Journal Donnerstag, 27. August 2020 – Noch eine Polin in Pontinia

Freitag, 28. August 2020 um 6:21

Diesmal verhalf mir Novalgin zu einer guten Nacht – so schön!

Morgens wagte ich nochmal gymnastische Kräftigung, LWS fordert weiterhin Vorsicht ein, ich beließ es im Bankstütz bei Halten.

Emsige Arbeit, Mittags Pfirsiche, Käse, Brot, nachmittags eine Hand voll getrocknete Aprikosen (Eisen!). Nachmittags mehr Arbeit, es wurde spät.

Sicher bin ich nicht die erste, die sich das fragt, aber: Hat schon ein Institut berechnet, wie viel die gesenkte Mehrwertsteuer Stunden/Geld in IT, Buchhaltung, Verwaltung etc. kostet im Vergleich zum erhofften geldwerten Nutzen?

Denn bei aller Gegenwehr komme auch ich nicht aus dem Effizienzdenken raus, aus diesem kapitalistischen (auch wenn mir Fragmente letzthin in einem Gespräch über Geld mehrfach bescheinigt hat, ich sei “für den Kapitalismus verloren”, worauf ich ungemein stolz bin). Wahrscheinlich ist das Ziel der Maßnahme Mehrwertsteuersenkung gar nicht geldwerter Nutzen, sondern wieder irgendwas Menschliches, das ich eh nicht kapiere.

Der Wind hatte sich völlig gelegt, das Wetter war gestern sonnig und mild, ein idealer Tag zum Draußensein ohne Hitze, ein idealer Wandertag. (Es ist jetzt über ein Jahr her, dass ich zum letzten Mal Wandern konnte.)

Auf dem Heimweg stoppte ich beim Aldi in der Hoffnung, billige Einweg-Masken zu bekommen. Gab es nicht, dafür schlug ich bei Billig-Süßigkeiten zu.

Daheim erst mal verhasste Mani- und Pediküre, es war dringend nötig.

Zum Nachtmahl gab es Salat aus Ernteanteil: Blattsalat mit Tomaten und Eiern, Joghurtdressing (aromatisiert mit einem Schuss Sesamöl). Nachtisch waren viele Billigsüßigkeiten.

Im Bett las ich ich Granta 152 aus, Still Life. Es gefiel mir bis zum Ende gut. Verdutzt und berührt war ich von einer Fotostrecke: “Labirinto” hat die polnische Fotografin Wiktoria Wojciechowska ihre Aufnahmen in den italienischen Orten Latina, Pontinia, Sabaudia und Pomezia genannt, also in der Gegend, die Mussolini den pontinischen Sümpfen in seinem Projekt “Littoria” abrang. Lisa Halliday hat eine Einführung dazu geschrieben. Meine Reaktion rührt daher, dass hier das Italien meiner Kindheits- und Teenagerurlaube liegt: Die Schwester meiner polnischen Mutter hatte sehr jung hierher geheiratet (hier sieht man sie und ihren italienischen Mann rechts), wir verbrachten ein paar Mal Ferien hier. Und so waren meine Bilder von Italien lang höchst unromantisch, weil geprägt von langweiligen Ebenen, von Zweckbauten und Fabriken. Wojciechowskas Fotos aber weisen mich darauf hin, dass die Gebäude, die mir damals seelenlos erschienen, funktionale Architektur der 1930er und 1940er sind – die ich heute mag.

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Lustig.

die Kaltmamsell

Journal Mittwoch, 26. August 2020 – Goldenes Licht

Donnerstag, 27. August 2020 um 6:42

Nacht mit einer zweistündigen Schlafpause wegen Schmerzen und Wachheit. Ohnehin hatte ich den Wecker auf früh gestellt, weil ich ein halbes Stündchen crosstrainern wollte. Das funktionierte gut, ich strampelte leicht.

Die Luft draußen war sehr mild und stürmisch, dazu schien die meiste Zeit die Sonne. Der Goldton des Lichts verriet, dass der Sommer sich dem Ende zuneigt, die Schatten werden länger.

Auf der Theresienwiese stieg ich für ein Foto ab – schon aus Chronistinnenpflicht, weil dieses Jahr zum ersten Mal um die Zeit kein Oktoberfest darauf aufgebaut wird.

An der Verzweiflung, die diese Begrünungsversuche ausstrahlen, erkennt man, WIE groß die Theresienwiese ist. (Ungefähr so wirkt “zarter” Schmuck an mir.)

Bereits frühmorgens besetzt: Die Corona-Teststation.

Viele Stunden in einem Online-Workshop verbracht, ich übte Klappehalten. Dadurch kam ich erst spät zu einer Mittagspause (Wurst und Salzgurke vom Vorabend, eine Scheibe Brot) – und ich brauchte eine Weile, bis ich mich erholt hatte und beherzt weiterarbeiten konnte. Jetzt hatte ich alles um einen besonders schlimmen Brocken erledigt, ich werde ihn am Donnerstag anpacken müssen. Nachmittagssnack war eine große Nektarine.

Nach Feierabend war ich mit Herrn Kaltmamsell im Westpark verabredet, im Gans am Wasser. Der Wind war etwas schwächer geworden. Der Gastgarten war gut besucht in fast allen Altersklassen, aber entspannt, unter einem Zelt machte sich gerade ein kleines Musik-Ensemble bereit, das aber erst mal nur anspielte.

Zu einem frischen Apfel-Karotte-Orangen-Saft aß ich einen Vorspeisenteller mit Hummus, Käsecreme, Seitan, gebratener Paprika, geschmorten Zwiebeln, Salat und Pita. Schmeckte alles sehr gut, war aber zu viel: Ich musste mir helfen lassen.

In diesem wundervollen Licht wollte ich noch ein wenig spazieren (Blick zurück zum Gans am Wasser), doch der Hüftschmerz brachte mich schnell zum Umkehren. Selbst Radfahren war peinvoll.

Zurück zu Hause gab es als Dessert Eis aus der benachbarten Eisdiele.

die Kaltmamsell

Journal Dienstag, 25. August 2020 – Kaufhausliebe

Mittwoch, 26. August 2020 um 6:09

Nach guter Nacht (nur zwei Unterbrechungen) erfrischt aufgewacht.
Ich wagte nach fast zwei Wochen wieder Bankstütz und Seitstütz – nicht nur ging es (weit entfernt von der Dauer prä-Hexenschuss), danach fühlte ich mich auch besser.

Sonniger, warmer Tag mit hin und wieder Wolken. Arbeit in der Arbeit reichlich, aber gut machbar. Mittags rote Paprika und ein Pfirsich, ein Stück Blauschimmelkäse. Nachmittagssnack eine wundervolle, riesige Nektarine.

Nach Feierabend fuhr ich erst mal die Münzen unserer Urlaubskasse zur Bank (Pandemie-bedingte Kartenzahlung hatte dazu geführt, dass das Füllen des Topfs doppelt so lange wie sonst gedauert hatte). Dann radelte ich weiter zum Hertie am Hauptbahnhof. Große Kaufhausliebe: Nicht nur bekam ich im Erdgeschoß Nicki-Tücherl für meinen Sport-Schweiß, sondern auch in der Wäscheabteilung zwei akzeptable Nachthemden fürs Krankenhaus.

Deutsches Abendbrot: Frische Salzgurken waren die Grundlage, dazu hatte Herr Kaltmamsell Schinken besorgt, getrocknete Blutwurst, Salami, Käse, Eier hartgekocht, in der Gefriere war noch ein Stück selbstgebackenes Brot gewesen. Nachtisch Schokolade.

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Wer sich ein Bild von dem G’schwerl machen möchte, das in immer größerer Zahl den Park besetzt, neben dem ich wohne (und immer häufiger in unseren Hinterhof dringt):
“Ein einziger Tritt, der ein Leben verändert”.

Möglicherweise tragen wir Anwohnenden die Last des Polizei-Erfolgs, dass die “Stammsteher” am Hauptbahnhof durch die Durchsetzung des Alkoholverbot dort vertrieben wurden. Doch sie haben sich nicht etwa wundersam in Luft aufgelöst – sondern sind ein Häuserl weiter gezogen. In den Nußbaumpark. Nachdem in den vergangenen zehn Jahren bereits die Wohnungsflüchtlinge (denn nein: das sind keine Obdachlosen), die vom Bordeaux- und Orleonsplatz verjagt wurden, hierher kamen. Die Gruppen, die sich ab morgens im und am Park sammeln, werden immer größer.

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“Helen Macdonald: The Things I Tell Myself When I’m Writing About Nature”.

Am besten gefällt mir:

3.
Don’t make the space pre-industrial.

This is such a classic genre move it’s almost automatic, and it works in the same way wildlife art hardly ever shows evidence that humans have ever existed. If there are burned-out cars and shotgun-addled road signs, or a creek full of trash and a high-security perimeter fence alongside the singing nightingale, don’t leave them out. That’s how this world is. Honor it.

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Die aktuelle Ausgabe Granta (152, Still Life) gefällt mir sehr gut. Wie das Thema bereits andeutet, geht es in einigen der Texte um Aspekte der Corona-Ausgangsbeschränkungen.

Ein Beitrag kommt von Leanne Shapton, die ich 2013 mit ihrem großartigen Buch Swimming Studies kennengelernt hatte. Schon damals hatte sie Erzählung und Malerei verbunden. In Granta beschreibt und malt sie Dinge in ihrer Wohnung, mit denen sie sich mangels Bewegungsfreiheit beschäftigt. Wieder bin ich gefangen.
“Still Life”.

die Kaltmamsell

Journal Montag, 24. August 2020 – Ereignisloser erster Arbeitstag

Dienstag, 25. August 2020 um 6:36

Nur eine halbe Stunde vor Wecker aufgewacht, in milder Luft in die Arbeit geradelt.

Beherztes Anpacken im Büro, zwischen Pflügen durch Post und Aufgaben gleich mal eine Schulung, Kennenlernen neuer Menschen.

Mittags hatte sich die Panik bereits so weit gelegt, dass ich richtig Pause machte, mit einem Stück Brot, Feigen, Pfirsichen, Nektarinen und Zeitungslektüre. Jetzt war auch ins Panikzentrum gesickert, dass ich all die anstehenden Brocken ja nicht an diesem Tag abarbeiten musste.

Am Nachmittag war es richtig sonnig geworden, weiterhin ohne Hitze. Blöderweise knüppelte mich heftiges Kopfweh nieder, ich konnte kaum geradeaus schauen. Auf dem Heimweg radelte ich beim Vollcorner vorbei, unter anderem mussten festes Haarshampoo und Handseife nachgekauft werden, dann nahm ich auch gleich noch Brotzeit für die nächsten Tage mit.

Herr Kaltmamsell servierte zum Nachtmahl einen italienischen Ziegenkäsefladen mit Olivenöl-Mürbteig, köstlich. Zum Dessert gab’s abgefahrenes Eis. Früh ins Bett zum Lesen.

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Jan Kutter liest seit einem Jahr hauptsächlich E-Books und hat seine Erkenntnisse fürs Techniktagebuch festgehalten – die meinen ähneln:
“Lesen in der Hartschale”.

Das Lesen eines Buches auf einem Reader ist von vollendeter Nüchternheit. Hier ist der Text ganz bei sich. Der Lektüre muss das nicht abträglich sein. Noch das selbstverliebteste Werk der Fabulistik ruft dir aus der Plastikhartschale genervt entgegen: «Hey, ich bin auch bloß eine verdammte Datei!» Und damit wir das nie vergessen, sind die Gestaltung und Programmierung von E-Books oft so entsetzlich schlampig und fehlerhaft. «Der Mischer hat wohl wieder Boxhandschuhe an!», hieß es früher, wenn der Sound auf Konzerten mies war. Der Mischer baut heute EPUBs beim Verlag.

die Kaltmamsell

Journal Sonntag, 23. August 2020 – Grillen bei Eltern

Montag, 24. August 2020 um 6:25

Nachtschlaf mit einer Unterbrechung, weil die Schmerzen dann doch zu stark waren. 600 mg Ibu halfen.

Der Morgen war zu meiner Überraschung trotz Wolken warm genug für Balkonkaffee. Und ich war früh genug aufgewacht, dass vor der Abfahrt zu meinen Eltern noch Zeit für eine Runde auf dem Crosstrainer blieb.

Vom Zug aus Holledau-Check: Gut steht er da, der Hopfen.

Bei den Eltern freudiges Wiedersehen und ausführliches Grillen ohne Anfassen und mit Draußensitzen: Auberginen, Zucchini, Lammkoteletts, Salsicce, Kalbsfilet, geröstetes Brot, Tomaten, sensationelle selbst gemachte Tomaten-Grillsoße – es war köstlich. Ich bedauerte allerdings sehr, dass ich keinen Wein dazu trinken konnte (genauer: wollte, denn ich möchte eine neue Medikation möglichst schnell möglichst sauber einstellen, damit sie zum OP-Termin funktioniert). Erzählungen aus Mutters Kindheit, die ich noch nie gehört hatte, Gang durch den schönen Garten.

Zum späten Dessert gab es wundervoll aromatische Honigmelone.

Ereignislose Rückfahrt (ich habe ein kleines Mädchen über den Maskenrand angelächelt, Ereignis genug) (sie war mir wirklich sympathisch, strahlte genau die Art freundlicher Gewitztheit aus, auf die ich Alters-übergreifend anspringe), Warten auf die Vor-Arbeits-Panik nach Urlaub. Aus dem Freibandschwimmen war dann auch im Urlaub nichts geworden: Die Slots im Schyrenbad waren immer bereits ausgebucht, anscheinend gleich bei Buchbarkeitsbeginn.

Zum Nachtmahl hatte ich bereits wieder genug Hunger für eine Portion Pasta. Abendunterhaltung:
“Django Asül live! – Höhepunkte aus ‘Letzte Patrone'”. (Das war sein vorletztes Programm bis 2019.)

Ich werde die griechische Mythologie nie mehr anders erzählen. Außerdem werde ich das Phänomen künftig nur noch “Golobalosierung” aussprechen.

Früh ins Bett, um genug Zeit zu haben, mich verrückt zu machen.

die Kaltmamsell

Journal Samstag, 22. August 2020 – Bett-Investitionen

Sonntag, 23. August 2020 um 8:43

Stand des Hexenschusses: Ich kann wieder die Bauchmuskeln und den Beckenboden anspannen, ohne dass Lendenwirbelsäule und Iliosakralgelenk aufbrüllen, hurra!

Morgens war es bewölkt, aber warm genug für Kaffee auf dem Balkon.

Ich freute mich nach fast einer Woche Pause über eine Runde Crosstrainer-Strampeln mit Filmmusik auf den Ohren.

Familientelefonate: Auf allen Seiten Medizinisches, zumindest in meiner Generation waren wir uns einig, dass der Körper um den 50. Geburtstag sehr deutlich signalisiert, dass evolutionär nach 45 Jahren das Mindesthaltbarkeitsdatum abgelaufen ist. You’re on your own now, mate.

Einkaufsrunde unter sich verdunkelndem Himmel. Beim Betten Rid bestellte ich nach ausführlicher Beratung und Probeliegen neue Lattenroste und eine neue Matratze für mein Bett – erstere, weil seit Jahren Latten aus den Halterungen brechen, Matratze, weil sie nach ebenfalls 22 Jahren erneuert werden sollte (ohne dass ich mich als Marketing-Opfer fühle). Kostet alles zusammen im Gegensatz zu den Vorläufermodellen von Ikea fast ein Monatsgehalt, ist aber auf die nächsten 22 Jahre runtergerechnet in meinen Augen vertretbar. UND wird geliefert, die Vorläufermodelle werden mitgenommen. (Die neue Taschenfederkernmatratze lag sich so gut Probe, dass sich die alte Latexmatratze danach geradezu gammlig anfühlte.)

Auch auf meiner Einkaufsliste: Nicki-Tücherl aka Bandanas, die ich mir beim Sport um den Kopf binde, damit mir Vielschwitzerin der Schweiß nicht ab Minute 10 in die Augen rinnt. Mittlerweile sind aus meinem Altbestand (so alt, dass ich bei keinem wusste, woher ich es hatte) alle bis auf eines zerrissen. Da ich diese Baumwolltücher aus der Bergsteiger-Welt kannte, lief ich erst mal ins Sportkaufhaus. Zu meiner Verdutzung hieß es, man führe “nur so Schläuche zum Überziehen”, vielleicht ist mein Bergsteigerbild schlicht in den 1960ern hängengeblieben. Ansonsten kenne ich Bandanas an Musikern, aber auch die sind ein paar Jahrzehnte her, also ging ich nicht als nächstes in einen Musikinstrumenteladen, sondern fragte Twitter. Die Lösung sind wohl Kaufhäuser! (Wie bin ich als begeisterte Kaufhaus-Kundin bloß nicht selbst draufgekommen?)

Obst und Brot holte ich beim Eataly (sehr voll), da begann es bereits gischtig zu nieseln. Zum Glück regnete es erst richtig los, als ich heimgehumpelt war, das blieb dann aber die nächsten Stunden so, inklusive deutlicher Abkühlung.

Zum Frühstück Tomaten-Gurken-Salat aus Ernteanteil (so gut!) mit italienischem Weizensauerteigbrot, ein Pfirsich. Ich legte mich eine Runde flach, um die Hüftschmerzen zu mildern.

Nachmittags las ich, unter anderem die Wochenend-SZ. Als Snack ein Stück Käse mit Brot. Dann holte ich doch den Arbeitsrechner hervor und schaute die E-Mails der drei Urlaubswochen durch, in der Hoffnung, dass der erste Arbeitstag so ein weniger großer Horror wird. (Am Sonntag bin ich unterwegs.) Klappte nur so mittel, weil die beiden akuten großen Brocken, von denen ich wusste, halt wirklich akut, groß und brockig sein werden.

Nachtmahl war von Herrn Kaltmamsell zubereiteter Gazpacho.

Danach teilten wir uns ein gebratenes Entrecôte, zum Nachtisch frische Feigen und Eis. Kein Alkohol, weil Medikamente.

Vermisst irgendwer im Norden zwei Mauersegler? Gestern flatterten sie zu unserer Überraschung am Abendhimmel, gut drei Wochen nach der letzten Sichtung.

§

Die Reihe “Reden wir über Geld” der SZ-Wirtschaftsredaktion mag ich besonders gern. In ganzseitigen Interviews mit den unterschiedlichsten Menschen (und in sonst für den Wirtschaftsteil ungewohnter Diversität) beleuchtet sie das Thema Geld aus immer wieder neuen Blickwinkeln. Am Freitag war der Gesprächspartner der Soziologe Aladin El-Mafaalani, geboren und aufgewachsen im Ruhrgebiet, heute Professor für Erziehungswissenschaft an der Universität Osnabrück (€).
“‘Verzichten kann nur, wer hat'”.

Zum einen erläutert er, wie das Aufwachsen in Armut die künftige Einstellung zu materiellem Besitz prägt.

Ich bin in Waltrop aufgewachsen, ein Ort, den man ohne Auto schlecht verlassen kann, und da gab es zwei Gruppen, die Hip-Hopper, die Graffiti cool fanden, und die Punks, die Skateboard gefahren sind. Ich mochte Graffiti und Skateboard – deshalb hatte ich mit beiden viel zu tun. Interessant ist im Nachhinein der Umgang dieser beiden Freundeskreise mit Geld.

(…)

In der Hip-Hop-Kultur sind Statussymbole wichtig. Die Punkkultur ist das genaue Gegenteil davon. Meine Eltern stammen aus Syrien, mein Vater ist Arzt, meine Mutter hat Psychologie studiert, ich bin sehr privilegiert aufgewachsen. Ich hatte zu beiden Gruppen eine gewisse Nähe, habe aber auch zu beiden Differenzen gespürt. Bei den Punks war ich lange Zeit der einzige, der nicht blond war, und in der Hip-Hop-Gruppe war ich der einzige, der aus einer wohlhabenden Familie kam.

(…)

Wer wenig Geld und Anerkennung hat, will reich und berühmt werden und orientiert sich an Statussymbolen. Und wer Geld hat, hat einen selbstverständlichen Umgang damit und kann sich die Haltung leisten, Statussymbole abzulehnen.

(…)

Warum gibt es diese Milieugrenzen schon bei Jugendlichen?

Einer der Hauptfaktoren ist Geld. Das trennt und prägt. Wenn man in einer Familie mit sehr viel Geld aufwächst, dann ist der gesamte Alltag darauf ausgerichtet, mit diesem Überfluss umzugehen. Man muss also selektieren. Hat man kaum Geld, muss man den Mangel managen. Schon Kinder entwickeln eine Strategie: Die ärmeren müssen jeden Tag kurzfristige Knappheitsprobleme lösen. Sie fragen: Was bringt das genau, ist das wirklich notwendig? Sie denken funktional, denken kurzfristig, gehen kein Risiko ein und vermeiden Unsicherheiten. Die reicheren Kinder hingegen probieren viel mehr aus, sie gehen Risiken ein, weil sie auch viel weicher fallen. Sie orientieren sich langfristig, entwickeln eine Abstraktionsfähigkeit, denken in Alternativen. Dass die alternative Szene relativ privilegiert ist, kann man alleine an diesem Begriff festmachen. Ob Geld da war oder nicht, wird Teil der Persönlichkeit.

Auch hier erkenne ich wieder einmal, dass ich die zweite Generation des sozialen Aufstiegs bin: Mein spanischer Vater wuchs noch in echter Armut auf, da ging es darum, genug Essen für die Familie zu beschaffen (deshalb auch die Verschickung der Kinder im Sommer zu den Verwandten aufs Land, wo zwar die Arbeit hart war, sie aber ein paar Monate durchgefüttert wurden). Selbst aber hatten meine Eltern die Chance, sich durch enormen Fleiß und kluges (bis halb-legales) Wirtschaften ein Eigenheim zu erarbeiten.

Mindestens so interessant fand ich El-Mafaalanis Gedanken zur Auswirkung von Bildung:

Bildung ist kein Allheilmittel gegen soziale Probleme, sondern eine Grundlage, auf der man nach Lösungen suchen kann und streitet. Klimawandel hat zum Beispiel viel mit Gebildeten zu tun: je gebildeter, desto mehr Einkommen, desto tiefer der ökologische Fußabdruck.

(…)

Wenn Menschen von Bildung sprechen, missverstehen sie sich oft. Dabei gibt es mindestens zwei Begriffsfamilien. Einmal ist Bildung das, was gesellschaftlich verwertbar ist, man spricht oft von Kompetenzen oder von Humankapital. Dann gibt es noch die Persönlichkeitsbildung, also das humboldtsche oder humanistische Bildungsideal: Von Kindheit an bildet man sich ein Selbst- und ein Weltbild, Bildung ist hier Selbstzweck. Wer Bildung in diesem Sinne meint, der denkt, dass ein gebildeter Mensch doch vernünftig ist, das Klima retten muss und nicht rechtsradikal sein darf. Recht romantisch. Die Idee der Persönlichkeitsbildung tut so, als gäbe es keine Gesellschaft, sie ist blind für soziale Ungleichheit. Denn die Motivation von armen Kindern ist relativ gering, Bildung als Selbstzweck zu verstehen. Das wäre ja das Gegenteil von anwendungsorientiert.

Er beleuchtet auch die Fallen von Unterrichtsmodellen, die auf den ersten Blick fortschrittlich wirken:

Offene Bildungsansätze sollen Schülern das selbstorganisierte Lösen von komplexen Problemen beibringen. Ist das Bildung, wie Sie sich das vorstellen?

Ich habe meine Haltung zu solchen Projekten grundlegend geändert. Die Forschung zeigt, dass solche Unterrichtsansätze Ungleichheit derzeit eher verstärken. Das Potenzial ist zwar enorm, aber die Umsetzung ist offenbar nicht gut: Leute aus einem höheren Milieu – Lehrkräfte – überlegen sich Probleme, die Kinder aus einer völlig anderen Lebenswelt als anregendes Problem erkennen sollen. Lehrkräfte finden Probleme sehr spannend, für die man Risiken eingehen und langfristig denken muss. Ein benachteiligtes Kind hat diese Denkweise nicht gelernt. Ärmere Kinder lernen oft keine Selbstorganisation, weil sie in einem Umfeld aufwachsen, das sie diszipliniert. Sie sind im Alltag fremdbestimmt. Der Umgang mit Freiheit muss systematisch gefördert und gelernt werden. Derzeit wird das zu stark vorausgesetzt.

(Erwähnte ich, dass ich als nächstes Studienfach unbedingt Soziologie wählen würde?)

die Kaltmamsell

Journal Freitag, 21. August 2020 – Neue Körperlichkeiten, Ausflug nach Dießen am Ammersee

Samstag, 22. August 2020 um 8:55

Ächz. Diese Zeit im Jahr ist eh nie einfach, dann auch noch diese gesundheitliche Durchschüttelung. Vielleicht soll mich das eine jeweils vom anderen ablenken?

Ganz gut geschlafen (weiterer Beweis, dass der Schlaf bis fünf am Vortag Migräne war), früher Wecker, damit ich zu Praxisöffnung die letzte anstehende Blutabnahme erledigen konnte. Angekündigt war der letzte Hochsommertag, der Morgen richtete sich danach. Weiterhin die Morgengymnastik bleiben lassen – auch wenn es mich sehr drängt, sollte ich den Hexenschuss wahrscheinlich deutlicher abklingen lassen (sehen Sie! ich kann auch supervernünftig!).

In der Arztpraxis also Blut abnehmen lassen, danach verschriebene Medikamente geholt: Ein Blutwert der Analyse vom Dienstag hatte die behandelnde Ärztin am Vortag telefonisch Alarm schlagen lassen (Herr Kaltmamsell ging ran: Frau Doktor hätte mich am liebsten sofort an eine Infusion gehängt, aber ich schlief ja gerade meine Migräne aus), er stellte sich als Eisenmangel heraus. Von mir aus auch das noch, also erst mal Tabletten, künftig gerne mehr Linsen und getrocknete Aprikosen (denn den klassischen Hauptlieferanten rotes Fleisch wollen wir ja weiterhin für rare Festmähler aufheben).

Trübsal bei der Aussicht auf Arbeitsbeginn am Montag. Lichtblick: Beim Heimkommen gab es nach drei Tagen wieder Milchkaffee! (Auf den Kastanien vorm Balkon lustiges Eichkatzerljagen zwischen einem jungen dunkelbrauen und einem jungen orangen).

Nachdem die Urlaubswoche reichlich verkackt war, wünschte ich mir dringend noch einen Ausflug. Auf meiner Mal-im-Urlaub-machen-Liste standen verschiedene Ziele, zusammen mit Herrn Kaltmamsell überlegte ich, bei welchem ich mich am meisten ärgern würde, den Ausflug nicht gemacht zu haben (und wir sind uns alle einig, dass wir wirklich, wirklich vermeiden wollen, dass ich mich ärgern muss): Dießen am Ammersee wurde es. Zumal ich herausfand, dass die Schiffe auf dem Ammersee jetzt wieder alle Zwischenhalte anfahren.

S-Bahn nach Herrsching, im gleichnamigen Raddampfer kauften wir Tickets für die “große Runde”, auf der man auch zwischenaussteigen darf. Das taten wir gleich am ersten Halt in Dießen.

Möwen in der Sonne, Enten im Schatten.

Die Marktgemeinde ist sehr auf Fremdenverkehr ausgerichtet, aber auf die angenehme, herzliche Art: Viel Gastronomie (Herr Kaltmamsell holte sich eine Fischbratwurst in Semmel), Schnickeldi- und Fischereiläden, liebevoll geschmückte Winkel, überall ungemein freundliche Menschen. (Der Bemerkung eines anderen Besuchers entnahm ich, dass es normalerweise deutlich voller Menschen ist.) Wir fremdenverkehrten also, sahen uns in den Gassen und Wegen um, besichtigten die Hauptattraktion: das Marienmünster.

Zum Betrachten der superbarocken Deckengemälde steht ein rollbarer Spiegeltisch bereit.

Wir spazierten auch ein wenig in die Ufernatur zum Aussichtsturm.

Ausruhen auf einem schattigen Bankerl mit Blick auf den See, es war heiß geworden. Trotz Appetitlosigkeit sah ich gegen drei ein, dass ich etwas essen sollte. Wir setzten uns in ein Eiskaffee, ich aß einen Eisbecher mit Früchten.

Dann traten wir den Rest unserer “großen Runde” auf dem Ammersee an: Drei Stunden lang ließen wir uns von der Herrsching nach Herrsching fahren, dann nach Riederau, Utting, Breitbrunn, Stegen, Buch, Schondorf, Utting, Holzhausen und wieder zurück nach Herrsching.

An Deck hatten wir uns ins Freie unter ein Dach gesetzt, wurden aber eine Stunde lang doch von der Sonne eingeholt. Das Hygienekonzept hatte sich seit unserem letzten Besuch im Juni geändert: Jetzt galt durchgehend Maskenpflicht überall auf dem Schiff, dafür waren keine Plätze gesperrt, es wurden auch keine Kontaktdaten aufgenommen. Zum Glück war wenig genug los, dass man auf den Plätzen Abstand halten konnte, das Einhalten der Maskenpflicht wurde immer wieder mit Durchsagen angemahnt.

Wir fuhren vorbei an Ruderbooten, Segelbooten (mit hängenden Segeln, es war windstill), Stehpadlern, Schlauchbooten, Tretbooten, Motorbooten, Badegästen an Stränden, Strandbädern (das beeindruckendste in Utting), Möven, Enten, Blesshühnern, vielen Schwalben, beim Anlegen in Stegen sahen wir sogar Flussseeschwalben. Eine Weile hatten wir Gesellschaft von einer kleinen Hochzeitsgruppe, später von einer kleinen Geburtstagsgesellschaft in Dirndln. Das Sonnenlicht wurde immer goldener.

Strandbad Utting (allein schon der hölzerne Sprungturm!).

Kurz nach sieben kamen wir zurück nach Herrsching. Nach dem vielen Schifferlfahr’n wurde uns die S-Bahn-Fahrt zurück nach München recht lang. Ich hatte zwar auf dem Raddampfer eine Hand voll Nüsse gegessen, aber jetzt bekam ich Hunger.

Daheim, es war bereits dunkel geworden, gab es den zweiten großen Salatkopf aus Ernteanteil, außerdem die Ernteanteil-Aubergine in Scheiben gebraten, als Nachtisch das Aprikosenkompott vom Vortag.

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Der englische Lyriker Jay Hulme erzählt in einem Twitter-Faden, wie er eine bezaubernde mittelalterliche Kirche entdeckte, mitten im absoluten englischen Nirgendwo.

die Kaltmamsell