz vor sieben zum Abendbrot. Das letzte Gericht, das ich mir noch nicht selbst hatte aussuchen können, war “Gemischte Streichleberwurst, Cornichons, Laugensemmel” – only in Bavaria?

Ich nahm’s als Variation des Brotzeit-Brettls und wurde gut satt.

Noch ein Spaziergang im Park: Herrliche Luft, wenn auch sehr kalt. Sehnsüchtig blickte ich ins erleuchtete, aber leere Schwimmbad.

§

Der diesjährige Physiknobelpreis an unter anderem Robert Penrose ist ein schöner Anlass, Aleks Scholz’ Text von 2012 hervorzukramen:
“Mein Leben mit Roger Penrose”.

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Zum Chemienobelpreis 2020 an Emmanuelle Charpentier und Jennifer Doudna schreibt in Spektrum Lars Fischer Erhellendes, sowohl zur ausgezeichneten Entwicklung der Genschere CRISPR-Cas9 als auch zum Gehackel um die damit verbundenen Rechte:
“Zwischen Patentstreit und Gentech-Debatte”.

Auch die menschliche Seite der Entwicklung beleuchtet für die Süddeutsche Katrin Zinkat (€):
“Korrekturen im Code des Lebens”.

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Und so begab es sich, dass ich meine Geburtsstadt lobend hervorhob: Ingolstadt will das Ernten von stadteigenen Obstbäumen fördern und erleichtern.
“Ein Herz für Kirschdiebe”.
Kindheitserinnerungen, wie ich mit einer Freundin zu den Kirschbäumen an der Gerolfinger Straße radelte, mithilfe der Radln raufkletterte und mich satt aß – damals sicher, dass ich gerade schlimmen Diebstahl beging.

die Kaltmamsell