Archiv für August 2023

Journal Donnerstag, 24. August 2023 – Das Blog wird 20

Freitag, 25. August 2023

Es ist ein wenig gruslig: Gestern wurden es 20 Jahre, dass ich dieses Blog Vorspeisenplatte schreibe.

Es hat mich durch so viele Lebens- und Online-Phase begleitet:

Leben:

  • Zunächst während meiner Arbeit und in der Zweitwohnung in Augsburg
  • Rückzug nach München, die Jahre des Augsburg-Pendelns
  • Kurzer Arbeitsabstecher nach Karlsfeld, dann vereinigten sich Wohnen und Arbeiten in München
  • Die Jahre in dem großen Maschinenbauunternehmen
  • Die Lebenskrise “Wie bin ich da nur hingeraten und wohin will ich eigentlich?”
  • Das Jahr Auszeit mit der Erkenntnis: Ich will meine Ruhe, entsprechende Berufsplanung mit Ziel der Sicherung Lebensunterhalt
  • Die Jahre als Sekretärin in einer PR-Agentur und jetzt in einer Forschungsorganisation

Online:

  • Start, als das Web noch so wenig genutzt wurde, dass es noch nicht mal als etwas für junge Leute galt. Meine Generation Blogger*innen waren eher die Technik-Affinen, Neugierigen, die Internet meist bereits von Newsgroups, Foren und E-Mails über die halbe Welt kannten. Wir bekamen Einblicke in fremde Lebenswelten aus erster Hand, es entstanden erste Freundschaften (und Lieben) auf der Basis gegenseitigen Bloglesens.
  • Erste, vor allem negative, Aufmerksamkeit etablierter Meinungsführer, siehe “Klowände des Internets”. Aber auch die Deutsche Welle, die mit “Best of the Blogs” diese neue Form des Berichtens ohne Gate Keeper feierte, dieses “everybody has a voice”.
  • Erste Aufmerksamkeit der Wirtschaft (erinnern Sie sich, wie eine Zeit lang gefühlt alle Kommunikationsagenturen ihren Kunden Blogs als unabdingbaren Teil ihrer Website verkauften?), aber auch erste Versuche, mit Blogs Geld zu verdienen.
  • Mit Etablierung großer Online-Plattformen wie MySPace, Facebook, Twitter hieß diese Art der Webnutzung “Social Media”, und die Nische Blogs wurde noch nischiger. Gleichzeit funktionierte die Vernetzung, intellektueller oder persönlicher Art oder im besten Fall beide Arten, über Twitter intensiver und schneller.

Bis halt zur Dominanz der Kommunikationsmöglichkeiten im Web durch Brüller und Populisten. Mit böser Absicht, so stellte sich schon vor 10, 15 Jahren heraus, lassen sich die neuen Publikations- und Interaktionsformen des Web, die “Social Media” am effizientesten nutzen.

Doch ich harke und gieße hier immer noch mein kleines Bloggärtchen vor mich hin, in einem selbst gehosteten und entspannt irrelevanten Eckchen des Web, im selben Design wie vor 20 Jahren (Dank an das Blogheizelmännchen Herrn Kaltmamsell, der das möglich macht), seit mittlerweile zehn Jahren nahezu täglich.

Sollte mich dieser Tage ein 50-Tonner überfahren, bitte ich um einen Grabstein mit QR-Code zu diesem Blog.

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Gestern Wecker eine halbe Stunde früher gestellt: Ich hatte eine Einheit Yoga-Gymnastik nachzuholen. Ich wachte sogar davor auf, merkte aber schon am Vormittag, dass mir Schlaf fehlte.

Balkonkaffee im Dunklen – und Schwülen, ich spürte fast keine Morgenfrische. Was ich allerdings spürte: Die mächtige Makrele vom Vorabend, quer im Bauch, der wohl immer noch seine Mühen damit hatte.

Die Yoga-Einheit erwies sich als perfekt für diesen Morgen: Die Folge “Soften” bedeutete lange, sanfte Dehnungen, und ich stellte fest, wie viel besser das morgens geht – ich gelangte langsam und von selbst in einen noch nie gekannten Grad der Hüftdehnung.

Der Marsch in die Arbeit war angenehm, die Oktoberfest-Beschilderung um die Theresienwiese wird dichter (noch drei Wochen bis Ausbruch). Den Werbeplakaten nach zu urteilen, ist das zentrale Feature der diesjährigen Oktoberfest-Verkleidung für Frauen ein Mieder-Verschluss per Reißverschluss vorne.

Im Büro umgehende Emsigkeit, am Vortag waren Unklarheiten aufgetaucht, die zwar in meiner Abwesenheit ein wenig geklärt wurden, allerdings kannte ich das gesamte Thema noch gar nicht und musste recherchieren.

Mittags raus in die Schwüle für Käsekauf am Markt sowie schnellen Cappuccino in der Nachbar-Cafeteria. Spätes Mittagessen: Aprikosen, Nektarine, Buttermilch (habe ich selten Lust drauf, genieße sie dann aber sehr). Eine Folge: Buttermilchkoma, ich wurde sehr wenig produktiv. Das legte sich zum Glück nach einer Stunde.

Arbeit musste so oder so gemacht werden. Nach Feierabend in unangenehmer Schwüle nach Hause. Nach Abkühlen mit Räumen turnte ich die eigentliche Yoga-Gymnastik des Tages.

Abendessen von mir, weil Donnerstag Ernteanteil-Abholtag ist: Eichblatt-Salat, Tomaten, Gurke mit Joghurtdressing. Dann eine ausführliche Runde Käse, Nachtisch Schokolade.

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Lesenswertes Interview mit einem der führenden Köpfe meines einstigen Studienfachs Englische Literaturwissenschaft (gibt’s in Deutschland nicht mehr), Elisabeth Bronfen, unter anderem zur Veränderung des Studiums in den vergangenen Jahrzehnten und dem Missbrauch wisseschaftlicher Begriffe in nicht-wissenschaftlichen Diskussionen.
“‘Was mich am meisten erstaunt, ist die hartnäckige Fähigkeit, zu verdrängen'”.
via @Hystri_cidae

Viel Liebe für: “Wenn nur sehr wenig gelesen wird, fällt die Diversität auch zum Fenster raus.”

Ich möchte bitte verdrängen, dass ihr Werk Over her dead body vor bereits 30 Jahren erschien. (Ich bin offiziell alt.)

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Stephan Noller kenne ich seit vielen Jahren (siehe oben) aus dem Mitmach-Web als Unternehmer, Erfindern und sehr konstruktiven Optimisten. Deshalb las ich interessiert seinen Hinweise zu Kapitalismus als mögliches Werkzeug gegen das Fortschreiten der Klimakatastrophe:
“Sofort wirksam:
Nur so geht der Kampf gegen die Klimakrise”.

Journal Mittwoch, 23. August 2023 – Freier Tag am Chiemsee und im Hirschgarten

Donnerstag, 24. August 2023

Ein wenig unruhig geschlafen, Grund eine Mischung aus Wärme und Wein. Nach einem Aufwachen um fünf fuhr ich ein wenig Sorgenkarussell, schlief aber vor Weckerklingeln nochmal leicht ein. Weckerklingeln am freien Tag wegen Plänen: Eher früher Aufbruch Richtung Prien am Chiemsee, abends zurück in München in den Hirschgarten.

Erstmal gab es Morgenkaffee auf dem Balkon, es kündigte sich ein heißer Tag an mit Gewitterneigung. In kurzen Hosen und Sandalen marschierte ich mit Herrn Kaltmamsell zum Bahnhof, kurz vor neun fuhr der Zug Richtung Chiemsee ab (Sitzplatz kein Problem).

In Prien war die Luft frischer als in München, doch die Sonne brannte bereits heftig und unangenehm. Wir spazierten zum Bootsableger, ich füllte meine Wasserflasche gleich mal neu auf, das Schiff zur Insel Herrenchiemsee legte kurz darauf ab.

Auf Herrenchiemsee wurde gerade – Stroh angeliefert?

Blick vom Anlegesteg in den herrlich klaren Chiemsee. Die Fische konnte ich noch fotografieren, doch als ich weiterging, zeigte Herr Kaltmamsell nochmal in den See: Unter Wasser schwamm ein Haubentaucher! (Herr Kaltmamsell hatte ihn vor dem Abtauchen identifiziert.) Zu meiner Überraschung schlug er die Beine in Frosch-Bewegungen, nicht etwa paddelnd.

Wir spazierten hoch zum Schloss Herrenchiemsee, ich hatten am Vortag Tickets für eine Führung (man kommt nur mit Führung rein) kurz vor zwölf gesichert.

Hier wurde eine neue Technik zur Abwehr des Buchsbaumzünslers getestet.

Schlimme Zeiten waren das, in denen Echsen und Schildkröten als Arbeitstiere ausgebeutet wurden.

Es war noch Zeit für Frühstück: Eiskaffee.

Und für einen kleinen Spaziergang im schattigen Wald.

Die Führung durchs Schloss hatte ich im Mai vergangenen Jahres schonmal mitgemacht, Herr Kaltmamsell noch nie. Doch die junge Frau, die uns die Schlossräume diesmal zeigte (Fotografieren immer noch verboten), setzte durchaus andere Schwerpunkte als der Herr vergangenes Jahr; ich fragte mich erstmals, ob die Guides wohl ihre Texte selbst verfassen und lediglich freigeben lassen? Dennoch hätte ich mir mehr Zeit zum Gucken von und mehr Informationen zu Details gewünscht. Gibt es wahrscheinlich nur unter Fachleuten bei Sonderführungen. Interessant und neu war mir unter anderem, dass bezahlte Führungen durch Schloss Herrenchiemsee bereits kurz nach dem Tod Ludwig II. angeboten wurden – als ein Weg, seine enormen Schulden abzuzahlen.

Worauf ich bei diesem Besuch auf Herrenchiemsee besonders gespannt war: Die neue Ausstellung zu 75 Jahren Verfassungskonvent im Augustiner-Chorherrenstift.

Der Sitzungsraum des Konvents, mir wurde recht feierlich.

Die Inhalte der Ausstellung (deutsch und englisch) fand ich gut ausgesucht: Vorgeschichte und Ausgangslage, Rolle der Besatzungsmächte, zeitlicher Ablauf bis zu den Verfassungen von BRD und DDR, zentrale Fragen des Prozesses (u.a. wer soll sie erarbeiten? mit welchen Vorgaben? wer soll sie wie ratifizieren?), zentrale Fragen des Inhalts (u.a. welche Basiswerte? welche Wirtschaftsform?), ein paar wenige Exponate. Zeitgemäß wurde interaktiv und mit verschiedenen medialen Präsentationsformen gearbeitet – nicht immer nutzungsfreundlich: Wenn zum Beispiel die Schrift zu den Schritten eines Ablaufs nur mit einem Schieberegler erhellt wird, der Rest dunkel bleibt – kann sie halt immer nur eine Person lesen. Und die Lösung, die vielen Einzelfragen mit einem kontaklosen Händewinken an der Wand auszusuchen und lesbar zu machen, kam der Spielfreude besuchender Kinder entgegen und dem Rätsellösungsvergnügen mancher Erwachsener (z.B. Herrn Kaltmamsells) – ließ aber die Inhalte untergehen.

Auch diesmal erwischten wir ein Boot bei Ankunft am Steg, nämlich das zur Fraueninsel.

Sie war der eigentliche Grund des Ausflugs. Vor zwei Jahren hatte ich dort im Bootshaus der Keramik-Künstlerin Iris Stoff Porzellan gesehen, das mir sehr gefallen hatte, und war sehr stolz darauf gewesen, dass ich nichts davon gekauft hatte, weil: Nicht noch mehr Zeug. Nur dass mir ihre Vasen mit schwarz-roten Fischmotiven seither nicht aus dem Kopf gegangen waren. Also spazierten wir um die Insel mit dem Ziel dieses Bootshauses.

Alpenkette im Hitzedunst.

Wir trafen die Künstlerin wie auch vor zwei Jahren bei der Arbeit an: Sie saß über ein kleinen Dose aus weißem Ton und bemalte sie gerade mit einem bunten, floralen Muster. Die Auswahl an Objekten mit Fischmotiv war nicht mehr groß, aber jetzt besitze ich eine kugelige Vase damit (Foto davon, wenn ich rausfinde, wie ich sie gebührend in Szene setze).

Der Heimweg war etwas anstrengend, vor allem wegen der Hitze: Mit dem Schiff über Gstad und Herrenchiemsee zurück nach Prien, dort erneutes Wasserflaschenauffüllen, zu Fuß zum Bahnhof, Warten auf dem ungeschützten Bahnsteig auf den verspäteten Zug zurück nach München, der dann komplett überfüllt war, ab Rosenheim zumindest Bodensitzplatz.

In München brachten wir lediglich die kostbare Vase nach Hause, setzten uns dann gleich in eine Tram zum Hirschgarten.

Jetzt aber Essen: Herr Kaltmamsell besorgte zu unseren Radlermassen Spare Ribs für ihn und für mich eine Makrele frisch vom Steckerl (wunderbar saftig), die große Breze teilten wir uns.

Viecher jenseits des Zauns gab’s auch.

Yoga-Gymnastik stand gestern mit diesem vollen Bauch außer Frage. Daheim noch Schokolade zum Nachtisch, ich nutzte den Abend zum Verfassen des Blogposts.

Journal Dienstag, 22. August 2023 – Josephine Tey, The daughter of time

Mittwoch, 23. August 2023

Diese Aufnahme von mir als knapp Achtjährige macht etwas mit mir. Ich mag dieses Mädchen und ich frage mich, wo die Frau ist, die dieser Blick, dieses Körperbewusstsein versprachen einmal zu werden. Selbst bin ich irgendwann in eine andere Richtung abgebogen, aus jedem Kind können ja die unterschiedlichsten Erwachsenen werden. Aber irrationalerweise vermisse ich diese Frau schmerzlich, ich hätte sie gern kennengelernt.

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Ein sehr anstrengender Tag. Den ich wie jedes Jahr am liebsten übersprungen hätte, aber so funktioniert das Leben nicht, genau das nehme ich ihm ja übel.

Nochmal Balkonkaffee in der Dämmerung, die Luft bereits bedrohlich warm. Wie geplant nahm ich das Rad in die Arbeit, um bei Bewegung im Freien meinen Kreislauf nicht zu sehr mit der Hitze zu strapazieren.

Emsiger Arbeitsvormittag, der Aufbruch zum Mittagstermin wäre mir gemächlicher gelungen, hätte ich ihn nicht 30 Minuten zu früh gestartet. Musste also diese Zeit vorm Enthaarungsladen totschlagen, kaufte halt und aß zu Mittag ein Laugenzöpferl, die 30 Minuten reichten leider nicht, um den Ärger über meine eigene Blödheit zu veratmen. Vielleicht sollte ich dankbar sein, dass so meine Grundgereiztheit des Tages wenigstens ein Ziel hatte. Grundgereiztheit plus Hitze nahmen mir Appetit: Als mein Magen gegen fünf doch schon wieder knurrte, wurde ich böse.

Das Wachs war diesmal sehr heiß gewesen, meine Beine brannten noch bis in den späten Feierabend. An dem ich mit vollverkrampftem Gemüt durch Föhn-heiße Sonne nach Hause radelte, Zwischenstopp im Vollcorner für nötige Einkäufe.

Daheim Herrn Kaltmamsell mit kurzem Anknurren signalisiert, dass Abstand ratsam war. Jetzt galt es noch, den Abend rumzukriegen. Der Ernteanteil war weggegessen, absichtlich schnell und effizient, damit wir die letzten Sommerabende für Draußengastronomie nutzen konnten. Bei Lokalsondierung am Vorabend hatten wir festgestellt, dass drei Stationen auf unserer Wunschliste für unter der Woche gerade wegen Urlaubs geschlossen waren: Schnitzelgarten, Melina, Pizza bei Il Ritrovo an der Lindwurmstraße. Ich hatte also in meine umfassendere Restaurantliste “Mal ausprobieren” geklickt und in der fußläufig erreichbaren Goldmarie reserviert (wundervoller Name, Speisekarte erfreulich Gemüse-lastig).

In meiner gestrigen Verfassung hatte ich darauf überhaupt keine Lust, hatte aber die Reservierung per automatischer E-Mail-Nachfrage bereits bestätigt und wollte mich GEFÄLLIGST NICHT SO ANSTELLEN (das ist der Tonfall, den ich in dieser Verfassung mir gegenüber drauf habe).

Bis dahin (es war nur noch ein später Tisch nach acht zu haben gewesen) schlug ich die Zeit mit Maniküre, Yoga-Gymnastik, Romanlesen tot. Mit Herrn Kaltmamsell spazierte ich die Lindwurmstraße entlang zum Restaurant, er lenkte mich mit Beobachtungen zu seiner derzeitigen Lektüre ab, Bov Bjergs Der Vorweiner; es stellte sich zu meiner Überraschung heraus dass, Bov und Herr Kaltmamsell viel gemeinsame Lese-Vergangenheit haben müssen.

Nächste Ablenkung: Alkohol.

Ich suchte uns einen burgenländischen Gemischten Satz Aus den Dörfern von Rosi Schuster aus der kleinen, ausgesuchten Weinkarte aus: Wundervoll würzig und rauchig. Tat seine medizinische Wirkung (endlich ein Stückchen Entspannung) – und passte überraschend gut zu meiner Vorspeise, einer mächtigen Artischocke (die berüchtigt schwer mit Wein zu kombinieren ist – merken).

Herr Kaltmamsell aß gebratene Semmelstoppelpilze auf Sauerteigbrot.

Hauptgang war für Herrn Kaltmamsell ein Bollito misto (Tafelspitz, Polpette und Zunge vom Rind), ich aß sehr gute Linguine alla Norma.

Daheim nur noch ein wenig Schokolade und kurze Planung des nächsten Tags: Ich hatte mir frei genommen, um einen der letzten Sommertage für einen Ausflug auf den Chiemsee zu nutzen.

§

Ein ganz hinreißender britischer Krimi, veröffentlicht 1951. In Josephine Teys fünftem Roman aus der Reihe um einen Inspector Grant beschränkt sie seinen Wirkungsradius auf ein Zimmer: ein Krankenzimmer, in dem der Inspector nach einem Unfall liegt. Ihm ist schrecklich fad, so versorgt ihn eine Freundin, Marta, von Beruf Theaterschauspielerin, mit Drucken historischer Portraits: Grant ist besonders gut darin, Menschen ihre Persönlichkeit am Gesichtsausdruck abzulesen – und bleibt an einem Portait von Richard III. hängen; er sieht in seiner Wahrnehmung so ganz anders aus, als was Briten sofort zu ihm einfällt. Und so beginnt er zu ermitteln, woher diese Diskrepanz kommt, ob die schlimmen Dinge, die man sich über Richard erzählt (u.a. Bruder und zwei kleine Neffen umgebracht), überhaupt stimmen.

Das ist ganz großartig erzäht: In Zeiten vor Internet muss der Ermittler auf Bücher zurückgreifen und vergleicht einige Darstellungen des relevanten historischen Abschnitts, von Zeitgenossen über historischen Roman bis Kindergeschichten. Er befragt mit nahezu derselben Erntshaftigkeit wie Zeugen anfangs das Krankenhaus-Personal, wie diese die Zusammenhänge aus dem Schulunterricht in Erinnerung haben – und was sie von dem Portraitierten halten. Einges davon widerspricht sich, manches widerspricht belegbaren Fakten.

Unterstützung bekommt er von einem Doktoranden am British Museum, der für Grant Quellen sucht und prüft. Schnell geht es nicht nur um Richards Geschichte, sondern überhaupt um die Diskrepanz zwischen wirkmächtigen Geschichten, die als “historisch” angesehen werden, und überprüfbaren Fakten. Indirekt führt der Roman wundervoll vor, wie Quellenarbeit in der Geschichtswissenschaft funktioniert. Oder investigativer Journalismus.

Die wenigen Live-Figuren des Romans sind lebendig und glaubwürdig gezeichnet, allerdings auch über die personale Erzählweise und Grants Sicht mit Hang zum Misogynem. Als Easter Egg lässt Josephine Tey sich selbst auftauchen: Marta berichtet bei ihren Besuchen immer wieder von einer Theaterautorin, die sie dazu bekommen möchte, ein Stück für sie zu schreiben, die aber schon wieder statt dessen irgendeinen Krimi schreibt. (Josephine Tey ist das Pseudonym von Elizabeth Mackintosh, die unter einem anderen Pseudonym Theaterstücke verfasste.)

Und wie so oft in Genre-Literatur erfährt man Zeithintergrund eher aus Versehen, unter anderem:
– Dass in damaligen Krankenhäusern das Pfegepersonal im Haus wohnte (und es keine verheirateten Krankenschwestern gab).
– Dass in den Patientenzimmern geraucht wurde.
– Dass Patient*innen damals im Krankenhaus geheilt wurden und erst dahezu genesen entlassen. (Das hatte ich tatsächlich vergessen: Dass die “blutige Entlassung” Folge der letzten Gesundheitsreformstufe mit ihren Fallpauschalen war.)

Der Titel des Romans bezieht sich übrigens auf ein Sprichwort, das ihm vorangestellt ist:

Truth is the daughter of time.

(Ganz schön optimistisch.)

Herr Kaltmamsell hatte den Krimi schon vor drei Jahren gelesen und dazu gepostet, mit völlig anderen Schwerpunkten als ich.

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Zuguck-Fußball interessiert mich auch weiterhin nicht, egal von wem gespielt. Aber mich interessieren Mechanismen, die Frauen unterdrücken. Zum Beispiel der Übergriff gegen eine spanische Nationalspielerin. Nora Hespers analysiert für sportschau.de:
“Fußball-WM: Ein Kuss als Machtdemonstration”.

…warum sie sich nicht gewehrt hätte? Ihre Antwort: “Was hätte ich denn tun sollen?” Ja, was hätte sie tun sollen? Rubiales, dem Verbandschef vor den Augen der Weltöffentlichkeit eine Ohrfeige verpassen? Hätte sicherlich für ein großes Hallo gesorgt.

Aber wahrscheinlich ging es ihr, wie es vielen Frauen in diesen Situationen geht: Sie war schlicht überrumpelt. Denn eigentlich, so könnte man meinen, sollten Frauen gerade im Rampenlicht vor derartigen Übergriffen sicher sein. Sind sie aber nicht. Und das sagt viel darüber aus, was Männer für “normal” halten, was sie sich erlauben können – und Frauen eben nicht.

Überrumpelung gemischt mit dem innigem Wunsch, das sei gerade einfach nicht passiert. Und wenn ich so tue, als sei es nicht passiert, geht es vielleicht weg.

Weil ein großer Teil der Menschen immer noch denkt, das sei “ja nicht so schlimm” und “nur ein Kuss, da muss man kein Drama draus machen”. Es geht nicht um den Kuss. Es geht um das Machtgefälle. Und in diesem Machtgefälle ist dieser Kuss ein Akt der Gewalt. Allein schon deshalb, weil der Kopf von Hermoso so festgehalten wird, dass sie dem gar nicht ausweichen kann.

Journal Montag, 21. August 2023 – Hitze wie zwei Gläser Rotwein auf nüchternen Magen

Dienstag, 22. August 2023

Dann doch mal Balkonkaffee vor der Arbeit, es war gestern bereits vor Sonnenaufgang ziemlich warm.

Preis für das sonntägliche Wandervergnügen an der Mangfall: Wanderkrätze (nein, keine echte Krätze), diesmal oberhalb von Stiefelschaft und Socken. Ursachen der Purpura d’effort sind immer noch unbekannt, in meinem Fall scheidet ja auch “ungewohnte Belastung” aus.

Herrlicher Marsch in die Arbeit, ich saugte mit allen Poren Sommer auf.

Vormittags war ich aber sehr dankbar für mein schattiges, kühles Büro, ging für Mittagscappuccino nur kurz zur Nachbar-Cafeteria.

Mittagessen: Birchermuesli mit Joghurt, außerdem Pfirsich und Nektarine. Zum wiederholten Mal schlug sich die Hitze auf meinen Bauch, mit Unruhe und leichter Übelkeit – das erlebe ich dieses Jahr zum ersten Mal. Schon wieder das Alter?

Über den Nachmittag drang die Draußen-Hitze dann doch ins Büro, machte das Atmen schwer und ließ meine Finger anschwellen (wenn ich einmal morgens einen Ring anstecke…). Ich sah mich schon am Dienstag das Rad nehmen, denn da habe ich einen Mittagstermin 25 Minuten zu Fuß vom Büro entfernt, der könnte geradelt angenehmer zu erreichen sein. Bei entsprechendem Anlass erinnerte ich mich, dass dieses eine Damenklo im Sommer der kühlste Ort des Stockwerks war (und im Winter der wärmste). Die Hitze hatte eine ähnliche Wirkung auf meine Produktivität wie zwei Gläser Rotwein auf leeren Magen. Minus Gaudi.

Fast pünktlicher Feierabend, damit mich die S-Bahn an den Marienplatz und noch zu Sprechzeiten in eine Artzpraxis zum Abholen von Rezepten bringen konnte. In dieser Hitze waren fünf zusätzliche Warteminuten am Bahnsteig mindestens so ungemütlich wie bei großer Kälte.

Arznei-Rezepte abgeholt, anschließend ging ich Einkaufen im wunderbar klimatisierten Kaufhaus nebenan: Ich sah mich in der Unterwäsche-Abteilung nach BH-Schnitten ohne Schalen um, die ich gerne mal anprobieren wollte – um besser zu verstehen, was zu meiner seit zwei Jahren anderen Brustgröße passt. Erfolgreich. Bei dieser Gelegenheit (ich mag Kaufhäuser wirklich) im Untergeschoß gute Schokolade besorgt.

Langsamer Heimweg zu Fuß, damit die Hitze nicht wieder meinen Kreislauf beutelte. Zu Hause nach ein wenig Rumräumen die Yoga-Gymnastik des Tages: Eine kurze Kraft-Einheit für Bauchmuskeln und Hüftbeuger.

Sie werden sich fragen: Wie kann man bei dieser Hitze Appetit haben? Hatte ich aber, Herr Kaltmamsell hatte den großen Chinakohl aus Ernteanteil mit Bandnudeln und Lachs, Sahne, Kresse in ein köstliches Abendessen verwandelt. Nachtisch Schokolade.

Im Bett (ich wechselte auf Bettüberzug ohne Innendecke) Start einer neuen Lektüre: Melanie Raabe, Die Falle. Ich hatte in der Woche zuvor ein Interview mit der Autorin gelesen, in dem sie unter anderem geäußert hatte, dass sie von Anfang an Thriller ohne Brutalität und Blutströme schreiben wollte. Nachdem genau diese Komponenten mir vor einiger Zeit das Thriller-Lesen vermiest hatten, kaufte ich gestern (derzeit bin ich für fünf Bücher, die ich gerne lesen möchte, in der Münchner Stadtbibliothek vorgemerkt und muss noch warten) ihren Erstling.

§

Wahrscheinlich sollte ich mich freuen, dass die VG Wort so wenig von meinem Geld für ihr METIS (Registrierungs- und Meldeportal der VG WORT) ausgibt und anscheinend alles selbst strickt. Aber ein Portal, das über Wochen täglich mehrere Stunden “wegen Wartungsarbeiten” nicht zu erreichen ist? Vielleicht dannn doch Geld für Profis in die Hand nehmen?

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Nicht nur Autos tun gut daran, sich nicht zu sehr aufs Navi zu verlassen: Wandern per GPS-Track kann in ebenso große Gefahren führen.
“Falsche Wege: Wann Wander-Apps gefährlich werden können”.

Mir ist beim Wandern am liebsten die Kombination aus guter Ausschilderung und GPS-Track bei Unsicherheiten.

Journal Sonntag, 20. August 2023 – Kühle Schluchten an heißen Tagen

Montag, 21. August 2023

Wieder ein freier Tag mit Weckerwecken: Ich war mit einer Freundin zum Wandern verabredet, sie hatte diese Tour “Durch den Teufelsgraben ins Mangfalltal” ausgesucht. Vorher nahm ich mir noch die Zeit für gemütlichen Balkonkaffee zum Bloggen, während die Sonne über die Dächer der Stadt kam – und die Ausläufer einer Partynacht im Park mit lauten Gesprächen die Morgenstille durchschnitten.

Gründliche Sonnencremung, im Rucksack extra viel Wasser, Schirmmütze, Sonnenbrille zum Schutz gegen den angekündigten heißen Tag.

Startpunkt unserer Wanderung war der S-Bahnhof Kreuzstraße (seltsamer Ortsname, ich lernte erst vor Kurzem, dass das eben kein Straßenname ist). Wegen der derzeitigen Sperrung der S-Bahn-Stammstrecke trafen wir uns um neun an der Donnersbergerbrücke, um mit Regionalbahnen und einmal Umsteigen dorthin zu kommen.

Schon den Weg dorthin durch den Hochsommermorgen genoss ich sehr.

Augustinerbrauerei von hinten.

Zum ersten Mal seit Eröffnung über den Arnulfsteg für Fuß- und Radverkehr.

Es wurde eine wundervolle Wanderung, der feuchte Schatten der Schluchten und an der Mangfall war ideal für den gestrigen heißen Tag. Lediglich der letzte Abschnitt des Rückwegs, der nur auf Straßen, am Ende gar auf Landstraße und ohne Sonnenschutz führte, war nicht ideal – bei einer Wiederholung würde ich vermutlich für den Rückweg einfach dieselbe schöne Strecke wie hinzu nehmen, schließlich wirkt ein Weg aus verschiedenen Richtungen ganz unterschiedlich. Außer uns waren einige weitere Wanderleute unterwegs, auch ein paar Mountainbikern mussten wir ausweichen.

An einer Stelle mussten wir uns quer durch den Wald schlagen: Umgestürzte Bäume hatten den eigentlichen Pfad direkt an der Mangfall verstellt, wir konnte nicht mal die Fortführung des Wegs jenseit des Hindernisses erkennen. Doch er ging weiter, nachdem wir die Stelle den Hang hinauf umklettert hatten.

Nach zweieinhalb Stunden kehrten wir im wunderschönen Biergarten der Maxlmühle ein, ich trank ein kühles und erfrischendes alkoholfreies Weißbier. Die Speisekarte sah sehr attraktiv aus (allerdings Wirtshaus-typisch fleischbetont), um uns herum wurde unter der weitest ausladenden Kastanie, die ich jemals gesehen habe (die alten Äste gestützt durch Holzsäulen) zu Mittag gegessen. Auch hier zeigte sich der Personalmangel in der Gastronomie (wie in allen anderen Branchen – wo sind die Leute?): Großes Schild am Eingang, das um Verständnis für weniger Sitzplätze bat, in der Speisenkarte um Verständnis für Wartezeiten aufs Essen – dabei war der Service ganz besonders herzlich und aufmerksam.

Geboten wurden auf der Wanderung neben Schatten, saftiger Flora und Landschaft aufregende Tiersichtungen, die Freundin hatte gestern einen besonders guten Blick dafür: Eine kleine Schlange/Schleiche im Zufluss zu einem Kanal, drei Frösche auf dem Weg – der Knaller waren allerdings die ersten Tiere, die uns kurz nach Start entgegen kamen:

Yep, in dieser Gegend hat’s Kamele.

Die Mangfall.

Mehr Mangfall.

Einer von drei gleichen Fröschen auf dem Weg – Braunfrosch?

Zurück in Kreuzstraße setzten wir uns in die kühle, bereits wartende S-Bahn – sie fuhr zwar erst eine halbe Stunde später, doch mangels Mobilfunknetz fanden wir nicht heraus, ob eine Regionalbahn uns früher nach München bringen würde. Hätte sie, wie wir sahen, aber wir saßen gut und hatten einander noch genug zu erzählen.

Heimweg über Neuperlach Süd, Umstieg in die U-Bahn, zu Fuß vom Stachus nach Hause. Ich freute mich über die wohltemperierte Wohnung und eine ausgiebige Dusche. Gegen den Hunger einen schnellen Eiweißriegel eingeschoben; um halb fünf war es sogar mir zu spät für Frühstück, und ich wusste ja, dass ein gutes Abendessen auf mich wartete.

Ein paar Kleidungsstücke gebügelt für die vermutlich letzten heißen Sommertage (ab Freitag soll’s kühl werden), eine Runde Yoga-Gymnastik.

Das gute Abendessen war Rachel Roddys Picnic Pie mit Mangold aus Ernteanteil (halbe Menge, Teig mit Olivenöl, Füllung ohne Pancetta weil unnötig, mit Ricotta statt der Ei-Option) – ausgesprochen köstlich und befriedigend. Nachtisch Eiscreme und Gummibärchen.

§

Sehr schönes Foto des Saltdean Lido (der bei unserem Besuch im Juli noch nicht ganz fertig restauriert war) – und die Hintergrundgeschichte.

Journal Samstag, 19. August 2023 – Vergessener Familien-Pfiff

Sonntag, 20. August 2023

Beim zweiten Klogang hätte ich eigentlich noch 45 Minuten bis Weckerklingeln (weil Pläne) gehabt, doch ich sah, dass mich die Waschmaschine mit ihrem Fertig-Piepen eh wahrscheinlich in 10 Minuten wecken würde – da legt ich mich nicht nochmal hin.

Lohn war ein gemütlicher Morgen trotz Plänen, nämlich mittäglichem Grillen bei meinen Eltern: Sie feierten 40 Jahre Einzug ins eigene Haus. Nach dem Wäscheaufhängen also Morgenkaffee auf dem Balkon mit aufgehender Sonne und schön frischer Luft. Früher als geplant war ich lauffertig und freute mich sehr auf eine Runde an der Isar.

Ich radelte auch diesmal an die Wittelsbacherbrücke, beim Start der Lauferei war es erst acht. Ich bekam herrliche Sommermorgendüfte, wunderschönes Licht, leichtfüßiges Laufen.

Keine Fotos vom idyllisch ausgeleuchteten Flaucher: Dort lagen bereits kurz nach acht die Nackerten auf den Kiesbänken. (Gibt es noch eine Großstadt, in der “die Nackerten” eine eigene Bevölkerungsgruppe darstellen? Habitat in München: Englischer Garten und Kiesbänke der Isar.)

Ich schaffte es, mich auf 75 Minuten Lauf zu beschränken, radelte nach dem Dehnen munter und schmerzfrei heim. Gemütliches Fertigmachen, nach Ingolstadt brachte uns ein gut gekühlter und pünktlicher Regionalzug, Lektüre der Wochenend-Süddeutschen.

Es war ein richtig heißer Sommertag, an dem ich jede Sonne mied. Bei meinen Eltern wurde in kleinerem Familienkreis (meine Schwiegers, Bruders Schwiegermutter) gegrillt; den Posten am Grill übernahm erstmals Herr Kaltmamsell, damit meine Eltern sich um ihre Gäste kümmern konnten. So gab es Sardinen, Garnelen, Pulpo, Lammkoteletts, Schweinefilet, dazu Sößchen, gutes Brot, Kichererbsensalat, Salat aus grünen Bohnen. Im Glas erst Aperol Spritz, dann spanischer Weißwein (ein Verdejo aus Rioja).

Kurz vor unserem Aufbruch in München hatte ich auf Mastodon diese Meldung gelesen:

Ja, hatten wir (Vater-Mutter-Bruder-ich) auch: Drei Töne, nämlich Grundton, Quint nach oben, dann Terz nach unten. Darüber rief mein Vater zum Beispiel im Supermarkt nach uns, aber auch sonst, vor allem im Urlaub – fand ich immer sehr praktisch zur Orientierung. Ich nutzte gleich die Gelegenheit des gestrigen Besuchs bei meinen Eltern, um sie danach zu fragen.

Leider stellte sich heraus, dass mein Vater sich nicht daran erinnerte – und meine Mutter informierte mich, dass sie sich diesen Familien-Pfiff verbeten habe: Sie sei so erzogen worden, dass Pfeifen etwas Unanständiges sei.

Herr Kaltmamsell verbindet mit Familien-Pfiffen lediglich die Trapp-Familie. Hat hier sonst noch jemand einen eigenen Pfiff in der Familie?

Rückweg wieder durch große Hitze zu Fuß, in klimatisierter Regionalbahn (restliche Wochenend-SZ, Roman), letztes Stück in München durch große Hitze.

Der Hopfen steht gut!

Daheim Abkühlen (wir hatten vorm Verlassen der Wohnung alle Jalousien herabgelassen und nur Fenster in den Innenhof gekippt), dann turnte ich eine Folge Yoga-Gymnastik.

Sogar Abendessen gab es noch! Ich machte aus Ernteanteil-Aubergine Baba Ganush, aber mit Haselnussmus statt Tahini (kann man sehr gut!), Herr Kaltmamsell antipastierte die Zucchini aus Ernteanteil mit einer roten Chili. Dazu Brot, danach Pfirsich und Schokolade.

In der letzten Dämmerung auf dem Balkon nach Fledermäusen Ausschau gehalten – in kurzer Zeit gleich mal vier gesehen.

Auf Bluesky bin ich jetzt also auch, ebenfalls als Kaltmamsell. Bislang nicht sehr aktiv, weil ich mich auf Mastodon gut eingerichtet habe. Einen Invite Code hätte ich aber zu vergeben, möchte jemand? Ist vergeben!

Journal Freitag, 18. August 2023 – Gedanken zu mehreren Büchern

Samstag, 19. August 2023

Mir waren am Vorabend früh die Augen zugefallen, aufgewacht nach einer mittelruhigen Nacht eine halbe Stunde vor Weckerklingeln.

Ich marschierte früh in die Arbeit, Himmel eher bewölkt. Doch über den Vormittag setzte sich der Sonnenschein durch.

Nach Langem mal wieder einen Flüssig-Lippenstift aufgetragen, der nicht “superstay” war: Verdutzung beim deutlichen Abdruck auf dem Rand der Teetasse.

Mittagscappuccino an neuem Ort: Ich hatte das Café Colombo angesteuert, doch schon von Weitem an der fehlenden Außenbestuhlung gesehen, dass es geschlossen war. Doch es gibt ja in drei Ecken dieses großen Wohngebäudes mit Innenhof Cafés, ich kehrte in das ein, das ich noch nicht kannte: Die Leckerei.

Überdurchschittlich guter Cappuccino.

Mittagessen später am Schreibtisch: Tomate und Pfirsich, Pumpernickel mit Butter, Banane. Draußen entstand ein heißer Sommertag, doch durch die kühlen Nächte blieb weiterhin der Aufenthalt im Schatten gut erträglich.

Pünktlicher Feierabend, über Einkäufe inklusive Supermarktblumen nach Hause. Dort wieder meine Runde Yoga-Gymnastik – ich merkte (auf Yoga: “nahm wahr”), dass unter der selbst auferlegten Täglichkeit die Freude daran leidet: Manchmal bin ich einfach nur froh, dass es rum ist. Nach diesen 30 Tagen kehre ich sicher wieder zurück zum vorherigen Modus: Immer wenn ich mag, also vier bis fünf Mal die Woche.

Aber jetzt war erstmal Wochenende. Herr Kaltmamsell hatte zum Aufbrauchen des Erdbeer-Gins nochmal Erdbeeren besorgt.

Aufenthalt auf dem Küchenbalkon nur fürs Foto, erst zwei Stunden später hatte es draußen genug für offene Fenster abgekühlt. Große Eiskugeln aus den Formen, die mir mein Bruder mal geschenkt hat – und die ich genau für diese Gläser sehr schätze.

Zum Nachtmahl hatte Herr Kaltmamsell ein Rezept aufgegriffen, das ich ihm wie so manche andere aus Interesse zugeworfen hatte: Frische Makrele in Saor, also auf venezianische Art. (Wir hatten uns gegen das übliche Freitagsfleisch entschieden, weil es am Samstag bei meinen Eltern große Mengen gegrilltes Fleisch geben würde.)

Das Süßsaure, die Rosinen und die Pinienkerne passten wunderbar zur Makrele. Dazu gelbe Tomaten aus Ernteanteil mit Olivenöl und Wurzelbrot vom Zöttl. Im Glas der Rest Elbling Karl Sonntag von der Mosel, den Herr Kaltmamsell fürs Rezept verwendet hatte und an dessen Geschmack ich mich von meiner Mosel-Wanderung erinnerte. (Passte aber gar nicht zum Gericht.)

Als Nachtisch gab’s die restlichen Erdbeeren, Schokoladeneis, Eierlikör. Und noch Schokolade.

Früh ins Bett, um Josephine Tey, The Daughter Of Time weiterzulesen. Ich bin begeistert und kann als Freundin guter Erzählstruktur nachvollziehen, dass laut Wikipedia die englische Autorenvereinigung Crime Writers’ Association das Buch zum besten Kriminalroman aller Zeiten gewählt hat.

Glück oder geschicktes Filtern? In den vergangenen Jahren meines Online-Lebens habe ich praktisch nie Aufrege-Wellen auf instagram/Twitter/Mastodon mitgekommen – immer nur Posts und einander bestätigende Diskussionen, die sich über diese Aufrege-Wellen aufregten. (Die nerven schon genug.)

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Der Lokalteil der gestrigen Süddeutschen enthielt eine schöne Reportage über den Nudelschleuderer in “Max’s Beef Noodles” bei uns ums Eck.
“Kneten, falten, ziehen”.

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Zwar schon vor über einer Woche ausgelesen, hier nachgeholt die Besprechung von Julie Orringer, The Flight Portfolio (der dominante Titel Transatlantic auf dem Cover meiner Ausgabe bezieht sich auf die Netflix-Verfilmung).

Der Roman spielt 1940 in Marseille, im Mittelpunkt die historisch belegte Figur Varian Fry: Der US-Amerikaner war damals mit 3.000 Dollar und einer Liste von Künstlern und Schriftstellern dorthin geschickt worden, darunter Max Ernst, Marcel Duchamp, Marc Chagall, um ihnen zur Flucht vor den Nazis zu verhelfen. Schauplatz und historischer Hintergrund zogen mich an, ich kenne viele Flucht-Geschichten dieser Zeit aus der Literatur.

Und ich las den recht dicken Roman durchaus gerne, wollte immer wissen, wie es weiterging. Aber. “Überorchestriert” ist ein Begriff, den ich von einer Jury beim Bachmannpreislesen gelernt habe und hier anwende: In diesem Fall mal zu viele Streicher, nämlich für die zentrale Liebesgeschichte – ich glaube nicht so ganz, dass ein Anfang-30er bei der Wiederaufnahme seiner Beziehung zur College-Liebe über Monate dermaßen emotional außer Kontrolle gerät. Und mal zu viel Blech, nämlich bei der Dramatisierung der Flüchtlingsgeschichten: Sie sind meiner Ansicht nach selbst bei lakonischem Erzählen dramatisch genug (wie unter anderem Friedrich Torberg bewiesen hat). Immer wieder war ich erinnert ans Gucken der 20-Uhr-Tagesschau, wenn Constantin Schreiber die Nachrichten spricht und jede Meldung durch Theater!Betonung! dramatisiert. Überorchestriert meiner Meinung nach auch der Gesamtklang: Die beiden Themen Rassismus und Ausgrenzung Homosexueller in den USA sprengen die ohnehin große Fülle des Romans.

Gleichzeitig störten mich immer wieder unnötige Füllsätze, die den Verdacht erweckten, Orringer sei nach Zeile bezahlt worden. Zum Beispiel wiederholt so oder ähnlich:

Here was the moment they had known would come, the one that had nonetheless seemed infinitely postponable.

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Am Donnerstag ausgelesen: Die aktuelle Ausgabe Granta 164, Last Notes. Einige Texte darin berichten aus dem Kriegsgeschehen in der Ukraine – ich ließ mich auf die Lektüre ein, auch auf die von der Front und aus Krankenstationen mit Kriegsopfern (die ich in Zeitungen meide, weil sie mich überlasten – anders als rein faktenorientierte Berichte). Und ließ ich zu, dass mich nochmal der Schock packte, dass diese Szenarien eines traditionellen Kriegsgeschehens, die ich (bei uns!) als historisch und überwunden annahm, eine zeitgenössiche Neuauflage erfahren, inklusive zeitgenössischen Details, dass man Kriegsversehrte in medizinischer Behandlung vor Fotoapparaten und Filmkameras schützen muss.