Journal Donnerstag, 11. August 2022 – Corona Tag 5, Besserung
Freitag, 12. August 2022 um 8:11Eher unruhige Nacht, die damit begann, dass ich zum Einschlafen die Fenster schließen musste: Im Park vor meinem Schlafzimmer brüllten Männer – nicht aggressiv, sondern ausdauerndes “HEEEEEEY! HEEEEY! HEY! HEY!” oder andere Wörter, mal einzeln, mal zu mehreren, möglicherweise war die Absicht Gesang.
Bei einem meiner nächtlichen Aufwachen öffnete ich das Fenster in schöne Kühle, grüßte den von wolkenlosem Himmel scheinenden Fastvollmond.
Bei leichtem Schlaf machte mein Hirn Pläne für den Donnerstag. Neben Genesung (Stimme kehrte langsam zurück, ich konnte Herrn Kaltmamsell vernehmbar einen guten Morgen wünschen) waren diese: Zimmerpflanze umtopfen, Balkon von resultierender Sauerei befreien (Letzteres erfahrungsgemäß dreimal so aufwändig wie Ersteres, deshalb drücke ich mich davor bereits mehrere Monate), Fußpflege vor Duschen, Bügeln.
Das Umtopfen brachte ich gleich nach Bloggen und Morgenkaffee hinter mich, ein Topf mit Grünlilie bestand eigentlich nur noch aus dickem Wurzelwerk. Jetzt nicht mehr. Die dreckigen Finger weichte ich nach Aufräumen und Putzen gleich zusammen mit den Füßen ein, vielleicht würde ich den Dreck unter den Fingernägeln diesmal nicht erst nach Tagen wegbekommen.
Mit weichen Füßen und bunten Zehennägeln setzte ich mich auf den Balkon. Unerwartete Corona-Folge: Mir fiel mein Strickzeug wieder ein, das vor mindestens sechs Jahren mit einem angefangenen Sommerpulli aus dunkelblauem Bändchengarn liegengeblieben war.
Ich war gleich wieder drin in der Routine. Eine Befürchtung trat aber ein: Sehr bald Schulterschmerzen links, ich bekomme einfach keine entspannte Strickhaltung hin, ziehe die Arbeit immer wieder höher, obwohl meine Brille beste Sicht bei entspannten Schultern weiter unten ermöglicht. Gibt’s im Yoga ein Pendant zum runners’ stretch – knitters’ stretch? Weitere Folge: Ich recherchierte nach einer Strickjacke, die ich im Anschluss an das aktuelle Teil angehen könnte. Das machte Spaß, aber ich rechne damit, dass vor Bestellen von Wolle die realistische Perspektive siegt: Offensichtlich habe ich ohne Erkrankung und Ausgehverbot ja keine Lust auf Stricken.
Um zwei frühstückte ich (Quark mit Joghurt und Pflaumen) – und mir wurde bewusst, dass ich den ganzen Tag weder Schmerzmittel noch Nasenspray gebraucht hatte! Eindeutige Besserung.
Den Nachmittag verbrachte ich mit Zeitunglesen und Stricken auf dem Balkon, ärgerte mich, als ich eine E-Mail von DHL bekam: Ein erwartetes Päckchen war bei einer Nachbarin abgegeben worden – obwohl bei uns zwei Personen durchgehend daheim waren.
Auch den Plan Bügeln setzte ich um. Dabei hörte ich Podcasts. Zunächst eine ganz alte Folge von Alexandra Tobors In trockenen Büchern; in dieser Serie hat sie sich zum Ziel gesetzt, besonders komplexe Sachbücher verständlich und aus persönlichem Blickwinkel zusammenzufassen. Ich hörte die Folge “Männer” von 2014: Alexandra spricht über das Jahrbuch 2014: Männer des deutschen Polen-Instituts Darmstadt. Ihre Zusammenfassung ist luzide und klug, sie weist auf einige verbreitete Denkfehler in der Geschlechterdiskussion hin. Gleichzeitig machte mich Alexandras Optimismus traurig: Seither ist so viel Schlimmes in Polens gesellschaftlicher und politischer Entwicklung passiert.
Der Bügelberg war hoch genug für einen weiteren Podcast, ich hörte die aktuelle Folge von Raúl Krauthausens Im Aufzug: “Im Aufzug mit Hazel Brugger”. Und erfuhr Interessantes, Lustiges, Empörendes aus dem derzeitigen Leben von beiden.
Ich fühlte mich fit genug für eine Runde Yoga und dehnte mich mit derselben Folge Adriene wie am Vortag eine gute halbe Stunde durch.
Bei Herrn Kaltmamsell hatte ich Deutsches Abendbrot bestellt – aber dabei vergessen, dass der Spaß überschaubar ist, wenn alle Bestandteile in der Küche stehen statt auf dem gemeinsamen Esstisch und wir beide uns getrennt daran bedienen, Herr Kaltmamsell sich mit seinem Teller in sein Zimmer zurückzieht und ich mich mit meinem an den einsamen Esstisch.
Dennoch aß ich mit Appetit Salat aus Ernteanteil mit Walnussöl-Dressing, selbst gebackenes Bauernbrot, frische Salzgürkchen (diesmal habe ich das Rezept aufgeschrieben), Tomaten aus Ernteanteil, pickled Zucchini (vor zwei Wochen eingelegt von Herrn Kaltmamsell), Käse, dreierlei getrocknete Blutwürste mit Speck. Nachtisch Schokolade, alles insgesamt ein bisschen zu viel.
Im Bett las ich neue Lektüre: Die Mansarde von Marlen Haushofer. Zum ersten Mal hatte ich mir als eBook einen Roman gekauft, den ich bereits auf Papier im Regal stehen habe: Um im Bett auf Papier zu lesen, muss ich alle Lichter einschalten und zum Ausschalten nochmal aufstehen. Der eBook-Reader bringt sein eigenes Licht mit. An die Erstlektüre vor über 30 Jahren (laut handschriftlichem Exlibris) habe ich keine Erinnerung; diesmal war ich umgehend berührt von der scheinbar schlichten Sprache und von der Hauptfigur, gelernter Grafikerin. In ihrem Arbeitszimer scheitert sie seit Jahren an ihrem aktuellen Zeichenprojekt.
In den letzten Jahren habe ich mich fast ausschließlich für Vögel interessiert. Ich habe ein bestimmtes Ziel vor Augen, kann mir aber nicht vorstellen, was ich tun sollte, falls ich es jemals erreichen würde. Vielleicht ist das einer der Gründe, warum ich nicht recht weiterkomme. Es ist mein Ziel, einen Vogel zu zeichnen, der nicht der einzige Vogel auf der Welt ist. Ich meine damit, man müßte dies auf den ersten Blick erkennen.
Erst als diese Ich-Stimme im Folgenden ihre gescheiterten Versuche detaillierter beschreibt, wurde mir das Herzzerreißende ihres Vorhabens klar.