Journal Samstag, 26. Oktober 2019 – Nusstorte, The Testaments und Abend im Neni

Sonntag, 27. Oktober 2019 um 9:06

Ausgeschlafen, nach nur wenigen Unterbrechungen erfrischt aufgewacht.

Das Wochenende war als nochmal zwei Sommertage angekündigt, mit wolkenloser Sonne und bis zu 20 Grad. Vor einem halben Jahr hätte das selbstverständlich mindestens einen Wandertag bedeutet, aber das geht halt jetzt nicht. Mir wird immer klarer, wie sehr sportliche Bewegung für mich auch Aneignung des Draußen und der dinglichen Welt bedeutet.

Nach Veröffentlichung des Blogposts buk ich, und zwar die Engadiner Nusstorte nach dem Kommentar von Frau Weh. Funktionierte problemlos, ich hatte sogar Chaigewürz zum Drüberstreuen im Haus. Da ich für den Deckel der Torte die Ausstech-Variante wählte, blieb genug roher Teigrest als Frühstück.

Ins Draußen ging ich für Einkäufe, schön langsam.

Mehl und Honig im Biosupermarkt, Meisenknödel am Viktualienmarkt. Auf dem Rückweg wollte ich einen Schlenker zu einem neuen Supermarkt in der Sendlinger Straße machen, auf den ich neugierig war – aber das Gehen war nach einer halben Stunde so verkrampft und mühsam geworden, dass ich lieber kürzeste Wege nahm: Wasserfilter, Klopapier, Pflaster in der Hofstatt – wo ich entdeckte, dass im Obergeschoß ebenfalls ein neuer Supermarkt aufgemacht hatte.

Zurück daheim aß ich einen aufgetauten Bagel mit Lachs und den restlichen Fenchel-Orangen-Salat vom Vorabend. Ich hatte schon während meiner Einkaufsrunde immer wieder gegähnt und war sehr müde. Herrn Kaltmamsell ging es auch so – vielleicht hat uns der Erkältungsvirus doch noch am Wickel. Ich legte mich ins Bett und schlief anderthalb Stunden tief.

Ein wenig Lesen im sonnendurchfluteten Wohnzimmer.

Die Blumen sind das Geschenk eines Gasts des Rosenfests: Wir bekommen alle paar Monate einen Strauße geschickt – eine bezaubernde Idee.

Zum Abendessen lud ich Herrn Kaltmamsell zum Dank für seine Dienste als Blogheinzelmännchen zum Essen ein. Er hatte sich unter meinen fünf Restaurantvorschlägen das Neni am Hauptbahnhof ausgesucht. Der Gastraum ist groß und vor allem hoch, aber ziemlich düster (das mag tagsüber durch die Oberlichter anders sein); er war gesten Abend gut besucht – was für eher plauder-unfreundliche Lautstärke sorgte.

Wir wurden freundlich und aufmerksam umsorgt und aßen sehr gut Nahöstliches auf der Basis des Haus-Menü “Best of Neni”: eine Auswahl von Vorspeisen, Hauptspeisen und Desserts. Dazu bestellte ich eine Flasche Pouilly Fumé ‘Les Moulins à Vent’, der mit kräftigem und vielfältigen Aroma gut gegenhalten konnte.

Vorspeisen waren (von unten): eine warme Kürbissuppe (mit Scharf), Falafel, Babaganusch, Mango-Hummus.

Von unten: Sabich, Tomate mit Bohnen, Hamshuka.

Korean Fried Chicken Salad.

Als Dessert Cheesecake und ein sahniges Tiramisu. Nahöstlichen Mokka zum Abschluss bot die Karte leider nicht.

Ich fand auch das Gesamtkonzept interessant (Neni ist eine Kette – was wahrscheinlich saisonales und regionales Sourcing verhindert), von der Raumgestaltung und Deko bis zur Servierform, zu sonstigen Abläufen und der Kleidung der Angestellten war alles offensichtlich durchdacht.

Diesen Teil der Einrichtung musste ich dringend fotografieren: Das sind die Küchenstühle meiner frühen Kindheit.

Dieses Foto von mir müsste 1973 aufgenommen worden sein.

Wir flanierten über die Sonnenstraße nach Hause, es war immer noch so warm, dass wir unsere Jacken nicht schließen mussten.

Im Bett las ich Margaret Atwoods The Testaments aus. Ich bleibe auch nach Abschluss der (durchaus interessierten) Lektüre dabei: Kommt nicht im Entferntesten an The Handmaid’s Tale heran. Atwood gibt im Nachwort ja zu, dass der Roman eine Antwort auf die Frage der Leserinnen und Leser ihres Meilensteins ist: Wie ging es weiter? Die einzige neue kreative Note, die sie dem Kosmos aus The Handmaid’s Tale gibt, ist die der Aunts, klar gestaltet nach dem Vorbild mittelalterlicher bis frühneuzeitlicher Frauenklöster: Damals die einzige Möglichkeit für Frauen, sich zu bilden, intellektuell zu verwirklichen – und eine Form von Macht auszuüben.

Für den Guardian schlüsselt Julie Myerson meiner Meinung nach besonders gut auf, warum The Testaments unterm Strich eine Enttäuschung ist (Achtung Spoiler):
“The Testaments by Margaret Atwood review – hints of a happy ending”.

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Wie eine türkische Stadt einen komischen Mitbürger integriert, erzählt als Twitter-Thread.

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Fetzige Musik, Video featuring @journelle im rosa-schwarzen Badeanzug.

https://youtu.be/ARX6L9AZF3w

die Kaltmamsell

Journal Freitag, 25. Oktober 2019 – Neue, viel bessere Schmerzen

Samstag, 26. Oktober 2019 um 9:07

Eine sehr schlechte Nacht – zumindest schlafe ich nach dem Aufwachen (diesmal wieder wegen Schmerzen, die LWS-Muskulatur brachte mich zum Aufjaulen) immer gleich wieder ein. Aber mittlerweile drehen sich sogar meine Träume um schlechten Schlaf.

Dieses neu freigeschaltete Feature Muskelschmerzen überm Po ließ mich kaum aufrecht stehen – aber wenn ich dann mal stand, konnte ich plötzlich fast schmerzfrei gehen und Treppen steigen. Ich bin immer noch bereit, das alles als Entwicklung zu sehen, als Zurechtjuckeln des gestörten Muskel- und Fasziensystems (eingeklemmte Nerven fühlen sich anders an, das kenne ich auch).

Fahrradfahren war am Donnerstag vielleicht ein bissl zu früh nach dem kleinen chirurgischen Eingriff gewesen (sagte das Pflaster-Orakel), also nahm ich wieder den Bus. Ich hörte den Boatpeople-Podcast zu Ende: Minh Thu Tran und Vanessa Vu reflektieren über den Umgang ihrer eigenen, zweiten Generation mit den Flüchtlings- und Einwanderungsgeschichten ihrer Eltern. Besonders hilfreich: Vanessa gibt ganz konkrete Tipps, wie man ein Gespräch mit den eigenen Verwandten über ihre Geschichte am geschicktesten anfängt. Sie erinnert aber auch daran: Hauptsache die Geschichte heben und bewahren, bevor es zu spät ist.

Arbeitstag mit Aufregungen, die ich nicht lösen konnte – die auch eigentlich nicht in meiner Verantwortung liegen, doch ich kriege den Impuls nicht weg, alles für eine Lösung zu tun, selbst wenn das eigentlich niemand erwartet (wundert sich noch jemand, warum ich ungewollt Karriere gemacht habe?).

Mittags eine Breze, Granatapfelkerne mit Joghurt. Nachmittagssnack Apfel und Nüsse.

Ich machte pünktlich Feierabend und spazierte langsam in warmer Sonne heimwärts. Unterwegs besorgte ich Ginger Beer für abendliche Longdrinks, bem Verdi Obst und Artischocken.

Herr Kaltmamsell war noch unterwegs, ich bastelte den elaborierten Text für eine Essenseinladung, deren Idee durch ein bestimmtes Kochbuch ausgelöst worden war. Abendessen war zum einen Artischocke mit leichter Knoblauchmajo (drei Viertel Joghurt, ein Viertel Majo).

Sogar hübschgeschnitten! Drink dazu war Moscow Mule.
Zum anderen briet uns Herr Kaltmamsell Entrecôte, ich hatte den Ernteanteil-Fenchel zu Salat mit Orangen verarbeitet.

Zur Abendunterhaltung guckten wir so richtig linear fern, die letzte Folge der Reihe Unter Verdacht: “Evas letzter Gang”. Nachdem der am Vorabend von der Süddeutschen empfohlene Irlandkrimi mit Desirée Nosbusch doch wieder bloß der übliche deutsche TV-Schmarrn war (es ist vielleicht keine gute Idee, die Handlung wo ganz wo anders spielen zu lassen), blieb ich gestern sehr gern dran. Ich hatte den Anfang der Serie vor 17 Jahren mitverfolgt und mochte schon damals Set-up und Erzählweise, war auch ganz begeistert, dass die erste Folge gleich mal gar nicht gut ausging.

Gestern erinnerte mich das Drehbuch von Stefan Holtz und Florian Iwersen daran, dass es auch wirklich gute deutsche TV-Produktionen gibt. Dazu die Bilder (allein schon das Tableau der korrupten Honoratioren in der Starnberger Villa!), die Erzählweise (immer wieder Dialog außerhalb des Bilds, während das Bild bereits einen Schritt weiter ist, oder Informationsvermittlung durch Bilder, dazwischengeschnitten die Figur, die unhörbar die Bilder jemand anderem erzählt), die Schauspielerinnen und Schauspieler – allen voran die großartige Senta Berger, die in dieser off-type Rolle als Dr. Eva Maria Prohacek in gesichtslosen, hochgeknöpften Klamotten, nahezu ohne Lächeln, zwischen Verunsicherung und Pflichtgetriebenheit, zwischenmenschlich ungeschickt agiert, das war wirklich sehenswert. Der Film steht hier noch in der arte-Mediathek.

die Kaltmamsell

Journal Donnerstag, 24. Oktober 2019 – Smartphone-Detox

Freitag, 25. Oktober 2019 um 6:39

Also auch ich mal auf Kommunikationsdiät: Diesmal vergaß ich mein Handy nicht nur fast, sondern so richtig daheim, ich bemerkte es erst im Büro.
Ein Tag ohne Smartphone – wie war das so?
Am ehesten vermisste ich den Schrittzähler: All die getanen Schritte, die nicht in der Statistik auftauchen würden!
Und jetzt muss ich ein Buch über Digital Detox schreiben, richtig?

Der Tag wechselte zwischen Nebel, Sonne und Wolken. Beim Radeln in die Arbeit war ich froh über meine Handschuhe.

Mittags Tomaten und ein Schälchen Quark mit Maracuja, als Nachmittagssnack Kuchen von einer Bürofeier.

Nach Feierabend Reha-Sport, zum ersten Mal mit Entspannungstraining. Der kleine Raum stellte nur wenige Liegen bereit, die bereits belegt waren, als ich ankam. Der Rest nahm auf Stühlen Platz. Progressive Muskelentspannung kannte ich ja schon, auf einem Stuhl tatsächlich schwieriger als in einem bequemen Liegesessel. Am meisten störte meine Entspannung allerdings die grässliche generische Entspannungsmusik: Andere nützen ihr inneres Rebellentum zum Weltverbessern, mein Rebellenzentrum wird durch die Aufforderung von Entspannungsmusik aktiviert.

Runde durch den Gerätepark, am gestrigen Tag hatte sich die Muskulatur im Lendenwirbelbereich mit der rechten Hüfte solidarisiert und bereitete mir Schmerzen, die Übungen waren kein Spaß.

Daheim wartete Herr Kaltmamsell schon mit Ernteanteilsalat, danach gab es Käse und Schokolade. Ich entkernte noch einen Granatapfel für die Freitagsbrotzeit und ging früh ins Bett zum Lesen – gespannt, was all die Schmerzen mit meiner Nachtruhe machen würden (wider besseres Wissen Ibu genommen, das prompt keine Wirkung zeigte).

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Die Zeit berichtet über eine Studie der Forschungsorganisation More in Common, Die andere deutsche Teilung: Zustand und Zukunftsfähigkeit unserer Gesellschaft:
“‘Die Deutschen wollen Zusammenhalt, aber sie glauben nicht daran'”.

Wir haben für unsere Studie einen nichtklassischen Ansatz gewählt. Wir unterteilen die Befragten nicht nach Alter, Geschlecht oder Einkommen, weil diese Kategorien uns oft gar nicht mehr helfen, Gesellschaft zu verstehen. Stattdessen verschränken wir erstmals Instrumente aus der Sozialpsychologie und der Politikwissenschaft. Die Quintessenz daraus sind die sechs gesellschaftlichen Typen, die wir gefunden haben: Etablierte, Involvierte, Offene, Wütende, Enttäuschte und Pragmatiker.

(Gleich mal das Quiz gemacht: Ich gehöre zu den 16% Offenen.)

die Kaltmamsell

Journal Mittwoch, 23. Oktober 2019 – Alleinkochen, Kleidungsabschied

Donnerstag, 24. Oktober 2019 um 6:58

Wieder viermal aufgewacht, diesmal aber immer nur ganz kurz.

Beim Busfahren in die Arbeit hörte ich weiter Podcast über Boatpeople – vielleicht sind O-Töne über erlebte Flucht und Piratengewalt nicht das Beste für den frühen Morgen, ich kam gleich mal mit nassen Wangen im Büro an.

Der Tag startete wieder neblig, jetzt aber auch kühl. Am Mittag lichtete sich der Nebel, ich bekam nochmal Sonne ins Büro.

Mittags packte ich meinen Bulgursalat aus:

Ich hatte am Vorabend Bulgur mit heißer (löslicher) Gemüsebrühe quellen lassen, in der ich ein wenig Harissa aufgelöst hatte, morgens eine gelbe Paprika, eine große Tomate, Kresse reingeschnippelt, mit einer Hand voll Walnusskernen vermischt. Das Ergebnis war ausgesprochen köstlich, ich wunderte mich mal wieder über das regelmäßig gehörte “Für mich allein lohnt es sich ja nicht zu kochen”. Aber vielleicht hat Essensgenuss für mich einfach einen deutlich überdurchschnittlichen Stellenwert.

Drei Wochen Weihnachtsurlaub eingereicht.

Ein Lieblingsoberteil hatte seine Abschiedsvorstellung. Es war eines von zwei Shirts aus Seidenjersey, die ich vor genau 14 Jahren mit meiner ersten Bestellung beim damals neu entdeckten Wrap London erstanden hatte, und das ich viel und sehr gern getragen hatte. Doch mittlerweile waren die Löcher neben den Nähten zu viele, die Saumkanten hatte sich schon vor Monaten aufgelöst. Um nicht später damit zu hadern, dass ich das Kleidungsstück wegwarf, halte ich zur Erinnerung den Grund fest:

Nach Feierabend war ich im Westend verabredet, endlich sah ich mal das La Kaz von innen. Ich kannte das Lokal vom Vorbeigehen und als Kartoffelkombinat-Verteilerpunkt, jetzt stellte es sich als fröhlicher und gut besuchter Nachbarschaftstreff heraus. Ich aß einen sehr guten Salat mit gebratenem Kürbis und Apfel, hatte sogar Lust aus Alkohol (es wurde ein Moscow Mule) und unterhielt mich über Bahn im internationalen Vergleich (bekam dabei die italienische für weite Strecken empfohlen), Universitätssysteme, Farben, Elterngesundheit.

Nach Hause ging ich zu Fuß, das funktionierte zwar weiterhin nur hinkend, aber ohne große Erschöpfung.

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Gibt es eigentlich schon eine Kolumne namens “Till Raether hat recht”? Sollte es. Beweisstück A:
“Kernseife, rette mich”.

Bei der Klimakrise gibt es im Grunde zwei Meinungen. Die eine ist, die Menschen sollten sehr viel weniger Dinge und Ressourcen benutzen und zwar schleunigst, besser 1970 als heute. Die andere ist, dass das leichter gesagt als getan und auch ziemliche Schwarzmalerei ist, denn man könnte das Klima ja auch mit »Technologien« retten, insbesondere mit »neuen Technologien«: CO2-Abbau-Fabriken, Flugtaxis, irgendeiner Idee, die einem Milliardär schon morgen Vormittag womöglich durch den Kopf schießt. Wer weiß es denn! Leute, seid doch bitte mal ein bisschen optimistisch.

Ich gehöre zum Team 1970, deshalb verhalte ich mich exakt wie Raether (allerdings waren meine Großmütter ganz, ganz anders):

Im Küchenbereich liebe ich die unpraktischen dreieckigen braunen Papiertüten mit Fünfziger-Jahre-Aufdruck, die die Supermarktkette an den Obst-und-Gemüse-Stand gehängt hat, damit es aussieht, als würden sie einen Fuck auf die Umwelt geben. Natürlich weiß ich, dass diese Tüten keine nennenswert bessere Umweltbilanz haben als die aus Plastik, aber es macht mir Freude, darin zu Hause wie meine Oma Küchenabfälle zu sammeln und damit anschließend in einem Wettlauf gegen die Durchsuppung zum Biomüll zu rennen. Und an meine Großmutter erinnert mich auch das Käsepapier, das sie einem im Supermarkt empfehlen, weil es den Comté viel besser frisch hält als die topmoderne Plastikfolie. Vor allem, wenn ich es zur Zweit- und Drittverwertung auf dem Küchentisch glattstreiche und sorgfältig falte, fühle ich mich wie meine Großmutter 1979. Und ich vermeide Energieverschwendung und Plastikmüll.

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Ein sehr ausführlicher und lesenwerter Überblick über die Rolle und Geschichte von Tatöwierungen bei uns von Valentin Groebner im Merkur:
“Der tätowierte Mensch”.

via @malomalo

Bei mir überwiegt die Ratlosigkeit gegenüber diesem Phänomen in unserer Kultur. Nur: Es geht mich halt nichts an, wie andere ihren Körper schmücken. Ich registriere interessiert, dass komplett-tätowierte Arme auch bei noch so spärlicher Kleidung angezogen aussehen, erschrecke hin und wieder, weil besonders kleinteilige und gleichzeitg großflächige Tätowierungen auf den ersten Seitenblick wie schlimmer Ausschlag wirken, lasse mich beim Warten an der Ampel von Gesichtern auf der Wade des Vorderradlers anstarren. Das hat alles nichts mit mir zu tun, ich kann meinen Körper genauso untätowiert lassen wie anderen ihn halt tätowieren.

Die Tätowierten, geht mir im Freibad der friedlichen Schweizer Kleinstadt auf, sind so gesehen Gefangene – gezeichnete Gefangene ihres eigenen Bedürfnisses nach Selbstdarstellung und Niemals-Vergessen, lebenslang. »Glück« hatte eine junge Frau mit Hornbrille und markantem asymmetrischem Haarschnitt in blaugrünen Buchstaben auf ihren Nacken tätowieren lassen. Die Aufforderung »be unique« habe ich auch schon gesehen, zweimal.

Na ja – ich würde in die deutsche Alltagstätowierung eher nicht zu viel hineinlesen. Für manche haben die eigenen Tatoos tiefe Bedeutung, für andere sind sie schlichte Deko – wie bei jedem anderen Schmuck halt auch. Am ehesten neige ich zu diesen beide Schlüsseln aus dem Artikel:
Diedrich Diederichsen: “Selbsthistorisierung.”
Paul-Henri Campbell: “Im Prinzip ist Autonomie der Sinn und Zweck von Tätowierungen.”
Am Ende kommt auch Valentin Groebner zu dem Ergebnis:

Am unverstelltesten und unmittelbarsten geben die Tätowierungen Auskunft vermutlich nicht über die Überzeugungen oder Obsessionen derjenigen, die sie auf sich anbringen lassen. Sondern über die Wünsche derer, die sie interpretieren.

Für mich als Rezipientin werden vermutlich immer die Assoziationen Unterschicht-Gefängnis-Gewalt mitschwingen – doch ich weiß, dass sie aus der Zeit und der Umgebung meiner Kindheit herrühren und lediglich Zuschreibungen sind.

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Sie wissen vermutlich mittlerweile, wie gerne ich die Entlarvung von Gender-Rollen durch Umkehrung mag. Zum Beispiel (Link führt zu Facebook):
BBC: Lazy Susan – Women behave like men in bars.

die Kaltmamsell

Journal Dienstag, 22. Oktober 2019 – Podcast über Boat People, Kent Haruf, Eventide

Mittwoch, 23. Oktober 2019 um 7:07

Wieder eine viermal unterbrochene Nacht. Nachdem mir in der Nacht zuvor unter der Winterdecke viel zu warm gewesen war, hatte ich mich mit einer leichteren zugedeckt – und fror. Diesmal war die Winterdecke richtig. Aber ich würde gerne mal wieder durchschlafen, wo mich doch gar nicht mehr Schmerzen wecken, sondern ich einfach so viermal pro Nacht glockenwach bin (zum Glück dann recht schnell wieder einschlafe).

Fahrradfahren ließ ich nach dem dermatologischen Rumschnippeln besser sein, nahm also wieder den Sightseeing-Bus 62. Der steckte dann wegen einem ungeschickt geparktem Lieferfahrzeug im Stau, es war klar, dass das länger dauern würde. Mir fiel ein, dass viele auf dem Arbeitsweg Podcast hören, also kramte ich meine Kopfhörer hervor und suchte nach einem Podcast, den ich auf der Merkliste für Bügelbegleitung hatte: Rice and shine, die Folge über Boat People. Ich hörte mal los.

In der Einführung skizziert Vanessa Vu den geschichtlichen Hintergrund Vietnams im 20. Jahrhundert – nein der Krieg mit USA-Beteiligung war nicht der einzige. Ich erinnere mich sehr gut an die zeitgenössischen Berichte über Boat People, der Schiffsname Cap Anamur fiel mir ein, bevor er im Poscast erwähnt wird – für mich ist er ikonisch. Allerdings war ich erstaunt über die Jahreszahl 1979 – ich hatte die Rettungsfahrten der Cap Anamur früher in den 70ern vermutet. Hoffentlich habe ich bald Gelegenheit, den Rest anzuhören.

Draußen war es warm und neblig. Der Nebel hielt sich den ganzen Tag, doch ich brauchte keine Socken in den Schuhen. Im Büro weiter lustige Temperaturachterbahn. Wenn diese Beschreibung von Hitzewallungen korrekt ist, habe ich allerdings keine: Es ist mir einfach vorübergehend sehr warm.

Mittags Birchermuesli mit Joghurt und einer Mandarine, nachmittags ein heimischer Apfel und eine Scheibe Bananenmarmorkuchen.

Zurück nahm ich eine U-Bahn zum Stachus, weil ich noch im Biosupermarkt Brotzeit für die nächsten Tage einkaufen wollte. Daheim setzte ich mich nur kurz, bald brach ich mit Herrn Kaltmamsell zum Treffen meiner Leserunde in Neuperlach auf.

Wir hatte Kent Haruf, Eventide gelesen und hatten es alle sehr gemocht. Der Roman ist der mittlere einer Trilogie, die in einem kleinen Ort des US-amerikanischen Bundesstaats Colorado spielt. Kapitelweise wird von verschiedenen Haushalten erzählt, darunter die beiden alten Brüder mit der Landwirtschaft, die ein schwangeres junges Mädchen aufgenommen haben; die Familie mit zwei Kindern im Trailer Park, die von Lebensmittelmarken lebt; der Bub, der bei seinem unwirschen Großvater lebt und von der Nachbarsmutter mit ihren zwei kleinen Töchtern ein wenig unter die Fittiche genommen wird. Erst ab der Mitte des Buchs verflechten sich die Handlungen. Die Personen sind alle ganz gewöhnliche Menschen, dennoch lasen wir alle sieben aus der Leserunde gebannt über ihr Leben. Wir waren gerührt von gegenseitiger Fürsorge, erschraken über das Eindringen von Gewalt, freuten uns über späte Liebe.

Mir war vor allem die scheinbar völlige Abwesenheit einer Erzählinstanz aufgefallen. Es scheinen Einordnungen zu fehlen, Bewertungen, Interpretationen, gestern verglich eine Mitleserin den Stil mit dem eines Dokumentarfilms. Das erzeugt die Illusion, man sei bei Lesen selbst diejenige, die zuguckt.

Uns gelang nicht, die Zeit zu bestimmen, in der die Geschichte spielt. Wir bekommen weder zeitgeschichtlichen Hintergrund noch Hinweise über Technik, Speisen, Musik, Mode – es könnte alles von 60ern bis 90ern sein (danach müssten dann doch Internet oder Handys eine Rolle spielen). Diese Zeitlosigkeit verstärkt das Thema grundsätzlicher Menschlichkeit. Ein ganz besonderes Buch, Empfehlung.

Auf dem Heimweg war es immer noch schwül-neblig.

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Ein Kommentar im Stern (den gibt’s noch!) über das Ausbleiben von Nachwuchs unter dem Theaterpublikum:
“Liebe Theatermacher, zeigt uns doch bitte einfach mal ‘normale’ Stücke!”

via FrauNessy

Ich würde das zwar nicht so ausdrücken wie die Überschrift (und habe diesen Wunsch auch nicht), fand die Sicht aber sehr interessant. Dass Theater seit vielen Jahren kein Geschichtenerzählen mehr ist, sondern Aktionskunst, war mir schon klar. Doch dass das ganzen Bevölkerungsschichten die Motivation für einen Theaterbesuch nehmen könnte, hatte ich übersehen. Meine Mutter, Theatergängerin seit ihrer Jugend, nahm mich von Kindesbeinen an mit ins Theater – vermutlich hätte sie das nicht getan, wenn schon damals keine Geschichten erzählt worden wären, sondern nur Kunst auf der Bühne stattgefunden hätte. Und ich hätte keinen Zugang zum Theater bekommen.

die Kaltmamsell

Journal Montag, 21. Oktober 2019 – Wucherung und Testament

Dienstag, 22. Oktober 2019 um 6:32

Das Wetter fühlt sich immer seltsamer an. Seit Donnerstag habe ich Hitzeanfälle, also heiße Haut mit kalten Fingern. In meinem Alter ist ja der erste Gedanke: Wechseljahre, jetzt dann doch Symptome. Andererseits habe ich einen Erkältungsinfekt, der könnte am Temperaturregler spielen.

Draußen war es immer noch bacherlwarm, ich hatte mehrere Fenster in der Wohnung über Nacht offengelassen, ohne es zu merken – es war nicht kalt hereingekommen. Ohne Handschuhe in die Arbeit geradelt.

Gehen ging gestern plötzlich sehr gut – 10-Meter-weise war ich geradezu federnd unterwegs.

Mittags Geflügelsalat mit Mango und Walnüssen (made by Herrn Kaltmamsell aus Hiehnebriehe-Huhn) und ein Stück Bananenmarmorkuchen.

Sehr pünktlicher Feierabend, denn ich hatte eine Verabredung: Eine Dermatologin sollte mir eine harmlose Hautwucherung an störender Stelle wegschneiden. Was sie dann auch tat.

Daheim einen mittags gefassten Entschluss umgesetzt: Ich schrieb mal schnell mein Testament. In der Süddeutschen war ich über einen Artikel zu Todesfall bei kinderlosen Ehepaaren gestolpert (“Wenn die Schwiegereltern plötzlich miterben”) und hatte beschlossen, zumindest diese Belastung zu verhindern, sollte mich überraschend der 40-Tonner erwischen. Ein elaboriertes Testament ist sicher ratsam (allerdings ist mir ausgesprochen egal, was nach meinem Tod mit meinem Zeugs und meinem Geld passiert, beides übersichtlich), kriege ich vielleicht irgendwann auch noch hin, doch jetzt gibt es zumindest ein handgeschriebenes Testament mit ausgeschriebenen Namen, Ort und Unterschrift, das Herrn Kaltmamsell zu meinem Alleinerben macht.

In der Dämmerung nochmal Fledermäuse vorm Wohnzimmer gesehen.

Herr Kaltmamsell servierte zum Nachtmahl Chinakohl aus Ernteanteil gebraten mit Hackfleisch und Sezuanpfeffer, sehr gut.

Im Bett Weiterlesen an Atwoods The Testaments: Ich lese es gerne und finde es spannend (durchaus betonenswert, weil Atwood in ihrer langen Schriftstellerei auch ausgesprochenen Mist veröffentlicht hat), doch ist der Roman nicht in entferntester Sichtweite der literarischen und visionären Qualität des epochalen The Handmaid’s Tale; den Booker Prize dafür kann ich nicht nachvollziehen (nicht die erste Verwunderung über die Vergabe).

die Kaltmamsell

Journal Sonntag, 20. Oktober 2019 – Bananenmarmorkuchen und Auer Dult

Montag, 21. Oktober 2019 um 6:51

Ausgeschlafen. Erkältungssymptome weiterhin überschaubar, aber ich fühlte mich immer noch wacklig.

Zwei Maschinen Bettwäsche und Handtücher gewaschen.

Währenddessen tat ich etwas in den Augen des Herrn Kaltmamsell Unverwantwortliches: Ich buk einen Kuchen – ABER KEINEN, DER DAS GUTE PFUND FRISCH GEKNACKTER WALNÜSSE AUFBRAUCHTE. Denn Aufbrauchen ist des Herr Kaltmamsell Hauptkriterium bei der Kochplanung. Ich hatte sehr wohl bereits nach Rezepten für Engadiner Nusstorte recherchiert (haben Sie vielleicht einen erprobten Favoriten?), doch wie’s halt gern bei mir ist: Aktuelle Rezeptfunde sind viel attraktiver als die Backliste und die vielen Dutzend Bookmarks aus zehn Jahren. In diesem Fall hatte mich der Bananen-Marmor-Kuchen von Zucker, Zimt und Liebe gekriegt, ich hatte sogar vor ein paar Tagen eigens Bananen zum Reifwerdenlassen gekauft.

Wurde ein guter Alltagskuchen, ich mochte das Bananige zum klassischen Marmorkuchen.

Doch vor dem Anschneiden wollte ich zur Auer Dult. Das Wetter war wieder sonnig und warm, obwohl ich gestern gar nicht gut ging, wollte ich deshalb zu Fuß zur Mariahilfkirche, dann halt ganz langsam. Herr Kaltmamsell kam trotz Wochenendarbeitspflichten mit.

Die Jacke zog ich bald aus, es herrschten T-Shirt-Temperaturen.

Gärtnerplatz.

Sonnenbaderinnen auf der Corneliusbrücke.

Erst mal holten wir uns eine Bratwurst zum Frühstückmittagessen, guckten uns essend auf der Dult um.

Herr Kaltmamsell fand echten türkischen Honig, also frisch vom Block gehackt, außerdem eine Splitterbombe.

Ich wiederum freute mich über meine traditionelle Kirchweih-Straube.

Sie stellte sich allerdings als allerallerfetteste Straube meines Lebens heraus. Keine Straube ist leichte Küche, doch üblicherweise ist sie halt so fett wie ein Faschingskrapfen. Diesmal hörte ich Magen und Galle schon nach dem ersten Bissen leise fragen: “Ernsthaft?” Ich aß sie natürlich trotzdem.

Zurück nach Hause nahmen wir vernünftigerweise die Tram (neben der Hüfte schmerzte gestern auch mein Kreuz – hey, Abwechslung!). Dort las ich lange Margaret Atwood, The Testaments, bevor ich doch nochmal vernünftig war und die Winterkleidung aus dem Keller holte. Auch für kommende Woche sind nicht wirklich herbstliche Temperaturen vorhergesagt, aber so habe ich’s hinter mir.

Zum Nachtmahl gab’s Salat und Kuchen. Und vor dem Einschlafen brav wieder Entspannungsbad, danach ein wenig Dehnen.

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Margarete Stochowski hat wieder für die taz von der Frankfurter Buchmesse gebloggt. Zum Beispiel über inszenierte Lesefotos:
“Hardcover an Heißgetränk”.

Aber will schon die Wirklichkeit sehen?

Schutzumschlag wie immer beim Lesen weg, aufschlagbereit auf Jeans in Sessel an Fenster, als Einmerker das Preiswapperl zusammengefaltet.

die Kaltmamsell