Journal Freitag, 26. Februar 2021 – Auf dem Weg zur neuen Wohnung
Samstag, 27. Februar 2021 um 8:08Weitere unruhige Nacht, zumindest ohne deutliche Pausen. Zerschlagen um fünf aufgewacht, bis Weckerklingeln geruht. Den ganzen Tag über fühlte ich mich in der Arbeit bleiern, aber hilft ja nix.
Bevor ich ins Büro aufbrach, wollte ich die beiden Klos in der neuen Wohnung mit Papier ausstatten (ich hatte am Vorabend gesehen, dass es ausging) – und begegnete dort den Handwerkern, für die es gedacht war. Kurzer Ratsch.
Seit Anfang des Jahres komme ich morgens am Corona-Testzentrum auf der Theresienhöhe vorbei, das Pandemie-bedingt geschlossene Verkehrsmuseum wird dafür genutzt. Und mit der Zeit glaubte ich eine Korrelation zwischen Länge der Schlange davor und den Münchner Infektionszahlen in den darauffolgenden Tagen zu erkennen. Wenn ich damit richtig liege, macht mir die Länge gestern Morgen Angst. (ICH WILL IMPF!)
Arbeitstag ohne Auffälligkeiten. Als Mittagessen gab es einen Apfel und ein großes Stück Schneekuchen. Wetter weiter sonnig und mild, ein wenig kühler als am T-Shirt-Donnerstag.
Pünktlicher Feierabend, auf dem Heimweg kurzer Einkaufsabstecher für Obst.
Daheim machte ich mich sofort an Umzugs-vorbereitendes Schrubben von Küchenteilen. Wie verabredet brachte die Bruderfamilie auf der Durchfahrt zu einem Wochenendausflug mit dem Auto einen Teppich, Kleinmöbel und Werkzeug vorbei. Wir zeigten die leere neue Wohnung vor und träumten von einer gemeinsamen Nutzung für Feiern.
Herr Kaltmamsell servierte zum Nachtmahl nochmal seine Guacamole mit Nachos und dann ein Goa-Fischcurry mit wunderbar saftigen Fischstücken. Dazu gab es einen spanischen Sauvignon. Nachtisch Schokolade.
Vielleicht muss ich mir eingestehen, dass der Wechsel der Home Base nach 21 Jahren mein befindliches Gesamtsystem doch mehr mitnimmt, als die Vernunft es bei einem Umzug im selben Haus! vorausgesehen hätte. Dabei weiß ich, wie wichtig Wohnen für mich ist, der durch und durch vertraute Ort, an dem ich nur mit mir selbst zu tun habe und am wenigsten angestrengt einfach sein kann. Und jetzt steigt wieder die Furcht auf, dass hinter dem robusten Haudegen, als der ich mich einordne, ich Wirklichkeit ein komplett unbelastbares Prinzesschen auf der Erbse steckt.
Im Bett las ich weiter in meiner aktuellen Lektüre, Anke Stellings Roman Bodentiefe Fenster. Mich nahm ihre bittere Hilflosigkeit mit. Bereits nach den ersten Kapiteln habe ich den Verdacht, dass die Schilderungen des Lebens in einem Mehrgenerationenhaus in Berlin einerseits realistisch sind, ich andererseits nicht mitbekomme, welche Wertung die Darstellung impliziert: Diese Art des Erwachseins, das Kinderhaben definitorisch einschließt, inklusive Aussicht auf Enkelkinderhaben, war mir immer sehr fern. So fern, dass es für mich nie “eine Entscheidung gegen Kinder” gab. Weshalb ich mich auch nie mit der Ausgestaltung dieser klassischen Art des Erwachsenseins beschäftigt habe und davon ausgehe, dass die Leute sich das halt so ausgesucht haben, wie sie es leben – Menschen sind verschieden. (Politisch möchte ich aber schon, dass es dafür möglichst große Wahlfreiheit gibt und dass den Kindern, die ja per Definition kein Mitspracherecht bei der Beteiligung durch Geborenwerden hatten, nichts Böses geschieht.) Mit all den Zwängen und all der Zerrissenheit, die Stellings Hauptfigur Sandra lebt, stelle ich mir das vor: eigene Familie zu haben.
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Passgenau zu meiner aktuellen Lektüre: Ein Essay von Daniela Dröscher über die deutsche Mittelklasse – Begriff, Definition, aktuelle Entwicklung.
“‘Ich bin zwar privilegiert, aber immerhin nicht reich'”.
“Mittelschicht” erscheint auf den ersten Blick auch deshalb angemessener, weil die Mittelklasse nach Karl Marx eine Klasse ohne Bewusstsein von sich ist. Eine Klasse lebt, anders als die Schicht, von einem Wir-Gefühl.
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Das einzige verbindende – aber sehr wesentliche – Kriterium ist die Lohnabhängigkeit. Die Abwesenheit von nennenswertem Kapital, also Besitz und Anlagen. Angehörige der lohnabhängigen Mittelklasse, die aufhören zu arbeiten, müssen früher oder später Sozialleistungen in Anspruch nehmen.
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In der alten Mittelklasse garantieren Fleiß und solide Arbeit den Erfolg. Lebensideale sind ein geregeltes Auskommen, ein Eigenheim, eine sichere Rente. In der neuen hingegen dominiert das Ideal des Besonderen; die harten Währungen sind Einzigartigkeit und Originalität. Erstrebenswerter als materielle Statussymbole sind Zustände der Sinnhaftigkeit.










